Kunstreich – Ein deutscher Krieg

Das revolutionäre Jetzt als Dauerzustand

Initiative Sozialistisches Forum

Wer gegen den Kosovo-Krieg war, sah sich dem rabiaten Vorwurf ausgesetzt, einem Völkermord tatenlos zusehen zu wollen oder gar zu leugnen, daß sich im Kosovo etwas abspielt, was diesen Namen verdient. Um dieser Gefahr zu entgehen, argumentierten Kriegsgegner vor allem mit den vorgeblichen Interessen der NATO, der USA und Europas, manchmal auch Deutschlands. Dann wurde ihnen vorgeworfen, ihnen seien die Opfer egal. Und sie antworteten damit, daß für die NATO schließlich das gleiche gelte. Kriegsbefürworter und Kriegsgegner sind allerdings auch quer zu ihrer Haltung zum Krieg gespalten. Für die einen war der Krieg ein Fiasko für die NATO (einige freuen sich darüber, andere weniger), für die anderen war er der Durchbruch einer neuen Weltordnung, die sich seit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus abgezeichnet hatte, mithin das endgültige Ende der Nachkriegszeit (und wieder freuen sich einige, andere sind entsetzt). Nur wenige fanden, daß die eine Option der anderen nicht widerspricht. So auch Robert Kurz, der dafür plädierte, “auf scharfe Distanz zu jeder Parteilichkeit zu gehen und die ganze Konstellation mit ihren falschen Alternativen zu verwerfen.” [ 1 ] Einig waren sich fast alle – auch Kurz – hingegen darin, daß es sich bei diesem Krieg nicht um einen deutschen Krieg handeln konnte, selbst wenn man (positiv wie negativ) in Rechnung stellte, daß der Legitimationsgewinn für des neuen Deutschlands von allen beteiligten Staaten am größten ist – jedenfalls im Verhältnis zum minimalen Risiko, daß die Bundesregierung eingehen konnte. Aber daß dieser Krieg ein deutscher Krieg war, von seinen Voraussetzungen bis zu seinem Ende, das darf und kann nicht sein, auch nicht für Kurz: “Weder zwingt ein übermächtiger US-Imperialismus etwa der BRD seine spezifischen Interessen auf, noch ziehen umgekehrt deutsche Außenminister den US-Koloß über den Tisch. Vielmehr ist es der dumpfe Drang, die ausufernde Krise des warenproduzierenden Weltsystems weltpolizeilich einzudämmen.” Nun widerlegt das Argument des Krisenvollzugs keineswegs das Argument, es gebe auch dessen Vollstrecker. Außer bei Kurz, wo “der dumpfe Drang” zum Subjekt avanciert. Wo jedoch strukturelle Determinanten selbsttätig agieren, trägt auch die Analyse alle Züge einer Zwanghaftigkeit, die nur dann wahr wäre, wenn es keine Kritik an ihr mehr geben würde. Die in Teilen der radikalen Linken offenbar ernsthaft geführte Diskussion über die Rolle der USA und das Verhältnis Deutschland – Europa ist selbstverständlich absurd. Nicht weniger absurd ist es jedoch, sich auf eine Kritik der “Ökonomie der Ausgrenzung” zu beschränken, in denen die Charaktermasken der Politik zu unfreiwilligen Vollstreckern des Kapitalverhältnisses werden. Denn letztlich gibt es immer noch die Entscheidung zwischen mehr oder weniger grausamen Konsequenzen aus Sachzwängen, die nichtsdestotrotz selbst ideologisch sind und sich nicht unmittelbar aus dem aktuellen Zustand der Wertvergesellschaftung ergeben. So sehr Kurz mit seiner allgemeinen Analyse der globalen “Überlebenskonkurrenz” richtig liegen mag – in dieser Allgemeinheit erledigt sie jedoch die mörderische ideologische Komponente des Krieges, indem sie aus der Irrationalität des Vollzuges das Ende des Nationalen ableitet: “Die national zentrierten territorialen Imperien und ›Einflußzonen‹ haben ausgedient.” Es gibt folglich nur noch ein Problem: “Der westliche Kapitalismus weigert sich natürlich auf ganzer Linie, das globale Scheitern seines Gesellschaftssystems einzugestehen.” Man stelle sich vor, wie Clinton, Schröder, Blair usw. auf dem Kölner G8-Gipfel ihr Scheitern eingestehen: “Sorry, folks, es hat nicht sollen sein.” Objektiv mag der westliche Kapitalismus gescheitert sein, nur einsehen wollen es offenbar nur wenige. Deren politische Macht jedoch kommt nach wie vor aus den Gewehrläufen. So sehr Kurz gegen jene Kriegsbefürworter zuzustimmen ist, die im Krieg gegen Jugoslawien eine Schlacht der Aufklärung gegen die Barbarei sehen wollen, so wenig reicht seine Analyse aus, um die – selbstverständlich nicht auf den Balkan beschränkte – Wiederkehr völkischer Mordlust zu erklären; schließlich kann sie nicht einmal als bloße Widerspiegelung der kapitalistischen Krisenlogik gelten. Deswegen lohnt es, einen genaueren Blick auf diesen Krieg als einen deutschen zu werfen.

