Tanja Walloschke – Eugen Paschukanis, Eine biographische Notiz

Eugen Paschukanis – Eine biographische Notiz

Tanja Walloschke

Eugen Paschukanis (1891–1936?) war im Sowjetrußland der zwanziger und der ersten Hälfte der dreißiger Jahre der exponierteste und einflußreichste Theoretiker der sich auf Marx berufenden sowjetischen Rechtswissenschaft. Die ausgehend von der Marxschen Analyse der Waren- und Subjektform entwickelte Rechtsformkritik seines Hauptwerkes Allgemeine Rechtslehre und Marxismus war in einem radikaleren Sinne materialistisch als die populär gewordene, von Friedrich Engels und Lenin vorgenommene inhaltliche Bestimmung und Kritik des Rechts als Instrument der herrschenden Klasse. Seinen an die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie anknüpfenden Beitrag zu der Frage, wie es um den Charakter und das Schicksal des Staates und des Rechts nach der Oktoberrevolution bestellt sei, mußte Paschukanis auf dem Höhepunkt der Säuberung der KPdSU durch Stalin zwischen 1936 und 1938 mit dem Leben bezahlen.

Paschukanis verfaßte Teile der Allgemeinen Rechtslehre und Marxismus 1923 in Berlin, während er als Rechtsberater in der Vertretung der UdSSR tätig war. Eigentlich lautet die wortgetreue Übersetzung aus dem Russischen Allgemeine Theorie des Rechts und Marxismus – unter diesem Titel wurde das Werk 1924 in Moskau von der Kommunistischen Akademie der Gesellschaftswissenschaften erstmals herausgegeben. 1926 folgte die zweite, 1927 die dritte und 1929 die vierte Auflage. Noch in den dreißiger Jahren wurde Paschukanis’ Schrift an den Moskauer Universitäten als Lehrmittel herangezogen. Der Jurist Felix Halle, Justitiar der Kommunistischen Partei Deutschlands und Mitarbeiter der international agierenden Roten Hilfe, gab das Buch 1929 in deutscher Übersetzung von Edith Hajós, mit einem Vorwort von Paschukanis selbst und mit einem Anhang versehen, im Verlag für Literatur und Politik in Wien und Berlin heraus. Durch die Rezension des Sozialisten und Juristen Karl Korsch1 ist der Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe (so der Untertitel) unter deutschsprachigen Marxisten publik geworden. Aber auch die Rechtsphilosophen Hans Kelsen und Gustav Radbruch widmeten sich dem Werk in eigenen Aufsätzen2.

Der relativen intellektuellen Offenheit des Sowjetrußland der zwanziger Jahre, die in der englischsprachigen Literatur zu Paschukanis’ Leben und Werk auch als Epoche eines »genuin kreativen Marxismus« beschrieben werden und in deren Atmosphäre Allgemeine Rechtslehre und Marxismus entstand, wurde mit dem Sturz Nicolai Bucharins und dem Beginn des »Stalinismus« im Jahre 1929 ein jähes Ende gesetzt. Paschukanis konnte bis zuletzt seine führende Position in der sowjetischen Rechtswissenschaft behaupten, allerdings nicht ohne das Theorem vom Absterben des Staates in der Übergangsphase zur sozialistischen Gesellschaft und seine frühere Auffassung der begrifflichen Unmöglichkeit eines proletarischen respektive sozialistischen Rechts nach und nach zu widerrufen. Anfang 1937 lieferten Verleumdungen aus dem Umfeld Stalins, die ihn der »anti-marxistischen« und »anti-leninistischen« Verfälschung der sozialistischen Staats- und Rechtstheorie bezichtigten, den Vorwand für seine Verhaftung. Hinter dieser stand wohl der Hauptankläger der Moskauer Schauprozesse, Andreij W. Wyschinski. Vielleicht wurde ihm noch ein geheimer Prozeß gemacht – eine Anklage oder ein Prozeßprotokoll wurden jedoch auch in der poststalinistischen UdSSR niemals veröffentlicht. Unbekannt ist auch, wie lange er in Haft gewesen ist, bevor er mutmaßlich vom NKWD erschossen wurde. Aufschluß über seinen Tod könnte allein noch Material in den Archiven der ehemaligen Sowjetunion geben.

