Claudia Erdheim: Rezension zu »Georg Elser in Deutschland«

Claudia Erdheim

Rezension zu »Georg Elser in Deutschland«

 

Pünktlich zum 80. Jahrestag des Attentats Georg Elsers auf Adolf Hitler am 8. November 1939 ist das Buch des jungen Philosophen und Historikers Matheus Hagedorny erschienen. In Österreich ist das Attentat des Schreiners Elser im Vergleich zu den Heldentaten um Stauffenberg und der Geschwistern Scholl wenig bekannt, allenfalls durch den Film-Thriller von 1989 mit Klaus Maria Brandauer. Der Schreiner und Kommunist Georg Elser verübte ganz allein, ohne jegliche Unterstützung einer Widerstandsgruppe, an dem Abend, an dem Hitler und seine Entourage des gescheiterten Putsches von 1923 im Bürgerbräukeller gedachten, ein Sprengstoffattentat, bei dem acht Menschen getötet und 63 verletzt wurden. Hitler aber entkam, da er 13 Minuten früher als geplant den Saal verlassen hatte. Die offizielle Version des Hitler-Regimes war, dass der britische Geheimdienst hinter dem Attentat stecke. Die Hitlergegner gingen von einer Propagandainszenierung aus.

Im Folgenden beschreibt Hagedorny die Reaktionen auf das Attentat und dessen Wirkung von Kriegsende bis heute. Bei seiner Analyse der Haltung der Kommunisten zum Attentat zitiert Hagedorny das wenig bekannte Telegramm der sowjetischen Regierung vom 11.11.1939 an den deutschen Botschafter in Moskau: »Die sowjetische Regierung drückt ihr Bedauern und ihre Entrüstung über den ruchlosen Anschlag von München, ihre Freude über die glückliche Errettung Adolf Hitlers aus der Lebensgefahr und ihr Beileid für die Opfer des Attentats aus.« Hinter dieser Tatsache steht zunächst, dass die KPD gegen den »Tyrannenmord« war, wie es Rosa Luxemburg und der exkommunizierte Leo Trotzki vorgaben. Entscheidender jedoch war der Hitler-Stalin-Pakt, der eine Unterstützung von Elsers Attentat unmöglich machte.

Nach dem Krieg war es insbesondere der protestantische Pfarrer Martin Niemöller, der kein gutes Haar an Elser ließ. Er verbreitete das diffamierende Gerücht, Elser sei SS-Unterscharführer gewesen, das Attentat von den Nazis inszeniert, Elser sei »nicht einmal eine Null oder ein Nichts«, er hatte einfach einen »verbrecherischen Willen«. Dies kam dem Hang der Menschen der Nachkriegszeit zu verdrängen und zu vergessen sehr entgegen. Auch wenn Hans Gisevius, ein Verschwörer des 20. Juli 1944, 1946 unter Eid bezeugte, dass der Attentäter von München »ein tapferer kommunistischer Einzelgänger« gewesen sei und auch in den Fünfzigerjahren journalistische Recherchen in die gleiche Richtung gingen.

Hagedorny untersucht ausführlich den Einfluss des Protestantismus auf den Nationalsozialismus unter Einbeziehung des Theologen Dietrich Bonhoefers, der, wie Georg Elser, am 9. April 1945 ermordet wurde. »Jedes Unternehmen, Hitler um sein Leben zu bringen, war geradezu widernatürliches Terrain für einen deutschen Protestanten.« (S. 70). »Schon wegen der Veranlagung zur Staatstreue im deutschen Protestantismus war kein fundamentaler Widerstand zu erwarten.« (S. 71). Niemöller beharrte bis zu seinem Tod auf seiner Version.

Einen Georg Elser dafür zu loben, dem Führer ohne Auftrag und privilegierten »Zugang zum Machthaber« (Carl Schmitt) ans Leben gegangen zu sein, hätte gleich zwei Lebenslügen protestantischer Subjekte denunziert: zum einen die vormalige, moralisch indifferente Unterwerfung unter die ›Vorsehung‹ Adolf Hitlers, zum anderen die blühenden Mythen uom lähmenden ›Befehlsnotstand‹ und ›innerer Emigration‹, in denen sich die überwältigende Mehrheit rückwirkend wähnte. (S. 57).

