Rolf Bossart: Rezension zu »Freiheit und Trieb«

Rolf Bossart

Rezension zu Freiheit und Trieb

 

Glücklich die Wissenschaft, deren Entdeckungen auch eine kritische Distanzierung erlauben, ohne das Ziel und den Grund ihres Fragens verlassen oder verraten zu müssen. Zu diesen Wissenschaften gehört zuallererst die Psychoanalyse. denn für sie gilt immer wieder neue der Schlusssatz aus Herbert Marcuses berühmten Essay Das Veralten der Psychoanalyse: »Die Wahrheit der Psychoanalyse liegt darin, dass sie ihren herausforderndsten Hypothesen die Treue hält.«

Ein aktuelles, gelungenes Beispiel dieser Art von Auseinandersetzung ist Renate Göllners Essaysammlung Freiheit und Trieb. Der Untertitel An den Grenzen der Psychoanalyse verweist – im Gegensatz zum eher zu erwartenden Die Grenzen der Psychoanalyse – darauf, dass in Göllners Essays die Grenze mehr Ausgang als Ende, mehr Zone als Linie und mehr Reibung als Stillstand bedeutet.

Exemplar dafür der einleitende Essay – eine Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartres Kritik an der Psychoanalyse – die Frage im Tiel: »Wer wählt die Neurose?« Die Frage pointiert die für so viel freudsche Begriffe typische Spannung, nämlich hier, dass in der Neurose mindestens noch gleichviel Freiheit wie Trieb drinsteckt. Die Neurose ist der leerlaufende Vermittlungsversuch zwischen unvermittelbaren Ansprüchen in einem Individuum und zugleich ein Symptom, das die Deutung der gescheiterten Vermittlung ermöglicht. Sie ist nach Sigmund Freud also Hindernis und Schlüssel zur Heilung. Dass die Neurose in diesem Essay als subjektive Wahl untersucht wird, trägt dieser gespaltenen Konstitution Rechnung. Denn insofern sie als ein bestimmter Versucht unter anderen aufgefasst wird, mit den unvermittelbaren Ansprüchen, die an das Individuum gestellt sind, zu verfahren, muss ja irgendwann irgendwo eine Wahl für diese und nicht jene Form der Neurose stattgefunden haben. Dem Unbewussten ist damit eine Art Vernünftigkeit zugestanden, was Theodor W. Adorno mit Referenz auf Freud die »Unvernunft vernünftigen Handelns« genannt hat, und was, wie Gällner ergänzt, »im Grunde für alle zentralen Begriffe der Psychoanalyse, so auch für den der Verdrängung« gilt: »um von ihr sprechen zu können, muss bereits ein Bewusstsein angenommen werden, aus dem etwas verdrängt werde.« (S. 15) Im Hinblick auf Sartres gegen Freud formuliertes Konzept des Bewusstsein als vom Trieb unabhängige Einheit, erlaubt Göllners Verweis auf die Freiheit im Zwang der Neurose überraschend die Vermittlung von Sartre mit Freud. Leider auch um den Preis einer gewissen Beliebigkeit. Denn die von Göllner als Gemeinsamkeit herausgearbeitete Verantwortlichkeit als Moment individueller Freiheit in der erzwungenen Wahl könnte so noch für eine Reihe weiterer Entscheidungsmodelle Geltung beanspruchen.

