Georg K. Glaser
Die Geschichte des Weh

 

Das Werk Georg Glasers ist immer noch weitgehend unbekannt, trotz mehrfacher Ehrungen des Autors und Veröffentlichungen seiner Werke. Beispielsweise nahm Peter Härtling (1933 – 2017) in der Zeit Serie »Mein Jahrhundertbuch« Glasers autobiografischen Roman »Geheimnis und Gewalt« auf. 2007 gab Michael Rohrwasser (*1949) den ersten Band der Glaser Werkausgabe heraus: »Schluckebier und andere Arbeiten aus den Jahren 1931 – 1936«. Nach Insolvenz des Stroemfeld Verlags gab der ça ira Verlag 2022 »Schluckebier« und Band 2 von sechs Bänden des Editionsplans als Nachdruck heraus: »Geheimnis und Gewalt. Ein Bericht«.

Für die Veröffentlichung von Band 4 »Die Geschichte des Weh« zeichnet Ralph Schock (*1952) verantwortlich. Schock wurde 1984 mit einer Arbeit über Gustav Regler (1898 – 1963) promoviert. Von 1987 – 2017 war er Literaturredakteur beim Saarländischen Rundfunk. Von 1999 – 2004 gab er die Buchreihe »Abiturreden« heraus. Schock hatte den Autor Georg G. Glaser seit 1978 mehrfach in Paris besucht. Wenige Monate vor Glasers Tod sprach er mit ihm über die Begegnung mit Eugen Weidmann (1908 – 1939), den Glaser erstmals im Erziehungsheim Schloss Dehrn bei Limburg an der Nahe kennenlernte. Der sechsfache Mörder Weidmann war der Letzte, der am 17. Juni 1939 in Versailles öffentlich durch die Guillotine hingerichtet wurde.

Glaser wurde am 30. Mai 1910 in Guntersblum geboren und verbrachte seine Jugend in Worms. Als 16 jähriger entfloh er dem väterlichen Terror und lebte unter Tippelbrüdern, Obdachlosen und Dirnen, wurde mehrfach aufgegriffen und in Fürsorgeanstalten ein gewiesen, aus denen er immer wieder ausriss. Schließlich landete er im Gefängnis. Als 19 jähriger begann er zu schreiben, u.a. als Gerichtsreporter für die KPD und veröffentlichte 1932 seinen ersten Roman »Schluckebier«. 1933 floh der Antifaschist Glaser ins Saargebiet, kam ins Gefängnis und emigrierte 1935 nach Paris, wo er als Kesselschmied in den Werkstätten der französischen Staatsbahn arbeitete. 1940 geriet Glaser, der die französische Staatsbürgerschaft angenommen hatte, in deutsche Kriegsgefangenschaft. Er starb am 18. Januar 1995 in Paris.

Ende 1967 entstand Glasers Erzählung »Die Geschichte des Weh«. Der Ich Erzähler gesteht, dass Weidmanns Schicksal und seine Taten ihn lebenslang beschäftigt hatten. Öfters hatte Glaser seine Faszination für Weidmann geschildert, der er sich, wie es in der Erzählung heißt, »verwandt« fühlte. Bereits in der Fürsorgeanstalt war Glaser von Weidmann begeistert: »schön wie ein junger Gott, stark und mutig, Antlitz und Brust voll einer prächtigen, siegreichen Frechheit. Er erheiterte unser Dasein durch schonungslose Späße« (S. 8).

In einer Nacht Anfang Dezember 1938 lockte Weidmann unter einem Vorwand Willy (Wilhelm) Dörter – in der Erzählung Willy Mainzer genannt – in seine einsam gelegene Villa La Voulzie in La Celle Saint Cloud, vermutlich um ihn zu ermorden, weil er Weidmanns wahre Identität gekannt und deshalb eine Gefahr für ihn darstellte. Glaser schloss sich dem Freund bei der Fahrt an, worauf Weidmann nicht vorbereitet war. Im fünften von 13. Kapiteln schildert Glaser atemberaubend diesen erbarmungslosen Machtkampf, ein Zweikampf auf Augenhöhe, bei dem es um Leben und Tod ging. Nicht nur dieses Kapitel ist meisterhaft gestaltet, etwa wie der Ich Erzähler versucht, Weh nicht in Sicherheit zu wähnen, seinen Plan durchschaut zu haben: »Eine Hand legte sich auf die Klinke. Ich behalf mich mit schlechten Mienenspielen, zog hastig an meiner Pfeife, um rauchendes Behagen in dichten Wolken darzustellen, stemmte meine Füße gegen den Tisch und schaukelte auf den Hinterbeinen meines Stuhles so vertrauensvoll wie je einer, der einen heimtückischen Stoß nicht zu befürchten hatte« (S. 54). Auch hier werden Erinnerungen an den Aufenthalt an der Saar eingeflochten: »Gedankenlang hatte ich ihn in jenem Gelichter zuzählen wollen, das man an der Saar den Flüchtlingen auf den Hals geschickt hatte. Wie leicht hatten wir sie erraten, zu Geständnissen bewogen und –. Vielleicht hatten sie auch Weh gedungen, aber nicht halten können, ihn nicht. Umgekehrt hatte er sich kühl ihrer bedienen können, um sie fallenzulassen, sobald er ihrer nicht mehr bedurfte« (S. 55). Sehr spannend zu lesen ist zudem die Szene, in der die Verhaftung Wehs dargestellt wird, aber auch die Gerichtsverhandlung: »Ich habe in der Einsamkeit meiner Zelle den Gott meiner Kindheit wieder gefunden. Gefangen bis zu meinem nahen Ende bleibt mir nur noch, der Wahrheit zu dienen« (S. 130).

Dieses Werk eignet sich hervorragend zur Behandlung im Deutsch und/oder Geschichtsunterricht, auch wegen der zahlreichen zeithistorischen Anspielungen, etwa zu den Bedingungen in Konzentrationslagern, der Lage von Emigranten in Frankreich und der Geschehnisse des Jahres 1938 am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Hilfreich sind hierbei auch die Stellenkommentare, S. 141 – 150, und das umfangreiche Nachwort von Ralph Schock, S. 151 – 200.

Nur eine Kleinigkeit ist richtigzustellen: Im Stellenkommentar zu Willy Mainzer, S. 17, wird angegeben, er habe 1932 die Mainzer SAP [Sozialistische Arbeiterpartei] geführt, eine Abspaltung der KPD, und eine trotzkistische Oppositionsgruppe gegründet, die nach 1933 Untergrundarbeit betrieben habe. Im Nachwort, S. 152, wird die SAP als eine Abspaltung der SPD gesehen. Bei der Partei handelt es sich um eine linke Abspaltung der SPD im Herbst 1931, der sich auch der 17 jährige Willy Brandt in Lübeck angeschlossen hatte.

Der Editionsplan sieht drei weitere Werke Georg K. Glasers vor: Band 3: Marinus van der Lubbe. Fragmente eines Dramas, Band 5: Jenseits der Grenzen. Betrachtungen eines Querkopfs, Band 6: Nachgelassene Schriften, Briefe, Dokumente und Nachträge.

 

Franz Josef Schäfer

Aus: Erziehung und Wissenschaft im Saarland, März 2024