Helmut Reichelt – Zum Verhältnis von logischer und historischer Methode * Leseprobe aus: Helmut Reichelt, Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx

Zum Verhältnis von logischer und historischer Methode

Helmut Reichelt

Unsere Beschäftigung mit dem Begriff der Konkurrenz, dem existierenden Kapital, soweit es als existierendes ebenfalls noch in die »allgemeine Untersuchung« eingeht, hat gezeigt, daß nach Marx ein zentrales Mißverständnis zum Wesen der bürgerlichen Theorie gehört: Sie übersieht völlig, daß sie den kapitalistischen Gesamtprozeß immer nur aus der Sicht des Einzelkapitalisten betrachtet, dem sich dieser Prozeß in verkehrter Gestalt präsentiert. Das Kapital endet, wie wir wissen, mit der Kritik der »trinitarischen Formel«, jener mystifizierenden Lehre von den verschiedenen Produktionsfaktoren, die alle am Wertzuwachs des Endprodukts beteiligt sind, wobei festgestellt wurde, daß sich diese Anschauung gleichsam als »natürliche Interpretationsrichtung« aus der Tatsache ergibt, daß für den Einzelkapitalisten Arbeitslohn, Zins und Rente als Elemente der Preisbildung fungieren, als Kosten in seine Kalkulation eingehen. Diesen Kosten rechnet der »exoterische« Adam Smith auch den Profit zu, den der Unternehmer in einem gewissen Umfang antizipiert, indem er sich an der durchschnittlichen Profitrate orientiert, die jedes Kapital abwirft. In dieser Konstellation spielt die Kategorie Arbeitslohn eine zentrale Rolle, weil sie verdeckt, daß die Verteilung des Wertes auf verschiedene Kategorien nicht identisch ist mit der Form der wertproduzierenden Arbeit, wie sie umgekehrt verhüllt, daß diese Arbeit, soweit sie diesen spezifisch gesellschaftlichen Charakter der Lohnarbeit hat, nicht wertbildend ist. Alle Arbeit erscheint daher ihrer Natur nach als Lohnarbeit, und das ist, wie oben entwickelt wurde, der geheime Grund für die Lehre von der mystischen Kraft der Produktionsfaktoren. Fällt nämlich Arbeit mit Lohnarbeit zusammen, so fällt auch die gesellschaftliche Form, worin dem entblößten Produzenten die entfremdeten Arbeitsbedingungen gegenübertreten, mit ihrem stofflichen Dasein zusammen. Arbeitsmittel sind dann als solche Kapital, und die Erde als solche Grundeigentum; die gesellschaftliche Form des Produktionsprozesses verkehrt sich zur Naturform und wird identisch mit dem ein-|[126/127]fachen Arbeitsprozeß, wie er allen Gesellschaftsformationen als Voraussetzung menschlichen Lebens zugrunde liegt. Die verschiedenen Einkommen scheinen der Rolle geschuldet zu sein, welche die verschiedenen Produktionsmittel bzw. die Arbeit im einfachen Produktionsprozeß spielen.