Schon die Rechtfertigung des Krieges, er wäre geführt worden, um einen Völkermord zu verhindern oder zu beenden, ist ein erster Hinweis auf Deutschland: Nur in einem moralischen Krieg konnte es Deutschland gelingen, militärisch wieder auf den Plan zu treten. Das heißt aber auch: So einfach kann man sich der Frage, ob es sich bei dem Geschehen im Kosovo um einen Völkermord handelte oder nicht, nicht entziehen, genauer: der Frage, warum ein Bürgerkrieg, der schon immer die grausamste Form des Krieges ist, nun Völkermord heißen sollte. Der Bürgerkrieg schien entschieden, als die NATO-Angriffe begannen: die UCK hatte verloren, und die jugoslawische Armee machte sich daran, die letzten Stützpunkte der Separatisten auszuheben. Daß das Vorgehen von jugoslawischer Armee und serbischen Milizen sich nicht von dem anderer Gewalthaufen unterschieden haben wird, die in einem nationalistischen Konflikt zum Einsatz kommen, darf angenommen werden. Die NATO ist aber nun nicht angetreten, um einen grausamen Bürgerkrieg zu beenden – das hätte ein Mindestmaß an Neutralität und Vermittlungsbemühung vorausgesetzt, wie dies beim Dayton-Vertrag über Bosnien-Herzegowina noch (auf Druck der USA gegen Deutschland, das schon damals lieber Krieg wollte) der Fall war -, sondern einen “Völkermord”. Ein zweites Dayton aber konnte es nicht geben, weil Deutschland dieses Mal Krieg führen wollte. Und deswegen mußte der Vergleich zu Auschwitz her, darunter hätte es keine Zustimmung für eine deutsche Beteiligung gegeben. Erstaunlich ist in der Tat, daß die Völkermordrhetorik geglaubt wurde – nicht obwohl, sondern weil es keine Beweise gab. Nicht einmal im Nachhinein langten die gefundenen Massengräber zu einem Vergleich mit dem Krieg in Bosnien aus. Als Kriegsminister Rudolf Scharping am 30. April 1999 eingestehen mußte, daß die von ihm vorgelegten “Beweise” für ein serbisches Massaker an kosovo-albanischen Zivilisten in Rogova, Ende Januar 1999, schon wenige Tage danach von Reuters veröffentlicht worden waren und keineswegs Zivilisten, sondern UCK-Kombattanten zeigten (weshalb diese Bilder damals auch verschwanden), berief er sich erneut auf Bilder und Zeugenaussagen, die nur ihm zugänglich seien, und legte dem dann doch leicht düpierten Journalisten nahe, daß die Infamie der Mörder doch gerade darin bestünde, keine Beweise für ihr Tun zu hinterlassen [ 2 ]. Daß es nun ein Massengrab für die Opfer eines Massakers geben soll, das eingestandenermaßen so nicht stattgefunden hat, bestätigt es: Der wohlfeile Satz “Die Wahrheit stirbt zuerst” war die beste Propagandalüge dieses Krieges. Deswegen wird er ein ums andere Mal von Leuten wiederholt, die Wahrheit sowieso für unwahr halten, weil es für sie, um mit Nietzsche zu sprechen, keine Fakten, sondern nur Interpretationen gibt. Die vorgeblich kritische Distanz zum Geschehen, die sich in diesem Satz ausdrückt, ist nichts anderes als genau das Maß an Abgebrühtheit, die man braucht, um ununterbrochen über Konzentrationslager, Deportationen, Völkermord reden zu können, ohne befürchten zu müssen wegen der mehr als dürftigen Beweislage zur Rechenschaft gezogen zu werden. Aber genau darum geht es: Es braucht keine Beweise mehr, wenn von Auschwitz die Rede ist. Wer Beweise fordert, steht im Verdacht, Auschwitz leugnen zu wollen. Und weil Auschwitz heute in Serbien liege, leugneten alle, die das bezweifeln, auch Auschwitz. Der Grund dieser totalen Verkehrung liegt in der gerade in der deutschen Achtundsechziger Linken so beliebten Kritik an den Westalliierten: Anstatt Auschwitz zu bombardieren, hätten sie mit dem Bombenterror auf deutsche Städte viele Unschuldige getötet. [ 3 ] Die Unterstellung ist, daß die Alliierten den Krieg nicht wegen Auschwitz führten, sondern weil sie eigene Interessen durchsetzen wollten, wie es dann in der BRD und der DDR der Fall gewesen sei. Im allgemeinen folgte dieser Darstellung eine antiamerikanische Tirade gegen die Reeducation und gegen Hollywood, verbunden mit Hinweisen auf den Völkermord an den Indianern und dem Satz “Jedes Land hat seinen Holocaust”. So wurde “Holocaust” zu einem beliebigen dunklen Fleck der nationalen Geschichtsschreibung. Aber es geht noch weiter: Wären die Alliierten früher gegen Deutschland vorgegangen, hätten sie doch wahrscheinlich vor einer ähnlichen Situation gestanden wie die NATO heute im Kosovo. Sie hätten nicht genau wissen können, ob es sich um einen Völkermord handelte und gleichwohl deswegen präventiv gehandelt. Dieser Vergleich braucht keine Begründung mehr: hier handeln Moralisten. Sie führen Krieg nicht aus niederen materiellen Beweggründen, sondern für die Menschenrechte, gegen jedes potentielles Auschwitz. Man will nie wieder “Nie wieder” sagen müssen.