Ein zweites Stück psychoanalytischer Dialektik, das die Frage der Freiheit im Zwang in ihrer ganzen Zweideutigkeit auslotet, entfaltet Göllner im Essay »Masochismus und Befreiung«. Er ist ein Nachdenken über das Autobiographische in den Werken des französisch-deutschen Schriftstellers Georges-Arthur Goldschmidt, der als verfolgtes jüdisches Kind den Zweiten Weltkrieg in einem katholischen Kinderheim in den französischen Alpen überlebte. Dort erfuhr er gleichzeitig Rettung und schärfste Qual durch seine Mitschüler und durch die Leiterin des Heims, die Gaullistin Marie-José Lucas, deren Zivilcourage mit einem Sadismus gepaart war, den sie in ihren Erziehungsmethoden hemmungslos auslebte: »Auf den nackten Hintern, mit Birkenzweigen, die Goldschmidt zuvor in einem kleinen Wald selber brechen musste, gingen die Hiebe nieder.« (S. 156) Aber die an ihm, dem auf Gedeih und Verderben ausgelieferten Knaben, vollzogene Gewalt, enthält eine unvermutete Kehrseite. Die Züchtigungen »wurden zum Ersatz für die so sehr entbehrte Liebe, eröffneten es dem Kind, die Verzweiflung zu bekämpfen. durch die Schläge auf den nackten Körper erfuhr er die ersten erotischen Sensationen, die Umkehr des Schmerzes und der Scham in Wollust.« (S. 157) Bei Freud, der für Goldschmidt später bedeutsam werden sollte, fand er seine eigene Erfahrung beschrieben als infantile Wünsche und Fantasien, die mit Strafe einhergehen können. Dieses Umschlagen von Ohnmacht und Scham in Momente der Befreiung kontrastiert Göllner mit der berühmten Schulpein-Erzählung von Robert Musil, den Verwirrungen des Zöglings Törless, in der die adoleszente Ambivalenz eigenen homosexuellen Regungen gegenüber in Ekel und totale Unterdrückung ausschlägt. Diese gewaltsame Verdrängung des eigenen Eros steht auch am Ursprung der Paranoia faschistischer Männerhorden. Der Bisexualität, jener glücklichen und bahnbrechenden Entdeckung Freuds, die ein nicht verdrängendes Verhältnis zu den eigenen homoerotischen Neigungen erlaubt, ist in diesem Band folgerichtig ein wichtiger Beitrag gewidmet.

Bei der Psychoanalytikerin Melanie Klein kritisiert Göllner ebenfalls die unterschätzte Bedeutung der Bisexualität und die biologistische Konzeption von Weiblichkeit. Die daran anschliessenden Überlegungen zur Transformation familiärer Autoritäten in modernen Gesellschaften zeigen aufs Neue, wie exakt mit Freud (um einen früheren Buchtitel Göllners zu nennen) die widersprüchlichen Realitäten der Menschen erfasst werden können. Dass man gleichzeitig die Realität innerfamiliärer Gewalt nach der Schwächung der väterlichen Autorität, die Komplizenschaft der Mutter in diesem System, die Probleme der Ich- und Über-Ich-Bildung in der Moderne sowie der Zurückdrängung der Familie als Instanz primärer Sozialisation und Individuation ansprechen kann, ist nur innerhalb einer Theoriebildung möglich, die die Zweideutigkeiten des Menschlichen nicht wegschlägt, sondern auf ihnen aufbaut. Ein Verfahren, das auch der Kritischen Theorie eigen ist, weshalb sie in den Texten Göllners immer wieder Pate steht.

Die in Freiheit und Trieb versammelten Essays schälen aus verstreuten und widersprüchlichen Motiven jeweils eine im emphatischen sinn des Wortes eigenwillige Linie des Denkens heraus. Es sei daher erlaubt, an dieser Stelle die Form der Rezension zu verlassen und diesen Artikel mit einem kleinen subjektiven Versuch über den wichtigsten Text in Göllners Buch, ihren Essay Versuch über Simone de Beauvoir, abzuschließen:

Das souveräne, heroische männliche Subjekt ist heute zum Glück öfter als früher zur Untätigkeit verdammt. Der gewohnte männlich konnotierte, meist von Handlungszwang getriebene Kampf gegen die Wirklichkeit findet immer seltener die ersehnte Resonanz. Der rastlose Aktivismus verliert sich in den Verstrickungen schon der nächsten Umgebung. Überraschenderweise passt zu dieser Situation ziemlich genau, was Simone de Beauvoir in ihrem Buch Le deuxième sexe (2000, 25), in Anlehnung an Sartres Philosophie und mit Blick auf die Situation der Frauen im Patriarchat schrieb: »Jedes Subjekt […] verwirklicht seine Freiheit nur durch deren ständiges Überschreiten auf andere Freiheit hin. […] Jedes Mal, wenn die Transzendenz in Immanenz zurückfällt, findet eine Herabminderung der Existenz in ein An-sich und der Freiheit in Faktizität statt.«