Aufgabe der ökonomischen Theorie ist es, diesen falschen Schein zu zerschlagen, und wir haben an einigen Beispielen der Marxschen Kritik an der klassischen bürgerlichen Theorie demonstriert, inwieweit ihr das gelungen ist. Daß sie aber letztlich doch kapitulieren mußte, liegt an der undurchschauten Natur der Kategorien. Darauf führt Marx auch zurück, daß die Methode der bürgerlichen Theorie ihrem Gegenstand immer äußerlich bleibt, und das tangiert seinerseits wieder die Darstellungsform des Gesamtprozesses. Marx geht auf diesen Sachverhalt nur am Rande ein, im Grunde eigentlich nur bei Ricardo. Ihn lobt er, wie wir schon erörtert haben, wegen der strengen Konsequenz seines Verfahrens, zugleich aber weist Marx darauf hin, daß er die Kategorien aus der Empirie aufnimmt, sie als gegeben voraussetzt (anstatt sie erst zu entwickeln), um ihr »Adäquatsein mit dem Wertgesetz« nachzuweisen. »Die Methode Ricardos besteht nun darin: Er geht aus von der Bestimmung der Wertgröße der Ware durch die Arbeitszeit und untersucht dann, ob die übrigen ökonomischen Verhältnisse, Kategorien, dieser Bestimmung des Wertes widersprechen oder wie weit sie dieselbe modifizieren. Man sieht auf den ersten Blick sowohl die historische Berechtigung dieser Verfahrensart, ihre wissenschaftliche Notwendigkeit in der Geschichte der Ökonomie, aber zugleich auch ihre wissenschaftliche Unzulänglichkeit, eine Unzulänglichkeit, die sich nicht nur in der Darstellungsart (formell) zeigt, sondern zu irrigen Resultaten führt, weil sie notwendige Mittelglieder überspringt und in unmittelbarer Weise die Kongruenz der ökonomischen Kategorien untereinander nachzuweisen sucht.« [ 1 ] Was in diesem Zusammenhang unter »notwendigen Mittelgliedern« zu verstehen ist, soll hier noch nicht behandelt werden; wesentlich ist vielmehr der Hinweis, daß eine Methode, welche die Kategorien äußerlich aufnimmt, zu einer notwendig falschen Darstellungsart des Gesamtprozesses führen muß. Das wird einige Seiten später deutlich hervorgehoben: »Daher auch die außerordentlich sonderbare und notwendig verkehrte Architektonik seines Werkes … Die Ricardosche Theorie ist … ausschließlich enthalten in den ersten sechs Kapiteln seines Werkes. Wenn ich von dessen fehlerhafter Architektonik spreche, so |[127/128] geschieht es mit Bezug auf diesen Teil. Der andere Teil besteht aus Anwendungen, Erläuterungen und Zusätzen (den Abschnitt über das Geld ausgenommen), die der Natur der Sache nach durcheinandergewürfelt sind und keinen Anspruch auf Architektonik machen. Die fehlerhafte Architektonik in dem theoretischen Teil (den sechs ersten Kapiteln) ist aber nicht zufällig, sondern gegeben durch die Untersuchungsweise Ricardos selbst und die bestimmte Aufgabe, die er seiner Forschung gestellt hat. Sie drückt das wissenschaftlich Ungenügende dieser Untersuchungsweise selbst aus.« [ 2 ] Da Marx die klassische Theorie je schon vom Standpunkt seiner eigenen Verarbeitung der ökonomischen Probleme kritisiert, ist daraus zugleich zu entnehmen, daß sich die Methode, mit deren Hilfe die universelle Geltung des Wertgesetzes im Kapitalismus nachgewiesen werden muß, aus der Natur der Kategorien selbst zu ergeben hat und auch die gesamte Darstellung des Prozesses aus dem richtigen Verständnis der Formprobleme zu erfolgen hat. Solange jedoch Lohnarbeit mit Arbeit schlechthin identifiziert wird und die gesellschaftlichen Formbestimmtheiten, unter denen die Produktionsbedingungen dem Arbeiter entgegentreten, zu Natureigenschaften dieser Produktionsbedingungen verkehrt werden, kann die bürgerliche Ökonomie den methodischen Horizont von Ricardo nicht überspringen. Seine Methode wie Form der Darstellung markieren zugleich seine eigene Schranke. Die