Auch die Veröffentlichung der Verhörprotokolle im Jahr 1969 (Lothar Gruchmann und Anton Hoch) hatte keine durchschlagende Wirkung auf das öffentliche Bewusstsein. Das Desinteresse an dem Hitlerattentäter hielt praktisch bis zum Ende des Kalten Krieges an. Hitler blieb im Focus, dem die Verantwortung an den Verbrechen zugeschoben wurde. Erst in den 1990er-Jahren änderte sich die Situation. Es erschienen einige Biographien, die das verzerrte Bild von Elser korrigierten. Elser wurde nun gleichwertig mit Stauffenberg und seinen Mitstreitern gewürdigt, Denkmäler wurden errichtet und Straßen nach ihm benannt. Dennoch blieb das Interesse an ihm mäßig.

1999 trat Lothar Fritze, außerplanmäßiger Professor in Chemnitz und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hanna-Arendt-Institut in Dresden, mit einer scharfen Kritik an der Ehre, die Elser erwiesen wird, auf den Plan. Die konkrete Ausführung des Attentats wäre moralisch fragwürdig gewesen, er habe die Tötung Unschuldiger in Kauf genommen, zu denen Fritze auch die NSDAP-Teilnehmer zählt. »Fritzes Argumentation geht davon aus, dass ein Vorbild, das einstmals tödliche Gewalt ausübte, mehr als bloß eine legitime Absicht und die Risikobereitschaft gehabt haben müsse, um heute als uneingeschränktes Vorbild gelten zu dürfen« (S. 106). Zehn Jahre später bekräftigt Fritze seine Meinung in einer Buchpublikation.

Hagedorny geht weiters auf die berechtigte Kritik an den RAF-»Attentätern« ein. Elsers Verdikt über Hitler und die nationalsozialistische Führung lässt sich nicht in den Postnazismus verlängern, da es zeit- und situationsgebunden war.

Laut Fritz Bauer lässt sich der außergesetzliche Widerstand nicht rechtfertigen, solange die Menschenrechte gewahrt werden, solange eine Möglichkeit zur Opposition besteht und einem Parlament Gelegenheit zur Gesetzgebung gegeben ist, solange unabhängige Gerichte walten und die Gewalten geteilt sind. (S. 116).

Abschließend geht Hagedorny auf Auswüchse und Missverständnisse des Elser-Mythos ein. Seit 2001 wird der Georg-Elser-Preis verliehen. Durch die Übertragung von Elsers Tat in die Gegenwart wird, wie man inzwischen eingesehen hat, der Preis problematisch trotz der Beschränkung »auf nicht zum Mittel der Tötung greifenden Aktivisten« (S. 118). Beschämend und entwürdigend war die Preisverleihung 2011 an Dietrich Wagner, der bei einem Polizeieinsatz bei Protesten gegen Stuttgart 21 fast vollständig erblindete. In seiner Dankesrede spricht Wagner vom drittschlimmsten Verbrechen der deutschen Geschichte. Woraufhin Hella Steinbacher von der Georg-Elser-Initiative Wagner nur mit großer Mühe stoppen konnte. Hier wurde Elsers Tat aus dem historischen Kontext abgelöst und in gewisser Weise missbraucht, wie Hagedorny richtig bemerkt. Auch an der Gesamtschau der »Gedenkstätte deutscher Widerstand« übt Hagedorny Kritik. Sie vermittelt den Eindruck, »es habe den deutschen Viderstand gegeben, dem sich der Einzeltäter Elser angeschlossen oder irgendwie verpflichtet gefühlt hätte«. (S. 121f.) Hagedorny kommt schließlich zu dem Schluss, dass Elser heute kein handlungsleitendes und legitimierendes Vorbild sein kann. (S. 123). »Die begeisterte Entdeckung von einem aus Deutschland, der den Lauf des Nationalsozialismus hätte verändern können, darf nicht überdecken, dass Elser schlussendlich ein Opfer des Nationalsozialismus geworden ist.« (S. 123).