Die solchermassen drückend erfahren Faktizität erzeugt Anfang des 21. Jahrhunderts für viele Menschen, darunter vor allem Männer, ein Gefühl der Unmöglichkeit, überhaupt noch etwas tun zu können. Dass dieses Gefühl viele ergreift und mehr noch, dass es als Katastrophe erfahren wird, hat entscheidend mit einer übersteigerten Vorstellung von Autonomie zu tun. Diese vollzieht sich in vielen männlichen Jugendlichen immer wieder aufs Neue als Abgrenzungsvorgang gegen die im Patriarchat als Schmach empfundene Abhängigkeit vom weiblichen Geschlecht. Die im Kampfmodus errichtete Identität kann sich nur über wenigstens punktuell ausgelebte Allmachtsgefühle, wie etwa in der Fiktion völlig autonomer Handlungen, stabilisieren.

Anderseits bestünde aber auch die Möglichkeit der Annahme der Passivität, also zur depressiven Position, wie man in Anlehnung an Melanie Klein sagen könnte. Selbstredend wurde und wird aber Passivität aus der Perspektive des autonomen Macher-Subjekts genauso wie auch aus jener der in patriarchalen Verhältnissen lebenden Frauen sehr oft nur als Zwang und Erniedrigung erlebt. In Beauvoirs (ebd.) Worten: »Dieses Zurückfallen ist, wenn das Subjekt es bejaht, eine moralische Verfehlung, wird es ihm auferlegt, führt es zu Frustration und Bedrückung, in beiden Fällen ist es ein absolutes Übel.« Denn die Befreiung aus den patriarchalen Zwängen er noch immer meist weiblichen Passivität und des meist männlichen Autonomiewahns ohne die Befreiung aus den kapitalistischen Leistungs- und Konkurrenzzwängen entlässt die wenigsten aus diesem Entweder-oder, sondern stösst sie allzuoft nur auf die je andere Seite.

Die Verleugnung von Abhängigkeit wurde psychoanalytisch (Donald Winnicott) oder feministisch (Judith Butler, Donna Haraway) ein Realismus der Fürsorglichkeit entgegengesetzt. Aber die theoretische Kritik hebt den realen Widerspruch nicht auf. Dieser ist nur dort aufgehoben, wo die kapitalistische Leistungs- und Konkurrenzforderung gezähmt beziehungsweise ausser Kraft gesetzt ist. Solange für die meisten Menschen Passivität an erzwungene Abhängigkeit durch Prekarität und Arbeitslosigkeit gebunden ist und Aktivität wegen der Angst vor dieser Abhängigkeit für viele als Streben nach vollständiger Sicherheit durch Autonomie missverstanden werden muss, ist Beauvoirs Satz noch immer gültig. Anders gesagt: Die Gefahr, dass der Selfmademan zu einem grossen Teil mit der Selfmadewoman bekämpft wird, ist noch nicht vom Tisch. Aber gleichzeitig ist damit auch die Frage nach einer neuen Form der Befreiung aus patriarchaler und kapitalistischer Herrschaft gestellt. Eine Befreiung, aus der nicht eine Gesellschaft resultiert, in der nur das rastlos sich selber übersteigende Individuum, das sich permanent die Wirklichkeit selber erschaffen muss, frei sein kann. Es ist die Frage, ob eine Gesellschaft – postpatriarchal und postkapitalistisch – denkbar wäre, die nicht mehr durch die Dichotomie erniedrigender Passivität und anmassender Autonomie geprägt ist. Es wäre vielleicht eine Gesellschaft, in der die revolutionäre Antwort auf Lenins Frage »Was tun?« mit der Formel »Nicht alles, was möglich ist« eingeleitet wird und dem Heroismus der Tat der Heroismus der selbstgewählten Passivität gleichwertig gegenübergestellt werden kann.

(erschienen in: Widerspruch Nr. 74)