Verkehrung der gesellschaftlichen Form zur Naturform bedeutet ja in diesem Fall nichts anderes, als daß völlig übersehen werden muß, daß die Differenzierung der Gesellschaft in Klassen, die bürgerliche Form des Klassenantagonismus, sich in dem kategorialen Gefüge selbst ausdrückt, daß also die Genesis der freien Lohnarbeit und die Verselbständigung der Arbeitsbedingungen gegenüber den unmittelbaren Produzenten ein und derselbe Vorgang ist: die Produktionsmittel nehmen nur die Form des Kapitals an, wenn das subjektive Dasein von seiner objektiven Grundlage getrennt ist und jetzt erst als Arbeiter schlechthin erscheint. Einmal entstanden, verbirgt der Kapitalismus seine eigene Herkunft, insofern alle Mitglieder der Gesellschaft in der Zirkulationssphäre aufeinandertreffen, Äquivalente tauschen und dadurch zugleich dem oben skizzierten Vorgang der Verkehrung unterliegen, der den bürgerlichen Menschen als geschichtsloses Wesen schlechthin erscheinen läßt. Da die bürgerliche Theorie diesen Sachverhalt nicht in dieser Weise durchschaut, muß sie – analog zur klassischen Staatstheorie – die Form der vereinzelten Individuen als ganze Wahrheit |[128/129]hinnehmen und kann die Genesis des kapitalistischen Reproduktionsprozesses wie auch sein Funktionieren nur unter dieser (ihr selbst undurchsichtigen) Voraussetzung entwickeln. Daß aber unter dieser Voraussetzung der Nachweis der universellen Geltung des Wertgesetzes gerade nicht gelingen kann, haben wir bei der Betrachtung der Marxschen Kritik an Adam Smith und David Ricardo gesehen. Marx geht auf diesen Gesamtzusammenhang noch einmal anläßlich seiner Auseinandersetzung mit Cherbuliez ein, der auf der G rundlage der bürgerlichen Interpretation des Wertgesetzes das »ausschließliche Recht« des Arbeiters auf den aus seiner Arbeit resultierenden Wert als »Fundamentalprinzip« ableitet: »Wie das Gesetz der Waren, daß sie Äquivalente bilden und sich austauschen im Verhältnis zu ihrem Wert, i.e. der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit, darin umschlägt, daß die kapitalistische Produktion – und nur auf ihrer Basis ist es wesentlich das Produkt, als Ware produziert zu werden – umgekehrt darauf beruht, daß ein Teil der Arbeit ohne Austausch angeeignet wird, versteht und entwickelt Cherbuliez nicht. Er fühlt nur, daß hier ein Umschlag stattfindet … Dies Fundamentalprinzip ist eine reine Fiktion. Es entspringt aus einem Schein der Warenzirkulation. Die Waren tauschen sich aus im Verhältnis ihres Werts, das heißt der in ihnen enthaltenen Arbeit. Die Individuen treten sich nur als Warenbesitzer gegenüber und können sich daher der Ware der andren nur bemächtigen durch Entäußerung ihrer eignen Ware. Es scheint daher, als hätten sie nur ihre eigne Ware auszutauschen, da der Austausch von Waren, die fremde Arbeit enthalten, soweit sie selbst nicht wieder durch Austausch der eignen Ware erhalten (wurden), andre Verhältnisse unter den Menschen, als die von einfachen Warenbesitzern, von Käufern und Verkäufern, voraussetzt. In der kapitalistischen Produktion verschwindet dieser Schein, den ihre eigne Oberfläche zeigt. Was aber nicht verschwindet, ist die Illusion, daß ursprünglich die Menschen nur als Warenbesitzer einander gegenübertreten und daher jeder nur Eigentümer ist, soweit er Arbeiter ist. Dies ›ursprünglich‹ ist, wie gesagt, eine aus dem Schein der kapitalistischen Produktion entspringende Delusion, die historisch nie existiert hat.