Paschukanis’ Name fand dort erst wieder nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956, der nach einer umfangreichen Stellungnahme Nikita Chruschtschows zur Säuberung der Partei durch Stalin die Entstalinisierung einleitete, im Rahmen einer juristischen Rehabilitation Erwähnung. 1968 wurde Paschukanis eine Gedenkveranstaltung gewidmet, die jedoch kaum seinen rechtstheoretischen Thesen galt als vielmehr allgemein seiner Person als sowjetischer Rechtsgelehrter. Erst 1980 erfolgte eine Neuveröffentlichung von Teilen seines Gesamtwerkes in Moskau unter dem Titel Ausgewählte Werke zur Rechts- und Staatstheorie.

Im November 1936 verabschiedete der Allunions-Sowjetkongreß die bis in die siebziger Jahre hinein gültige »Stalinverfassung«. Kurz danach, im Januar 1937, setzte die Hetzkampagne gegen Paschukanis mit einem in der Prawda veröffentlichten Artikel ein, der ihn als »Volksfeind« brandmarkte. Es wurde verboten, fortan aus seinem Werk zu zitieren. Allgemeine Rechtslehre und Marxismus erlangte in der Sowjetunion nie wieder Popularität. Das schmale Bändchen mit revolutionärem Inhalt wurde 1937 aus den Annalen der sowjetischen Rechtswissenschaft getilgt und die an der Parallelität von Warenform und Rechtsform orientierte Rechtskritik starb mit seinem prominentesten Verfechter ab. Erklärbar ist dies allein aus der fundamentalen Veränderung des historisch-politischen Rahmens ihrer Thesen, die aus den frühen Jahren nach der Revolution stammen und im »Volksstaat Sowjetunion« (Paschukanis 1936) obsolet wurden. Dieser Rahmen kann in der Darstellung des intellektuellen wie politischen Wirkens Paschukanis’ nur skizziert und muß im Übrigen einschlägigen Monographien entnommen werden.

Der am 23. Februar 1891 geborene Eugen – eigentlich Jewgenij Bronislawowitsch – Paschukanis verdankte seinem familiären Umfeld eine frühe politische Sozialisation: seine Mutter war seit 1903 Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands, sein Petersburger Onkel ein bekannter Bolschewik. 1906 zog die Familie nach Petersburg, wo Paschukanis ein »politisches« Gymnasium besuchte: hierher wurden Schüler relegiert, die in den zaristischen Bildungseinrichtungen unangenehm aufgefallen waren. Bereits ein Jahr später, mit sechzehn, führte sein revolutionäres Engagement in den Zirkeln der sozialdemokratischen Studenten und Jungarbeiter zu seinem ersten politischen Amt, einer Funktion im Petersburger Zentralkomitee. 1908 trat auch er der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei. 1909, dem Jahr, in dem Paschukanis zum ersten Mal in das Blickfeld der zaristischen Polizei geriet, nahm er das Studium der Rechtswissenschaft an der Petersburger Universität auf. Im Frühjahr 1910 wurde er nach einer Verhaftung angewiesen, ins Exil zu gehen. Paschukanis reiste nach München aus und setzte sein Studium an der juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität fort. Dort eignete er sich Kenntnisse in zeitgenössischer Rechtsphilosophie sowie in politischer Ökonomie an. Das Thema seiner dort wahrscheinlich angefertigten Dissertation Statistik der Gesetzwidrigkeit im Arbeitsschutz läßt noch seine Nähe zur sozialdemokratischen Arbeiterbewegung erkennen. Während des ersten Weltkrieges lebte Paschukanis wieder in Petersburg. 1914 beteiligte er sich an der Vorbereitung einer Deklaration der bolschewistischen Fraktion in der Reichsduma, die den Krieg Rußlands als imperialistisch verurteilte. Die Oktoberrevolution radikalisierte auch Paschukanis, der sich fortan als Kommunist verstand. Eine Zeit lang war er als Richter an den von den Bolschewiki zur Streitschlichtung eingesetzten Volksgerichten tätig. Diese entstanden insbesondere in Moskau per administrativem Dekret und lösten die nach der Februarrevolution von der »Provisorischen Regierung« eingesetzten Friedensgerichte ab. In seiner Funktion als Mitglied des Moskauer Sowjets für Volksrichter stritt Paschukanis für die Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit von den lokalen Sowjets und deren politischen und administrativen Direktiven.