“Die serbischen Schreckenstaten unterscheiden sich von denen der Nazis grundlegend nur durch die geringeren Dimensionen … Die Serben beabsichtigen nicht die totale Vernichtung eines ganzen Volkes, wie die Nazis es bei den Juden versucht haben. Aber auch die Serben verfolgen ein eliminatorisches Projekt, um ganze Landstriche zu ›säubern‹.” Da gibt es nur eine Konsequenz: “Wie bei Deutschland und Japan ist auch hier die militärische Niederwerfung, Besetzung und Neugestaltung der politischen Institutionen eine moralische und praktische Notwendigkeit.” [ 4 ] Als Daniel J. Goldhagen, der Autor dieser Zeilen, in seinem Buch “Hitlers willige Vollstrecker” die BRD ob ihrer demokratischen Errungenschaften lobte, konnte man dieses befremdliche Lob noch damit erklären, daß er den Unterschied zwischen der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft und der deutschen Nachkriegsgesellschaft herausstellen wollte. Als er jedoch nach seiner Studie über “die ganz normalen Deutschen und den Holocaust” eine “vergleichende Studie über Völkermorde im zwanzigsten Jahrhundert” ankündigte, wurde klar, daß es ihm bei all seiner Beschäftigung mit Völkermord um nichts anderes die Affirmation der bürgerlichen Demokratie geht – was angesichts dessen, daß sie als einziges Form der politischen Souveränität übrig geblieben ist, kein besonders gelungenes Kunststück ist. Folglich gibt es für ihn schon beim leisesten Anzeichen für Völkermord keine Alternative zum sofortigen Handeln: “Die Kosten der Untätigkeit in einer Welt, in der mörderische Potentaten ihre haßerfüllten Völker in genozidale Angriffskriege führen, sind so hoch, daß selbst jene, die skeptisch gegenüber dem Einsatz der NATO sind, sehen müssen, daß es keine andere moralische Option als das endgültige militärische Niederwerfen der Völkermörder unserer Tage gibt.” So sah es auch Habermas. Er tat, wozu Schröder, Scharping, Fischer auch unter Aufbietung all ihrer geistigen Kapazität nicht in der Lage wären, und lieferte die theoretische Begründung des Krieges nach. Die hervorstechendste Qualität seines in Anlehnung an Carl Schmitt mit “Bestialität und Humanität” [ 5 ] überschriebenen Textes ist, daß er die neue Weltsicht der Berliner Republik mit schonungsloser Offenheit darlegt: Am 24. März 1999 begann der permanente Krieg zur Durchsetzung der Menschenrechte, und Deutschland ist endlich Teil der Koalition gegen die “Hitlers” der Peripherie geworden. Habermas läßt in seiner nicht nur sprachlich vollendet ideologisierten Apologie des Krieges jedes Reflexionskriterium selbst der positivistischen Wissenschaft zur Makulatur werden; die Distanz zum Politischen, Voraussetzung jeder Kritik, fehlt ebenso wie Unterscheidung zwischen Fakten und Propaganda. Die Bedingungen des Abkommens von Rambouillet, die nicht unterschreiben konnte, weil sie das Ende Jugloslawiens bedeutet hätten, gehorchen für Habermas “denselben makellosen (!) Prinzipien, nach denen das Dayton-Abkommen für ein liberal verfaßtes multiethnisches Bosnien konstruiert worden ist.” Habermas wilde Halluzination belegt, daß dieser Krieg alle die Lügen strafte, die glauben, die kapitalistischen Staaten könnte auch ohne Krieg, nur mit dem Mittel der ökonomischen Durchdringung ihre Interessen durchsetzen. Dieser Krieg war nicht irgendein Dutzendkrieg, sondern nur die Fortsetzung der allgemeinen Krise, der die formierten Gesellschaften des Westens nur mehr militärisch begegnen können. Das eigentümliche Neusprech von Habermas erinnert zwar an kriegsgeile Verteidigungsminister und NATO-Sprecher während des täglichen Briefings, er verschleiert aber nicht die Tatsachen, sondern enthüllt sie. Darüber hinaus gelang es sowohl Habermas als auch Goldhagen, die vorherrschenden Argumente gegen den Krieg auf ihren Begriff zu bringen, indem sie diese zu seiner Legitimation benutzen. Staatliche Souveränität? “Es ist ja nicht so, als ob in der postnationalen Konstellation kraftstrotzende Nationalstaaten von Regeln der Völkergemeinschaft gegängelt würden. Vielmehr ist es die Erosion der staatlichen Autorität, sind es Bürgerkriege und ethnische Konflikte innerhalb zerfallender oder autoritär zusammengehaltener Staaten, die Interventionen auf den Plan rufen …”, meint Habermas – “Jedes Volk, das einen Unterwerfungskrieg