« [ 3 ] Diesem Schein der Warenzirkulation sind nach Marx alle bürgerlichen Theoretiker erlegen. Zwar wird erkannt, daß Mehrwert produziert und von den Eigentümern der Arbeitsmittel angeeignet wird, worauf ja Marx auch hier wieder aufmerksam macht, doch nicht gesehen, daß erst mit der vollständigen Trennung der Produzenten von ihren Pro-|[129/130]duktionsmitteln die gesamte Produktion unter die bürgerliche Form der Arbeitsteilung subsumiert ist, und infolgedessen auch dann erst das Wertgesetz vollkommen zur Geltung gelangen kann. »Eine Analyse der spezifischen Form der Teilung der Arbeit, der Produktionsbedingungen, worauf sie beruht, der ökonomischen Verhältnisse der Gesellschaftsmitglieder, worein sich diese Bedingungen auflösen, würde zeigen, daß das ganze System der bürgerlichen Produktion vorausgesetzt ist, damit der Tauschwert als einfacher Ausgangspunkt an der Oberfläche erscheine und der Austauschprozeß, wie er sich in der einfachen Zirkulation auseinanderlegt, als der einfache, aber die ganze Produktion wie Konsumtion umfassende gesellschaftliche Stoffwechsel. Es würde sich also ergeben, daß andre, verwickeltere, und mehr oder minder mit der Freiheit und Unabhängigkeit der Individuen kollidierende Produktionsbeziehungen, ökonomische Verhältnisse derselben vorausgesetzt sind, damit sie als die freien Privatproduzenten in den einfachen Beziehungen von Käufen und Verkäufen sich in dem Zirkulationsprozeß gegenübertreten, als seine unabhängigen Subjekte figurieren. Vom Standpunkt der einfachen Zirkulation aber sind diese Verhältnisse ausgelöscht.« [ 4 ] Alle Mitglieder der Gesellschaft können nur dann in der Zirkulationssphäre unter bestimmten Charaktermasken miteinander verkehren, wenn die bürgerliche Form der Klassenspaltung vollständig entwickelt ist. Erst jetzt sind auch dem Einzelkapitalisten die verschiedenen, sein Handeln bestimmenden wie zugleich seine Existenzweise definierenden Elemente in der Form eines kategorialen Gefüges vorgegeben, das in dieser Form, in der sich der kapitalistische Gesamtprozeß dem Einzelkapitalisten präsentiert, zugleich die Oberfläche dieses Prozesses darstellt. Hier finden wir die Kategorie Arbeitslohn, die vortäuscht, daß es sich beim Austausch zwischen Kapital und Arbeit um dieselbe Art von Kauf und Verkauf handelt wie bei allen anderen Waren. Mit anderen Worten: das Wertgesetz gilt erst dann, wenn die gesamte Gesellschaft unter die bürgerliche Form der Arbeitsteilung subsumiert ist, aber der Nachweis seiner Geltung ist nach Marx nur dann möglich, wenn gezeigt werden kann, daß an einer entscheidenden Nahtstelle nur zum Schein ausgetauscht wird, daß das Verhältnis des Austausches zwischen Kapital und Arbeit nur ein dem Zirkulationsprozeß angehöriger Schein ist, »bloße Form, die dem Inhalt selbst fremd ist und ihn mystifiziert«, also eine Form, unter welcher der Kapitalist sich ohne Äquivalent ein größeres Quantum lebendiger Arbeit aneignen kann, als er an vergegenständ-|[130/131]lichter hergibt. Für Marx stellt sich daher der Gesamtprozeß in einer Form dar, in der die bürgerliche Anschauung wahrhaft im Hegelschen Sinne aufgehoben ist: gehen die bürgerlichen Theoretiker von der Form der vereinzelten Individuen als einem nicht mehr Ableitbaren aus, so zeigt Marx, daß diese Form selbst noch vermittelt, selber noch das Resultat des Kapitals ist. »Die Zirkulation in sich selbst betrachtet ist die Vermittlung vorausgesetzter Extreme. Aber sie setzt diese Extreme nicht. Als Ganzes der Vermittlung, als totaler Prozeß selbst muß sie daher vermittelt sein. Ihr unmittelbares Sein ist daher reiner Schein. Sie ist das Phänomen eines hinter ihrem Rücken vorgehenden Prozesses.« [ 5 ] »Die einfache Zirkulation ist vielmehr eine abstrakte Sphäre des bürgerlichen Gesamtproduktionsprozesses, die durch ihre eigenen Bestimmungen sich als Moment, bloße Erscheinungsform eines hinter ihr liegenden, ebenso aus ihr resultierenden, wie sie produzierenden tieferen Prozesses – des industriellen Kapitals – ausweist.« [ 6 ]