Mit dem Eintritt in die Kommunistische Partei Rußlands 1918 und dem Beginn der Parteiarbeit in Moskau begann nun auch für ihn die für die bolschewistischen Intellektuellen charakteristische Verquickung politischer Ämter, deren heute museal klingende Namen auf die zunehmende Bürokratisierung des Staatsapparates verweisen, und wissenschaftlicher Arbeit. Die herausragendste akademische Institution, an der Paschukanis wirkte, war die mit seinem juristischen Mentor und langjährigen Kollegen Peteris Iwanowitsch Stutschka 1922 gegründete Sektion für Allgemeine Theorie des Staates und des Rechts innerhalb der Kommunistischen Akademie der Gesellschaftswissenschaften. Diese war zunächst als »sozialistische Akademie« nach der bolschewistischen Machtübernahme ins Leben gerufen worden und strebte nach der Vereinheitlichung und Zentralisierung der Natur- und Geisteswissenschaften im Zeichen des Marxismus-Leninismus. Die Sektion wurde zum Sammelpunkt der wichtigsten marxistischen Theoretiker auf dem Gebiet der Jurisprudenz. Ein Vortrag vor der Akademie war wohl die Grundlage der Allgemeinen Theorie des Rechts und Marxismus. Darin verfolgt Paschukanis die von Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms von 1875 skizzierte, von Lenin 1917 in Staat und Revolution aufgenommene und von den sowjetischen Rechtstheoretikern der zwanziger Jahre fortgeschriebene These vom Absterben des Staates und des Rechts, geht jedoch in der Begründung über den traditionellen Marxismus hinaus. Für Paschukanis kann es schon begrifflich kein sozialistisches oder proletarisches Recht geben, da dieses von ihm als Produkt der Waren- und Geldzirkulation angesehen wird. Als solches muß es absterben, wenn die Waren- und Geldzirkulation durch die Planwirtschaft ersetzt wird. Ebenso wird auch der Staat als Garant des freien und gleichen Tausches, durch den hindurch die Akkumulation des Kapitals sich vollzieht, überflüssig, sobald Tausch und Kapital gesellschaftlich außer Kraft gesetzt sind. Paschukanis hegte jedoch die Illusion, daß die Verbindung der verstaatlichten Produktionseinheiten eine vernünftige, nämlich nicht waren- und rechtsförmige Gestalt annehmen könnte. Als der erste Fünfjahresplan die Neue Ökonomische Politik (NEP) ablöste, die nach dem »Kriegskommunismus« marktwirtschaftliche Elemente und die Anwendung des bürgerlichen Rechts für die sozialistische Übergangsphase wieder zugelassen hatte (und als deren »linker« Kritiker Paschukanis galt), erwartete er ein Verschwinden der rechtlichen Elemente aus den gesellschaftlichen Beziehungen. Er glaubte, das Wort »Recht« könne aus dem Namen des Institutes für Sowjetaufbau und Recht, dem er vorstand, gestrichen werden. Unter seinem Einfluß wurden Vorlesungen in bürgerlichem Recht durch Vorlesungen in »ökonomisch-administrativer Politik und Recht« ersetzt: Die Wissenschaft vom Recht schien historisch an ihr Ende gekommen zu sein.

Doch die politische Praxis der stalinisierten Partei scherte sich nicht um die theoretische Antizipation der Folgen der Revolution und potenzierte die Macht des Staates. Die mit Industrialisierung und Massenkollektivierung brachial herbeigeführten sozialen Veränderungen erforderten eine viel totalitärere gesellschaftliche Kontrolle, als dies noch während der Jahre der NEP der Fall gewesen war. Die von der Parteimaschinerie entwickelten propagandistischen Dogmen intervenierten in das Feld der Philosophie, der Kunst, der Literatur und vor allem der Parteigeschichtsschreibung. Auch die Rechts- und Staatswissenschaften wurden auf Linie gebracht. Bereits 1930 wandelte Stalin mit dem ihm eigenen Verständnis von Dialektik die orthodoxe Formel vom Absterben des Staates dahingehend ab, daß sich der Staat zunächst zur Totalität entwickeln müsse, um die Bedingungen seines Absterbens vorzubereiten. Das nunmehr im Gegensatz zum bürgerlichen als »Sowjetrecht« bezeichnete Recht hatte unter diesen Umständen zum einen die legitimatorische Funktion, die Veränderungen des rechtlichen Überbaus der sowjetischen Gesellschaft nachzuvollziehen. Zum anderen kam ihm mit seiner neuen Kommandofunktion eine politisch-strategische Bedeutung zu, denn Stalin brauchte Handlungsanweisungen, die bedingungslos befolgt werden konnten und mußten. Quelle des nun wieder normativ und nicht als Ausdruck eines gesellschaftlichen Verhältnisses verstandenen Sowjetrechts war die Diktatur des Proletariats alias Partei, sein Inhalt der rohe Staatswille. Auch Paschukanis paßt sich dem neuen Dogma an. In mehreren Etappen, die mit den Jahreszahlen 1929, 1930, 1931 und 1936 benannt werden können, vollzieht er seine »stalinistische Wende«, die ihm in der Literatur ironischerweise den Ruf einträgt, das stalinistische Rechtsverständnis formuliert und sich um den Aufbau des Sowjetstaates verdient gemacht zu haben. Allerdings bezieht sich seine Kurskorrektur zunächst auf vermeintliche Defizite seiner Rechtstheorie, die nach seinen Worten doch nur eine Bestimmung des bürgerlichen Privatrechts, nicht aber des Rechtes im Allgemeinen geliefert habe. 1931 beruft sich Paschukanis positiv auf die Kategorie des Sowjetrechts. Die Theorie vom Absterben des Staates nimmt er zurück – jedoch nicht in ganzer Konsequenz und durchaus ambivalent. Dem Ewigkeitscharakter eines marxistischen Rechts widerspricht er, indem er auf der dialektischen Beweglichkeit des Sowjetrechts besteht, das nicht zu einem abstrakten System zusammenwachsen könne. Auch distanziert er sich nicht von seiner Auffassung, daß sich die Revolution politisch, nicht rechtlich legitimiere, und daß die Politik gegenüber dem Recht im sowjetischen Staat den Primat einnehme. Frei nach Antonio Negri formuliert bedeutet dies: Recht und proletarische Revolution verhalten sich antithetisch und der Übergang von der alten in die neue Gesellschaft kann einzig und allein ein Weg des Kampfes sein. Einen alternativen Gebrauch des Rechts, der diese Kämpfe ersetzen könnte, gibt es nicht.