führt, das Massenmord begeht und unbewaffnete Männer, Frauen und Kinder attackiert, hat das Recht auf Schutz verwirkt, den die Normen und Konventionen der Souveränität normalerweise garantieren”, antwortet Goldhagen. Die Begründung des Krieges mit dem Menschenrecht verschleiere partikulare Interessen? Weder “das den USA zugeschriebene Motiv der Sicherung und Erweiterung von Einflußsphären noch das der NATO zugeschriebene Motiv der Rollenfindung, nicht einmal das der ›Festung Europa‹ zugeschriebene Motiv der vorbeugenden Abwehr von Einwanderungswellen erklären den Entschluß zu einem so schwerwiegenden, riskanten und kostspieligen Eingriff”, so Habermas, dem zur Begründung des Krieges mit Auschwitz folgendes einfällt: “Die Gründung und die Menschenrechtserklärung der UNO sowie die Strafandrohung für Angriffskriege und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – mit der Konsequenz einer wenigstens halbherzigen Einschränkung des Prinzips der Nichtintervention -, dies waren notwendige und richtige Antworten auf die moralisch signifikanten Erfahrungen des Jahrhunderts, auf die totalitäre Entfesselung der Politik und auf den Holocaust.” Wenn Habermas’ Text wenigstens bewirkt hätte, daß linke Kriegsgegner einem nicht mehr mit den vorgeblichen ökonomische Interessen, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker oder den Menschenrechten kommen – einiges wäre gewonnen gewesen. Zur Abgrenzung dient Habermas Carl Schmitt: “Wer Menschheit sagt, will betrügen”, zitiert Habermas den Juristen des deutschen Faschismus und entwickelt dagegen den Begriff der “Weltbürgergesellschaft”, in der die nationale Souveränität der Staaten zugunsten der Menschen- und Bürgerrechte eingeschränkt wird. Das Außerkraftsetzen des Völkerrechts ist für ihn der Anfang einer “Transformation des Völkerrechts in ein Recht der Weltbürger”; der Aufhebung der staatlichen Souveränität liegt die “Idee einer menschenrechtlichen Domestizierung des Naturzustandes zwischen den Staaten” zugrunde, Kriegführung heißt jetzt “Rechtspazifismus”. Habermas kennt keine Parteien mehr, sondern nur noch “Weltbürger”. (Robert Kurz beschreibt die gleiche Entwicklung nur negativ, indem er den “Weltbürger” als Charaktermaske der “individualisierten Totalkonkurrenz” begreift.) Indem er nichts anderes tut, als dem Vollzug der Verw ertung zuzustimmen, degradiert er sich zu ihrem Agenten. Seine Forderung nach Abschaffung des Völkerrechts zugunsten von Menschenrechten, nach Demokratisierung und Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, ist demnach auch nur die Zustimmung zur Erledigung der staatlichen Souveränität als des letzten Hemmschuhs für den “freien und gleichen Tausch unter Unfreien und Ungleichen” [ 6 ]. Staatliche Souveränität erscheint den Vollstreckern des Kapitalverhältnisses stets dann unbotmäßig, wenn sie den direkten Zugriff des Weltmarkts auf die Subjekte auch nur ein bißchen einschränkt. In diesem Sinne kann man auch gegen das neue Auschwitz sein, oder, wie Goldhagen es ausdrückt, “all die toten Zivilisten (sind) – ob wir es nun Genozid nennen oder nicht – genauso tot … wie die ermordeten Juden, Polen, Russen, Schwulen zu Hitlers Zeiten.” Eigentlich ist scheißegal ob es sich um Genozid handelt – und gemahnte dies nicht allein schon an die Infamie der Revisionisten, vervollständigt die beliebige Aufzählung der Opfer den Eindruck, daß auch ihm die Opfer und ihr Leid vollkommen egal sind. Schließlich geht es ihm um “universelle Moral”. Die formale Gleichheit des Menschenrechts ist die Grundlage für die reale Ungleichheit der Subjekte. Daß die Mehrheit der solchermaßen für den Weltmarkt Befreiten keinerlei Chance auf auch nur halbwegs hinreichende Versorgung mit Nahrungsmitteln hat, interessiert auch Habermas nicht: Die “durchgreifende Verrechtlichung der internationalen Beziehungen ist nicht ohne etablierte Verfahren der Konfliktlösung möglich”, sprich: ohne Gewalt. Als wolle er alle Prophezeiungen Schmitts verwirklichen, folgert er: “Wer aber im Bewußtsein der Unvermeidlichkeit eines vorübergehenden Paternalismus handelt, weiß auch, daß die Gewalt, die er ausübt, noch nicht die Qualität eines im Rahmen einer demokratischen Weltbürgergesellschaft legitimierten Rechtszwangs besitzt.” Das ist die Gemeinsamkeit