Dieser Sachverhalt reflektiert sich in der dialektischen Darstellung der Kategorien. Bei sorgfältiger Lektüre des ersten Bandes des Kapitals wird man spätestens bei Anmerkung 15 auf die Problematik der Konstruktion stoßen: »Der Leser muß aufmerken, daß hier nicht vom Lohn oder Wert die Rede ist, den der Arbeiter für etwa einen Arbeitstag erhält, sondern vom Warenwert, worin sich sein Arbeitstag vergegenständlicht. Die Kategorie Arbeitslohn existiert überhaupt noch nicht auf dieser Stufe unserer Darstellung.« [ 7 ] Eine weitere für die Konstruktion wesentliche Passage findet sich im 4. Kapitel über die Verwandlung von Geld in Kapital. Hier schreibt Marx: »Die Frage, warum dieser freie Arbeiter ihm (dem Geldkapitalisten, H. R.) in der Zirkulationssphäre gegenübertritt, interessiert den Geldbesitzer nicht, der den Arbeitsmarkt als eine besondre Abteilung des Warenmarktes vorfindet. Und einstweilen interessiert sie uns ebensowenig. Wir halten theoretisch an der Tatsache fest, wie der Geldbesitzer praktisch. Eins ist jedoch klar, die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld und Warenbesitzer und auf der andren bloße Besitzer der eigenen Arbeitskräfte. Dies Verhältnis ist kein naturgeschichtliches und ebensowenig ein gesellschaftliches, das allen Geschichtsepochen gemein wäre. Es ist offenbar selbst das Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzun-|[131/132]gen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.« [ 8 ] In ähnlicher Weise argumentiert Marx schon im Rohentwurf des Kapitals, wobei er explizit auf die Bedeutung dieses Sachverhalts für die dialektische Form der Darstellung der Kategorien aufmerksam macht. »Daß der Geldbesitzer … das Arbeitsvermögen auf dem Markt, in den Grenzen der Zirkulation als Ware vorfindet, diese Voraussetzung, von der wir hier ausgehn, und von der die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Produktionsprozeß ausgeht, ist offenbar das Resultat einer langen historischen Entwicklung, das Resümé vieler ökonomischer Umwälzungen, und setzt den Untergang andrer Produktionsweisen (gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse) und bestimmter Entwicklung der Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit voraus. Der bestimmte vergangene historische Prozeß, der in dieser Voraussetzung gegeben ist, wird sich noch bestimmter formulieren bei weiterer Betrachtung des Verhältnisses. Diese historische Entwicklungsstufe aber der ökonomischen Produktion – deren Produkt selbst schon der freie Arbeiter – ist aber Voraussetzung für das Werden und noch mehr das Dasein des Kapitals als solchen. Seine Existenz ist das Resultat eines langwierigen historischen Prozesses in der ökonomischen Gestaltung der Gesellschaft. Es zeigt sich an diesem Punkt bestimmt, wie die dialektische Form der Darstellung nur richtig ist, wenn sie ihre Grenzen kennt.« [ 9 ]