Statt als märtyrerähnliche Ikone wäre Johann Georg Elser ›der Jugend als Beispiel vorzustellen‹ […] Zum einen als Beleg für die Reichweite eines Einzelnen, der aus seinen Begabungen und Mitteln einen möglichst effizienten antinazistischen Widerstand geformt hat, zum anderen als Exempel für die Macht und den Vernichtungswillen der deutschen ›Volksgemeinschaft‹, die neben dem Leib von Georg Elser beinahe auch dessen Erinnerung auszulöschen vermochte. (S. 124).

Als Angehöriger der Enkelgeneration ist Hagedorny, wenngleich ein Linker, eine unbefangere Sichtweise möglich. So kritisiert er nicht nur die durch und durch untragbare Behandlung Elsers in der Nachkriegszeit, sondern auch die Einstellung der linken 68er-Generation, die sich schließlich auf ›ferne militante Volkstümler‹ wie Mao und Che bezogen, aber auch Schäubles Laudatio aus dem Jahr 2008: »Er [Elser] habe ›eine im Nachhinein bezwingend klare Sicht auf die politische Entwicklung‹ gehabt«. (S. 99). Was schließlich doch wieder auf eine Exkulpierung der Deutschen hinausläuft.

Obwohl leider nur in einem kleinen Verlag erschienen, ist es ein wichtiges, kritisches und mit interessanten historischen Details versehenes Buch über die in Österreich weniger bekannte Geschichte und Rezeption eines wahren Helden, auch wenn Hagedorny ihn nicht als solchen sehen möchte.

Abschließen möchte ich mit einer persönlichen Bemerkung über den erwähnten Professer an der Technischen Universität Chemnitz und Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut. Wie weit darf die Freiheit der Wissenschaft gehen? Darf ein Professor in Büchern und Schriften jemanden, der beinahe die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts verhindert hat, in übelster Weise moralisch diffamieren? Fritze ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt- Institut für Totalitarismusforschung (!) und schreibt 2009: »Die Bombe dieses Attentärers, der heute von vielen für einen der größten Deutschen gehalten wird, hätte eine massenhafte Menschenvernichtung [!] zur Folge gehabt – eine Katastrophe großen Ausmaßes.« (Lothar Fritze, Legitimer Widerstand? Der Fall Elser. Berlin 2009. Hier zitiert nach Hagedorny S. 110). Fritze spricht von einem »schauderhaften Blutbad«, »zerrissenen Leibern, zerquetschten Köpfen«, einem Akt »bestialischer Grausamkeit«. Wie ist es möglich, dass jemand angesichts der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges und der Ermordung der europäischen Juden so etwas heute ungestraft schreiben und lehren darf? Den Holocaust zu leugnen, ist verboten, aber im Jahr 2009 nach jahrelangen Forschungen und Diskussionen zu bedauern, dass das Attentat »eine massenhafte Menschenvernichtung zur Folge gehabt« hätte – »eine Katastrophe großen Ausmaßes«, fällt offenbar unter die Freiheit der Wissenschaft. Hitlers Ermordung und die der obersten nationalsozialistischen Elite moralisch verwerflich zu finden und sie als »bestialische Grausamkeit« zu bezeichnen, fällt unter die Freiheit der Wissenschaft. Selbst wenn es sich erschreckenderweise so verhält (Herr Fritze wird sich hüten, ewas zu äußern, was strafbar ist), ist es unbegreiflich, dass ausgerechnet so jemanden das Hannah-Arendt-Institut als wissenschaftlichen
Mitarbeiter duldet. Das ist eine Schande für das Institut.

Zwischenwelt. Zeitschrift für Kultur des Exils und des Widerstands, 1/2020