zwischen Habermas und Goldhagen, der das nur pragmatischer formuliert: “Die Mehrheit des serbischen Volkes hat sich durch die Unterstützung oder Hinnahme von s eliminatorischer Politik der moralischen und juristischen Kompetenzen beraubt, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, und ist zu einer Gefahr für andere geworden.” Bei Habermas heißt das Problem USA, denn diese betreibe “die globale Durchsetzung der Menschenrechte als nationale Mission einer Weltmacht, die dieses Ziel unter den Prämissen der Machtpolitik verfolgt”, so wie Goldhagen es vorführt. Die EU hingegen verstünden unter Menschenrechtspolitik “eher ein Projekt der durchgreifenden Verrechtlichung internationaler Beziehungen, das die Parameter der Machtpolitik schon heute verändert.” Im Unterschied zu Goldhagen bemerkt Habermas wenigstens noch die “Bruchlinien … zwischen Kontinentaleuropäern und Angelsachsen”, wobei es letztere sind, “die hauptsächlich den eigenen Waffen vertrauen.” Deshalb entscheidet er sich für erstere. Die einfache und klare Weltsicht des Philosophen gipfelt schließlich in einer Zwei-Welten-Theorie: Die neue “erste Welt” sind die “friedlichen, wohlhabenden OECD-Gesellschaften”, die es sich leisten können, “ihre nationalen Interessen mit dem halbwegs weltbürgerlichen Anspruchsniveau der Vereinten Nationen mehr oder weniger in Einklang zu bringen.” Die neue “zweite Welt” sind die Staaten, die “das machtpolitische Erbe des europäischen Nationalismus angetreten” haben: “Libyen, Irak oder Serbien”, die neuen Feinde also. Wir erleben den “prekären Übergang von der klassischen Machtpolitik zu einem weltbürgerlichen Zustand”, mit Deutschland “an der Seite der alten Demokratien”, verkündet Habermas verzückt. Und Goldhagen sekundiert gnädig: “Bei der Besetzung Serbiens muß man vor allem der Versuchung der übermäßig harten Bestrafung widerstehen … Die Vorstellung einer Kollektivschuld … muß zurückgewiesen werden.” Im Gegensatz dazu ist Habermas nicht allzu glücklich darüber, daß dieser Krieg ein deutscher Krieg ist, in dem es ideologisch, politisch und militärisch um die Revision der Ergebnisse des zweiten Weltkrieges geht. Obwohl er den “Verlautbarungen unserer Regierung … ein Overkill an fragwürdigen geschichtlichen Parallelen” abmerkt, meint er dennoch: “Glücklicherweise fehlen in der deutschen Öffentlichkeit die dumpfen Töne. Keine Schicksalssehnsucht, kein intellektueller Trommelwirbel für den guten Kameraden”, wobei sich fragt, ob der zivilgesellschaftliche Trommelwirbel sympathischer oder die dumpfe Ergebenheit ins Kapitalverhältnis rationaler als ihre völkischen Gegenstücke sind. Goldhagen revidierte seine eigene Theorie vom besonderen deutschen Antisemitismus, dem eliminatorischen, keine historische Parallele ist ihm zu platt; Habermas sah mit dem Sieg des Kapitalismus das Reich der Freiheit hereinbrechen und flüchtete sich in einen typisch deutschen Utopismus. Beide geben der Wirklichkeit recht; die neue historische Mission der “friedlichen, wohlhabenden” Staaten – die weltweite Durchsetzung des bürgerlichen Rechtsprinzips – ist allerdings nur die aktuelle Erscheinungsform der “Schicksalssehnsucht”, denn sie ist nichts anderes als der applaudierende Kommentar zum definitiven und globalen Vollzug des Kapitalismus. Mag man Goldhagen auch zugute halten, daß er tatsächlich an Moral glaubt und der Demokratie vertraut, weil sie den Antisemitismus in Zaum hält – wie er am Beispiel Deutschland festgestellt zu haben meint -, unterscheidet ihn doch einiges von denen, die aus Ratlosigkeit dem Krieg zustimmen, und zwar weil er, wie Habermas, die Ausweitung der Kriegsziele propagiert. Und genau darin wird auch er zum Ideologen des deutschen Krieges. Wenn es sich um Völkermord handelt, dann reicht es nicht, den Kosovo zu befrieden, sei es als Protektorat oder als unabhängiger Staat. Bislang sind es vor allem die Deutschen, die besonders kompromißlos auftreten, mit dem Anspruch, Adornos Diktum, daß die Vernichtung der Menschheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen habe, daß sich Auschwitz nicht wiederholen und nichts ähnliches noch einmal geschehen dürfe, in die Tat umzusetzen. Diese Legitimation harmoniert mit Goldhagens Wahrnehmung, die freilich einen ganz anderen Ursprung hat.