Aus den zitierten Stellen geht hervor, daß die Existenz einer freien Lohnarbeiterschaft die Voraussetzung bildet für die begriffliche Verarbeitung des kapitalistischen Gesamtsystems in Form der dialektischen Darstellung der Kategorien, diese Form der Darstellung aber andererseits nicht unmittelbar identisch ist mit der Nachzeichnung der historischen Genesis des Kapitals und der freien Lohnarbeit. Diese Unterscheidung zwischen logischer Abfolge der Kategorien und historischer Genesis des Kapitalismus findet sich im Frühwerk nicht, wie wir gesehen haben. Zwar wird auch dort deutlich hervorgehoben, daß erst mit der vollkommenen Trennung des subjektiven Daseins von den objektiven Bedingungen seiner Verwirklichung der Einblick in die Struktur der Geschichte möglich ist, aber die theoretische Konstruktion des wirklichen geschichtlichen Verlaufs gelingt ihm damals nicht. Ebensowenig ist er in der Lage, aus dem einfachen Austauschakt das Klassenverhältnis abzuleiten, was zumindest in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ansatzweise intendiert ist. Mit der Ein-|[132/133]führung dieser Unterscheidung sind diese Unstimmigkeiten überwunden.

Annäherungsweise hat Engels das Verhältnis von logischer und historischer Methode in einer Besprechung der Kritik der politischen Ökonomie bestimmt. Die logische Methode sei die von historischer Form« und »störenden Zufälligkeiten« gereinigte, heißt es hier [ 10 ] , der Gedankengang in der Kritik ist Engels zufolge nichts anderes als »das Spiegelbild, in abstrakter und theoretisch konsequenter Form, des historischen Verlaufs«. Die Beschreibung dieses Verhältnisses beider Methoden zueinander betrifft vor allem die Kritik der politischen Ökonomie und das Gesamtsystem nur in höchst vermittelter Weise. Hier ist jedoch daran zu erinnern, daß Marx seine Darstellungsmethode hinsichtlich der Aufeinanderfolge der Kategorien und ihr Verhältnis zur historischen Entwicklung ganz anders beschrieben hat: »Es wäre untubar und falsch, die ökonomischen Kategorien in der Folge aufeinanderfolgen zu lassen, in der sie historisch die bestimmenden waren. Vielmehr ist ihre Reihenfolge bestimmt durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau die umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht.« [ 11 ]