Eine rückhaltlose Apologie erfuhr das Sowjetrecht jedoch durch die Verfassung von 1936, die Recht und Staat implizit auf eine dauerhafte Grundlage stellte, die aber auch verkündete, daß der Sozialismus erreicht und der Klassenantagonismus abgeschafft sei. Die nunmehr von Andreij W. Wyschinski, eben jenem Ankläger der Schauprozesse, auf die Verfassung und die politischen Bedürfnisse neu zugeschneiderte »Rechtstheorie« verstand unter Sowjetrecht den »Willensausdruck des ganzen Volkes«. Unter diesen Umständen paßte Paschukanis, dessen Widerruf der These vom Absterben des Staates nicht mehr theoretisch ausgearbeitet wurde, sondern vielmehr eine für jene Zeit typische Treuebekundung darstellt, nicht mehr in das Konzept der Partei.

Paschukanis’ Wende ist deshalb unter wissenschaftlichem Aspekt uninteressant und indiskutabel. Der Behauptung, daß kategoriale Schwächen, nämlich die etikettenhafte Gegenüberstellung von Recht und technischer Regel ohne Reflexion auf deren autoritären Regelungscharakter in Paschukanis’ »Frühwerk« ein Einschwenken auf die Linie eines proletarischen Klassenrechts ohne weiteres möglich gemacht haben, ist zu Recht entgegengehalten worden, daß das integrierende Zentrum der letzten Aufsätze nicht das »Ich« des reflektierenden Kritikers Paschukanis ist, sondern außerhalb und jenseits seiner Person gesucht werden muß. In den Moskauer Prozessen von 1936–1938 kulminierte die nach dem Mord an Kirow 1934 zunächst diskret in den Rängen der Partei einsetzende physische Vernichtung der alten bolschewistischen Führungselite. Besondere Brisanz nahm für Stalin das Problem des Absterbens des Staates nach 1934 an. Nachdem die »Kulaken« – ein Kampfbegriff der Partei für reiche Bauern – umgebracht waren, gab es im Prinzip keine dem Proletariat gegenüber antagonistische Klasse mehr und deshalb eigentlich auch keine dogmatische Rechtfertigung für die Fortexistenz des Staates, der nach herrschendem Verständnis die gewaltsame Geltendmachung des Antagonismus zwischen ausbeutender und ausgebeuteter Klasse verhindern sollte. Warum sollte also das siegreiche Proletariat über repressive Institutionen verfügen, etwa, um sich selbst zu regieren?