Die Realität nationalistischer Konflikte, die Exzesse gegen Minderheiten zwangsläufig provozieren, ist nicht das Überbleibsel der alten, sondern Vorschein der neuen Weltordnung. Die NATO antizipiert diese Entwicklung mit der Außerkraftsetzung des Völkerrechts, das mit dem weltweiten Siegeszug des Kapitalismus obsolet geworden ist. Der Weg vom Kosovo führt nicht umsonst nach Littleton und London: Eine der falschen Voraussetzungen, die die Kriegsapologeten unterstellen, ist, daß sie einen fundamentalen Unterschied zwischen dem “glühenden Haß” der Subjekte des “ethnischen Nationalismus” (Goldhagen) und den modernen Subjekten der Zivilisation zu konstruieren. Nicht nur, daß das Völkische (wieder einmal) der Aufklärung voraus ist – schließlich handelt es sich dabei nicht um das Gegenprinzip der Aufklärung, sondern um ihr Produkt -, vielmehr verschwinden die imaginierten Differenzen zwischen diesen Subjektformen in dem Maße, wie sie unterschiedslos zu “Verkehrsknotenpunkten der Tendenzen des Allgemeinen” [ 7 ] werden und ihr Leben auf den Existenzkampf reduziert wird. Wobei die einen sich diesem Kampf im völkischen Kollektiv stellen, die anderen als egomanische Einzelkämpfer, leider jedoch gilt in diesem Falle tatsächlich: Gemeinsam sind sie stark. Heraus kommt dasselbe: Ein Subjekt, das nur noch der juristischen Fassade nach eines ist, innerlich reduziert auf das, was Adorno in Anlehnung an Sigmund Freud “Ich-Libido” genannt hat, also auf unmittelbare Bedürfnisse und eine Wahrnehmung, die den anderen nur noch als Inventar des eigenen Bewußtseins erkennt: “Um in der Realität sich behaupten zu können, muß das Ich diese erkennen und bewußt fungieren. Damit aber das Individuum die ihm a ufgezwungenen, vielfach unsinnigen Verzichte zuwege bringt, muß das Ich unbewußte Verbote aufrichten und weithin sich im Unbewußten aufhalten … Wo dem Ich sein Eigenes, Differenziertes mißlingt, wird es regredieren, zumal auf die ihm nächstverwandte, von Freud so genannte Ich-Libido … Das ins Unbewußte sich zurücknehmende Ich verschwindet nicht einfach, sondern bewahrt manche der Qualitäten, die es als gesellschaftliches agens erworben hatte. Aber es unterwirft sie dem Primat des Unbewußten.” [ 8 ] Eine mehr oder weniger leere Hülle also, die den gesellschaftlichen Zustand als den natürlichen nicht nur anerkennt, sondern ständig bewußtlos reproduziert. Das Massaker der kleinen “Menschenschlächter” von Littleton beschreibt ebenso wie die faschistische Terrorkampagne gegen Minderheiten in London und die Zunahme rassistischer Übergriffe in Deutschland seit Kriegsbeginn die tatsächliche Voraussetzung eines permanenten Krieges: Der sich vermittels der Menschenrechte durchsetzende Zwang zur Totalverwertung jedes Einzelnen setzt ein Subjekt, das aus seinem Los, auch bei größter Selbstausbeutung das Existenzrecht nicht garantiert zu bekommen, notwendig die Schlußfolgerung ziehen muß, daß nur die (Über-)Erfüllung anderer, außerökonomischer Kriterien sein Leben sichern könnten.[ 9 ] In dem zu DDR-Zeiten zur Plattenbaukleinstadt aufgemotzten sächsischen Ort Burgsdorf wohnt der dreizehnjährige Tino Bauer mit seiner Mutter. Tino hat einen dunkelhäutigen Vater und wünscht sich manchmal, gar nicht geboren zu sein, denn auch er hat für sächsische Verhältnisse zu dunkle Haut, oder, wie es Klaus Bednarz, der linksliberale Wachtturm des deutschen Journalismus, formuliert: “das Pech”, ein Schwarzer zu sein. Als Tino im Sommer 1998 von fünf Jugendlichen mit Springerstiefeln zusammengetreten wird, schauen die Anwohner der Plattenbauten vom Balkon aus zu. Tino ist auch weiterhin täglich den rassistischen Sprüchen seiner Mitschüler ausgesetzt; die ihn zusammenschlugen, wohnen in der Nachbarschaft und brüsten sich ihrer Tat, nach der Tino eine Woche im Krankenhaus war. Die Nonchalance, mit der Bednarz den Beitrag über Tino in der ARD-Sendung “Monitor” vom 21.1.1999 ankündigt und vom “Pech” spricht, schwarz zu sein, ist eine Spur zu dick aufgetragen – aus dem, was als Zynismus, als Zuspitzung einer pejorativen Aussage über eine solche Wirklichkeit sich vermitteln soll, spricht nur noch kalte Verhältnislosigkeit. Die Identität von deutscher Wirklichkeit, in der es tatsächlich ein tödliches Pech sein kann, auch nur einen dunklen Teint zu haben, und deutscher Ideologie, die sich gar nichts anderes mehr vorstellen kann, als daß Hautfarbe eine (gute oder schlechte) Legitimation für Mord und Totschlag ist, ist das Resultat der Entwicklung seit der Wiedervereinigung. Bednarz meint es selbstverständlich gut – so gut wie es einer, der nur ein besseres Deutschland will, eben meinen kann – und deswegen bemerkt er nicht, daß Zynismus nur solange zynisch ist, wie es keine Identität von Wirklichkeit und Wahrnehmung gibt, also