Die dialektische Darstellung als in sich stimmiges System des Gesamtgefüges der Kategorien hat sehr viel Ähnlichkeit mit dem Hegelschen Systemgedanken, insofern sich das Ganze nur durch die Teile hindurch erschließt, wie umgekehrt die einzelnen Momente der Gesamtkonstruktion in ihrer bestimmten Stellung innerhalb des Ganzen bis ins konkrete Detail durch das Ganze bestimmt sind. Nur ist eben Historisches und Logisches nicht identisch wie im absoluten Idealismus; das Verhältnis beider zueinander ist komplizierter. »Andrerseits, was viel wichtiger für uns ist, zeigt unsere Methode Punkte, wo die historische Betrachtung hereintreten muß, oder wo die bürgerliche Ökonomie als bloß historische Gestalt des Produktionsprozesses über sich hinausweist auf frühere historische Weisen der Produktion. Es ist daher nicht nötig, um die Gesetze der bürgerlichen Ökonomie zu entwickeln, die wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse zu schreiben. Aber die richtige Anschauung und Deduktion derselben als selbst historisch gewordener Verhältnisse führt immer auf erste Gleichungen – wie die empirischen Zahlen z. B. in der Naturwissen-|[133/134]schaft -, die auf eine hinter diesem System liegende Vergangenheit hinweisen. Diese Andeutungen, zugleich mit der richtigen Fassung des Gegenwärtigen, bieten dann auch den Schlüssel für das Verständnis der Vergangenheit – eine Arbeit für sich, an die wir hoffentlich auch noch kommen werden.» [ 12 ] Marx bezieht sich hier auf den Prozeß der ursprünglichen Akkumulation, durch den die freie Lohnarbeiterschaft allererst produziert wird, wobei der systematische Ort der Behandlung dieses Prozesses durch die immanente Logizität der kategorialen Darstellung festgelegt ist. Um jedoch diese »wirkliche Geschichte der Produktionsverhältnisse« als spezifisch von der kategorialen Darstellung abheben zu können, muß nicht nur Klarheit herrschen über die Struktur des kategorialen Gefüges, in welches diese »wirkliche Geschichte« an bestimmten Knotenpunkten hineinragt, sondern die exakte begriffliche Erfassung dieser »Geschichte der Produktionsverhältnisse« kann ebenfalls nur erfolgen auf der Grundlage der Kenntnis der inneren Logizität der Wertbewegung. Der Kapitalbegriff wird also vorausgesetzt, um jene historische Entwicklung des Kapitals nachzuzeichnen, die zum Kapitalismus führte, und damit auch zu jenen Verhältnissen, auf deren Grundlage überhaupt die Formulierung dieses Begriffs möglich ist. »Wenn im vollendeten bürgerlichen System jedes ökonomische Verhältnis das andere in der bürgerlich-ökonomischen Form voraussetzt und so jedes Gesetzte zugleich Voraussetzung ist, so ist dies mit jedem organischen System der Fall. Dies organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen, und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben darin, alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität. Das Werden zu dieser Totalität bildet ein Moment seines Prozesses, seiner Entwicklung.« [ 13 ] Daß hier keine Theoreme organizistischer Gesellschaftslehren vorweggenommen werden, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Eher wäre an den Hegelschen Geistbegriff zu erinnern, der den Sachverhalt, den Marx im Auge hat, wesentlich genauer trifft: daß es nur das Kapital selbst sein kann, das den Kapitalismus hervorbringt. Wenn Marx die wirklichen Verhältnisse im Kapital nur darstellt, soweit sie »ihrem Begriff entsprechen«, so ist damit zugleich ausgedrückt, daß der existierende Kapitalismus seinem Begriff nicht unmittelbar entsprechen muß, nicht »sich selbst adäquat« sein muß, aber die Form, in der er existiert, dennoch als Existenzweise begriffen |[134/135]werden muß, auf welche die Wertbewegung hintreibt; die gleichsam in ihr angelegt ist. »Im Begriff des Kapitals ist gesetzt, daß die objektiven Bedingungen der Arbeit – und diese sind ihr eigenes Produkt – ihr gegenüber Persönlichkeit annehmen, oder was dasselbe ist, daß sie als Eigentum einer dem Arbeiter fremden Persönlichkeit gesetzt sind.