Der Widerruf seiner ursprünglichen Thesen machte es Paschukanis zunächst möglich, weiterhin wichtige akademische und politische Ämter zu bekleiden. Seit 1927 war er Vizepräsident der Kommunist ischen Akademie, 1931 wurde er Direktor des dort angesiedelten, renommierten Institutes für Sowjetaufbau und Recht. 1936 erfolgte die Ernennung zum Stellvertreter des Kommissars der Justiz der UdSSR. Diese Tatsachen lassen vermuten, daß es für die heftigen Attacken gegen Paschukanis noch weitere Gründe gab als nur den rechtsdogmatischen Dissens über das Schicksal von Recht und Staat in der Etappe der revolutionären Umgestaltung der kapitalistischen Ordnung in eine sozialistische, oder, politökonomisch ausgedrückt, nach dem Übergang von dem marktvermittelten Austausch der kapitalistisch produzierten Waren zu einer Wertrealisierung durch den staatlich gesteuerten Plan. Paschukanis hat einigen Quellen zufolge auch an der neuen sowjetischen Verfassung von 1936 mitgearbeitet. An diese Mitarbeit knüpft sich eine Hypothese über das auslösende Ereignis seiner Verhaftung und seines Todes. Nach Leonard Schapiro könnte Paschukanis’ Schicksal durch einen von ihm stammenden, nicht veröffentlichten Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch, das laut Verfassung die alten strafrechtlichen Vorschriften von 1922 ablösen sollte, besiegelt worden sein. Dieser unter den Juristen des Institutes für Sowjetaufbau Recht einflußreiche Entwurf soll die Abschaffung der Todesstrafe vorgesehen haben. Angesichts der Praxis der geheimen politischen Prozesse, deren Urteile sofort durch Erschießen vollstreckt wurden, sowie der Forcierung des Terrors durch den ersten der drei großen Schauprozesse im August 1936 gegen Sinowjew, Kamenew, Evdokimow und Smirnow, die alle zum Tode verurteilt wurden, muß diesem Faktum entweder der Status eines Gerüchtes zugewiesen oder als couragierter, jedoch aussichtsloser Versuch bewertet werden, den Terror in Schranken zu weisen. Dann widerspiegelte er vielleicht den subjektiven Realitätsverlust, der in den letzten veröffentlichten Äußerungen Paschukanis’ 1936 zumindest objektiv sich ausdrückt und mit der das Opfer seinen Henker preist: »Die ersten Äußerungen der Werktätigen der Sowjetunion sind vom Gefühl des Stolzes und des Sowjetpatriotismus erfüllt. Und den ersten Platz unter den Äußerungen von Arbeitern, Kollektivwirtschaftern und Intellektuellen nehmen Bekundungen der heißen Liebe und der Dankbarkeit für jenen ein, der die Völker der Sowjetunion auf dem Wege des Sieges führte, der der Anreger und Schöpfer der neuen Sowjetverfassung ist, für den größten Mann unserer Epoche: Stalin.«

Die biographische Notiz beruht auf folgenden Quellen:

I.

Paschukanis, J., Die politische und wirtschaftliche Grundlage der Sowjetunion (1936), in: Kritische Justiz 1979, S. 411 – 415

II.

Beirne, Piers/Sharlet, Robert, Pashukanis and Socialist Legality, in: P. Beirne/R. Quinney (Hrsg.), Marxism and Law, New York 1982, S. 307 – 327

Blanke, Thomas, Rechtstheorie und Propaganda. Notizen zu Aufsätzen von E. Paschukanis aus der Stalin-Ära, in: Kritische Justiz 1979, S. 401 – 432

Harms, Andreas, Warenform und Rechtsform. Zur Theoriegeschichte und Interpretation von Eugen Paschukanis’ Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Baden-Baden, 2000

Hazard, John N., Settling Disputes in Soviet Society. The Formative Years of Legal Institutions, New York, 1978

Kamenka, Eugene/Erh-soon-Tay, Alice, The Life and Afterlife of a Bolshevik Jurist, in: Problems of Communism, 1970, S. 72 – 79.

Klenner, Hermann, Zur vorliegenden Ausgabe, in: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, hrsg. von H. Klenner und L. Mamut, Freiburg 1991, S. 229 – 232

Mamut, Leonid S., Stutschka und Paschukanis – Stationen ihres Lebens und Schaffens, in: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, hrsg. von H. Klenner und L. Mamut, Freiburg 1991, S. 269 – 315

Negri, Antonio: Paschukanis lesen. Notizen anläßlich der erneuten Lektüre von Eugen Paschukanis’ Allgemeiner Rechtslehre und Marxismus, in: Kritik der Politik, Johannes Agnoli zum 75. Geburtstag, hrsg. von Joachim Bruhn, Manfred Dahlmann und Clemens Nachtmann, Freiburg i. Br. 2000, S. 201–258

Reich, Norbert, Marxistische Rechtstheorie zwischen Revolution und Stalinismus. Das Beispiel Paschukanis, in: Kritische Justiz 1972, S. 154 –162.

Schapiro, Leonard, The Communist Party of the Soviet Union, London, 1970

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