die vermittelnde und verkehrende Instanz der Ideologie funktioniert. In dem Beitrag werden zwei der Jugendlichen zu ihren Motiven befragt, und selbst Bednarz hätte auffallen können, daß diese ihren Rassismus für eine so biologische Tatsache wie Tino Bauers Hautfarbe halten. Für sie ist es, wie es ist. Illusionslos und abgebrüht schauen die kleinen Medienprofis in die Kamera, wissend, daß ihre Häßlichkeit und ihre Unfähigkeit, in Sätzen zu sprechen, dem Fernsehpublikum schon etwas Mitleid abtrotzen wird. Daß sie Tino verprügelt haben, hat für sie nichts mit Rassismus zu tun, aber befreundet wollen sie mit Tino nicht sein, weil der ein “Nääschör” sei. In der Regression von Ideologie zu Identität kommt das Verschwinden des Subjekts auf seinen Begriff: Diese Jugendlichen wissen, daß sie nicht einmal den Hauch einer Perspektive jenseits des völkischen Kollektivs haben; sie wissen, daß sich ein solche Perspektive nur herstellt in der tätlichen Aneignung von Identität; darüber hinaus ist ihnen auch nicht verborgen geblieben, daß ihr Leben nur mehr Schicksal ist, über das sie keinerlei Verfügung haben werden. Gerade darin aber demonstrieren sie ihre Marktfähigkeit, ihre Realitätstauglichkeit. Ihre Jugendlichkeit kommt darin zum Ausdruck, daß sie keinerlei Merkmale von Jugend – als einer unmittelbarer Selbstinwertsetzung noch fernen Lebensphase – aufweist. Im rassistischen Terror gegen einen Jüngeren vergewissern sich Vierzehn- und Fünfzehnjährige ihrer Fähigkeit zur völligen Unterwerfung unters Tauschwertideal, indem sie als freie Subjekte handeln, deren Kennzeichen Flexibilität (in der Auswahl des Opfers und der Legitimation der Tat) und Enthemmung (in der Planmäßigkeit und Brutalität der Tat) sind. “Die dem Pseudokonservatismus entsprechende psychische Struktur ist Konventionalität und autoritäre Unterwürfigkeit in der bewußten Sphäre, begleitet von Gewalttätigkeit, anarchistischen Impulsen und chaotischer Destruktivität in der unterbewußten”, bemerkt Adorno in den “Studien zum autoritären Charakter” [ 10 ]. Und weiter: “Vermittler zwischen diesen antagonistischen Tendenzen sind Züge wie autoritäre Aggressivität oder Rachsucht.” [ 11 ] Die sich als Vollstrecker begreifenden Subjekte nehmen Rache für ihr Scheitern am Markte. In der vollendeten Niederträchtigkeit ihres Übergriffs beweisen sich die Täter als die perfekten Staatsbürger. Indem sie die objektive Vergeblichkeit, sich der Stofflosigkeit des Tauschwerts anzugleichen, auf ihr Opfer projizieren, das ohne diese von vornherein zum Scheitern verurteilte Anstrengung, den Verwertungsnormen zu entsprechen, ein Lebensrecht für sich beansprucht und scheinbar gewährt bekommt. Scheinbar, weil es Subjekte gibt, die den Rassismus in ihren Mordtaten auf seinen reinen Begriff bringen: als Vernichtungswillen, dessen Grundbedingung die freie Entscheidung ist, schon im Vorhinein zu wollen, was gewünscht wird. Darin gleichen sich der ostdeutsche Nazi und der westdeutsche Fernsehjournalist, daß sie der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr abgewinnen können als ihre Affirmation. In der Figur des Pseudokonservativen kommt nicht nur ein Subjekt zum Vorschein, das alle Attribute des Individuums verloren hat; zugleich ist “das pseudokonservative Syndrom, das sich wahrscheinlich während der letzten vier Jahrhunderte herausgebildet hat, … nicht etwa deshalb ein so typisch modernes Phänomen, weil irgendein neues psychologisches Element hinzugetreten wäre, sondern die objektiven gesellschaftlichen Bedingungen machen es dieser Charakterstruktur leichter, öffentlich ihre Ansichten zum Ausdruck zu bringen.” [ 12 ] Was Adorno hier 1950, vor dem Hintergrund seiner auf die Vereinigten Staaten bezogenen Untersuchungen, als “eines der unerfreulichsten Ergebnisse” der “Studies in Prejudice” vorstellt, bezeichnet die Verfassung des Subjekts in der postfaschistischen Gesellschaft. Mit der Durchsetzung des Tauschwerts als universellem Prinzip frißt sich das pseudokonservative Syndrom durch das Subjekt; es spielt solange keine signifikante Rolle, wie das Subjekt noch in der Lage ist, die Norm psychisch zu integrieren. In der spätkapitalistischen Gesellschaft ist die Norm jedoch dermaßen verflüssigt und entkörperlicht, daß die Integration mißlingen muß. Die Leute entdecken eine Vielzahl von Identitäten, und ebenso wie die Zugehörigkeit zum völkischen Kollektiv oder die Zugehörigkeit zu Männerbünden ist die Einzelkämpfermentalität ein Ticket, das einen Ausweg aufzeigt – einen Ausweg, den Robert Kurz’ “fundamentale Wahrheit” nur soziologisierend als Phänomen beschreiben kann. Insofern er das kritisiert, was Habermas affirmiert, gleichen sie sich aufgrund dieser Leerstelle in einem doch: Deutschland geht dieses Mal keinen “Sonderweg” .