« [ 14 ] Verselbständigung der Arbeitsbedingungen gegenüber den Produzenten als Eigentümlichkeit des Kapitalismus ist aber nicht zu denken ohne die Existenz des modernen bürgerlichen Grundeigentums. Beides, freie Lohnarbeit und bürgerliches Grundeigentum, sind zwei Seiten einer Sache; beides muß selber noch als vom Kapital produziert begriffen werden: »Innerhalb des Systems der bürgerlichen Gesellschaft … folgt auf den Wert unmittelbar das Kapital. In der Geschichte gehen andre Systeme vor, die die materielle Grundlage der unvollkommenen Wertentwicklung bilden. Wie der Tauschwert hier nur nebenherspielt neben dem Gebrauchswert, erscheint nicht das Kapital, sondern das Grundeigentumsverhältnis als seine reale Basis. Das moderne Grundeigentum kann dagegen gar nicht begriffen werden, weil es nicht existieren kann, ohne die Voraussetzung des Kapitals, und es erscheint historisch in der Tat als eine durch das Kapital bewirkte, sich adäquat gesetzte Form der vorhergehenden historischen Gestalt des Grundeigentums. Es ist gerade in der Entwicklung des Grundeigentums, worin daher der allmähliche Sieg und Herausbildung des Kapitals studiert werden kann … Die Geschichte des Grundeigentums, die die allmähliche Verwandlung des feudalen Landlords in den Grundrentner, des erbsässigen halbtributären und oft unfreien Leibpächters in den modernen Farmer, und der dem Grunde angehörigen angesessenen Leibeignen und Fronbauern in Ackerbautagelöhner nachwiese, wäre in der Tat die Geschichte der Bildung des modernen Kapitals …« [ 15 ] An einer anderen Stelle heißt es: »Historisch ist der Übergang unstreitig. Er liegt schon darin, daß das Grundeigentum Produkt des Kapitals ist. Wir finden daher überall, daß da, wo durch Reaktion des Kapitals auf die älteren Formen des Grundeigentums das letztere sich in Geldrente verwandelt (dasselbe findet in anderer Weise statt, wo der moderne Bauer geschaffen wird) und daher gleichzeitig die Agrikultur als durch das Kapital betrieben sich in industrielle Agronomie verwandelt, notwendig aus den cottiers, Leibeignen, Fronbauern, Erbpächtern, Häuslern, etc. Taglöhner werden, Lohnarbeiter, also die Lohnarbeit in ihrer Totalität erst geschaffen wird durch die Aktion |[135/136]des Kapitals auf das Grundeigentum und dann, sobald dies einmal als Form herausgearbeitet ist, durch den Grundeigentümer selbst. Dieser selbst clears dann, wie Steuart sagt, das Land von seinen überflüssigen Mäulern, reißt die Kinder der Erde los von der Brust, worauf sie gewachsen, und verwandelt so selbst die Erdarbeit, die ihrer Natur nach als unmittelbare Subsistenzquelle erscheint, in vermittelte Subsistenzquelle, von gesellschaftlichen Beziehungen rein abhängige.« [ 16 ] Die Darstellung der Kategorien in der Reihenfolge, die bestimmt ist »durch die Beziehung, die sie in der modernen bürgerlichen Gesellschaft aufeinander haben, und die genau die umgekehrte von dem ist, was als ihre naturgemäße erscheint, oder der Reihe der historischen Entwicklung entspricht«, ist daher in dieser Form zugleich als abstrakte Darstellungsform jenes Prozesses zu begreifen, der historisch zum Kapitalismus führt. Es ist – wenn man so will – der Konstitutionsprozeß des bürgerlichen Subjekts in seiner abstraktesten Gestalt. »Wir wohnen seinem Entstehungsprozeß bei. Dieser dialektische Entstehungsprozeß ist nur der ideale Ausdruck der wirklichen Bewegung, worin das Kapital wird. Die späteren Beziehungen sind als Entwicklung aus diesem Keim heraus zu betrachten.« [ 17 ] Aus diesem Grunde müssen wir den oben zitierten Gedanken, daß innerhalb des bürgerlichen Systems auf den Wert unmittelbar das industrielle Kapital folge, etwas präzisieren. Eine genaue Betrachtung dieses Übergangs zeigt, daß Schatzbildung, Handels-, Zins- und Wucherkapital eine wesentliche Position in der dialektischen Konstruktion dieses Übergangs einnehmen, aber insbesondere die letzteren nur kurz gestreift werden und die ausführliche Behandlung erst sehr viel später erfolgt. Darin reflektiert sich, daß die dialektische Darstellungsform der Kategorien zugleich die angemessene Darstellungsform jener Bewegung ist, die den Kapitalismus historisch hervorbringt. Bei unserem Versuch, die dialektische Entfaltung der Kategorien nachzuvollziehen, müssen wir diesen Zusammenhang im Auge behalten.

Anmerkungen

1Theorien, Teil 2, S. 155 f.

2A. a. O., S. 158

3Theorien, Teil 3, S. 372 f.

4Grundrisse, S. 907

5Grundrisse, S. 920

6A. a. O., S. 922 f.

7Das Kapital, Bd. 1, S. 19

8A. a. O., S. 183

9Grundrisse, S. 945

10Friedrich Engels, »Karl Marx – Zur Kritik der politischen Ökonomie«, veröffentlicht in: »Das Volk«, Nr. 16, vom 20. August 1859, zitiert in: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1963, S. 209

11Karl Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Grundrisse, S. 28

12Grundrisse, S. 364 f.

13Grundrisse, S. 189

14A. a. O., S. 412

15A. a. O., S. 163 f.

16A. a. O., S. 187

17A. a. O., S. 217

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