Weil aber die von Habermas und von Kurz beschriebenen Zustände gerade keine Argumente gegen einen deutschen Sonderweg darstellen, bleibt ihre Schlußfolgerung in der Luft hängen. Schlimmer noch: Gerade die beschriebenen Zustände machen einen neuen Sonderweg wahrscheinlich, weil die völkische Option scheinbar – eben subjektiv – zugleich eine antikapitalistische ist. Rückständig ist sie ebenfalls nicht, wie Kurz ja auch zugesteht: Es ist die Entwicklung des Kapitalismus selbst, der die völkische Option auf die Tagesordnung setzt. Robert Kurz, Habermas und Goldhagen irren sich allerdings, wenn sie diese Option an die Peripherie verschieben, und das deutsche Projekt der völkischen Parzellierung für “strategische Blaupausen eines vergangenen Zeitalters” (Kurz) erklären – anstatt in der deutschen Normalisierung eben jene Elemente zu beschreiben, die sie zu einer deutschen (und nicht zu einer europäischen oder globalisiert-entnationalisierten) machen. Die weltweite Krise selbst könnte Deutschland den dritten Versuch ermöglichen, auf die Krisensymptome die völkische Antwort zu geben. Nicht umsonst harmoniert die kritische Analyse heutzutage aufs beste mit der völkischen Moral des Sozialdarwinismus – was kein Argument gegen die Analyse ist, sondern die Grenze der Kritik aufzeigt: Wo sie nurmehr die Realität nachzeichnet, verdinglicht sie sich selbst, wenn sie die völkische Reaktion als lediglich abseitig begreifen kann. Das Wissen darum, daß nach wie vor nur Deutsche zu Auschwitz in der Lage sind, scheint auch in einer Frage auf, die der “Spiegel” Kulturstaatsminister Michael Naumann stellte: “Jüngst protestierten Holocaust-Überlebende in einem offenen Brief an Fischer und Scharping ›gegen eine neue Art der Auschwitz-Lüge‹. Könnte es sein, daß mit der historischen Singularität der Shoah die Meßlatte für Völkermord derart hoch gelegt wird, daß nun Menschenschlächter aller Art bequem darunter hindurch spazieren können? Anders gefragt: Gibt es auch die umgekehrte Auschwitz-Keule, die blind macht für Massenverbrechen in der Gegenwart?” [ 13 ] Nun war die NATO bei diesen “Massenverbrechen” ja kein Zaungast, der nur darauf wartet, die Schlächter der Gerechtigkeit zuzuführen, sondern, wie man so schön sagt, “bei jeder Schweinerei vorneweg dabei”. Das gilt insbesondere für Deutschland und die von ihm seit 1989 betriebene Renaissance des Völkischen – auch wenn in diesem Krieg noch das Völkische in Gestalt Serbiens das Feindbild ist. Die “Verrechtlichung” und Moralisierung von Konflikten schafft erst die Grundlage für Völkermorde und ethnische Säuberungen; denn die neue Dichothomie von Gut und Böse erlaubt keine Kompromisse, sondern nur definitive Schnitte: Endlösungen. So führte selbst die Ablenkung von Auschwitz wieder zu Auschwitz hin und zu den Problemen, die man in Deutschland damit immer noch hat. Man wird erst dann seine Ruhe haben, wenn der deutsche Massenmord in einem wahlweise totalitaristischen oder völkisch-antiimperialistischen Brei derart zur Unkenntlichkeit zermanscht worden ist, daß man sich den Beweisen für Auschwitz mit dem gleichen Mißtrauen nähert, mit dem man Scharpings “Beweisen” begegnete. Letztlich ist es nicht darum gegangen, ob im Kosovo überhaupt irgend etwas passiert ist, sondern darum, daß egal sein soll, ob und was in Auschwitz geschah.

[ 1 ] “Jungle World” Nr. 19/1999.
[ 2 ] Vgl. “Konkret” Nr. 6/1999.
[ 3 ] In dieser Allgemeinheit verrät sich die Intention derer, die diese Behauptung aufstellen: Es geht um die Ablehnung der Bombardierung deutscher Städte. Die Frage, warum die Alliierten nicht die Gaskammern und die Rampe von Auschwitz-Birkenau bombardierten, ergibt sich nämlich erst aus der Tatsache, daß im August und September 1944 Industrieanlagen und Gleisanlagen bei Auschwitz sehr wohl bombardiert worden waren. Weil die Alliierten aus den Aufnahmen zur Vor- und Nachbereitung dieser Bombardierungen hätten erfahren können, stellt sich die Frage, warum sie das nicht getan haben; die entsprechenden Luftaufnahmen wurden jedenfalls nicht ausgewertet und erst Jahrzehnte später veröffentlicht. Außerdem forderte der Lagerwiderstand die Alliierten über Kassiber zu einer Bombardierung auf. Vgl. Danuta Czech, Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, Hamburg 1989, Seite 856ff.
[ 4 ] “Süddeutsche Zeitung”, 30.4.1999.
[ 5 ] “Zeit”, 29.4.1999.
[ 6 ] U. Krug/C. Kunze: Der letzte “Gorilla und die neue Wert-Ordnung. Zur politischen Ökonomie der Gerechtigkeit, in: “Bahamas” Nr. 28.
[ 7 ] Th. W. Adorno, M. Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt 1997, S. 178.
[ 8 ] Th. W. Adorno: Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie, in: Soziologische Schriften I, Frankfurt 1979, S. 70.ff.
[ 9 ] Vgl. die Referate von U. Krug, C. Nachtmann und J. Wertmüller auf dem “Bahamas”-Seminar “Vom Gebrauchswert des Kapitals” in “Bahamas” Nr. 28 und U. Krug: Kollektivprojektion als Soziale Bewegung, in “Bahamas” Nr. 22.
[ 10 ] Th. W. Adorno: Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt 1973, S. 205. Die Studies in Prejudice, von der die Studien zum autoritären Charakter der zentrale Teil waren, wurden in den vierziger Jahren vom American Jewish Comittee in Auftrag gegeben, um mehr über psychischen Dispositionen zum Faschismus herauszufinden.
[ 11 ] Ebd.
[ 12 ] Ebd., Seite 206
[ 13 ] “Spiegel” Nr. 18/1999

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