Joachim Bruhn – Avantgarde und Ideologie * Nachbemerkung zu Huhn, Etatismus

Avantgarde und Ideologie

Nachbemerkung zum Rätekommunismus

Joachim Bruhn

Die Arbeiterklasse ist revolutionär oder sie ist nichts.

Karl Marx, 1865

Arbeit ist die Religion des Sozialismus.

Friedrich Ebert, 1918

Die revolutionären Bewegungen des europäischen Proletariats erheben sich in der Epoche zwischen 1870 und 1936, in einer Zeit, die mit der Pariser Commune anhebt, dann mit der deutschen Novemberrevolution, dem italienischen „biannio rosso“, dem Aufstand im russischen Kronstadt 1921 ihren Höhepunkt erreicht, um schließlich 1936 mit der Spanischen Revolution für immer unterzugehen. In allen diesen Bewegungen beweist es sich, daß die Organisationen der proletarischen Klasse, daß ihre Parteien und Gewerkschaften weder ihr Wesen noch ihr wesentliches Interesse zu verstehen, d.h. zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen vermögen. Diese Organisationen transformieren die Klasse vielmehr in den Stand der zeitweilig mit kapitalproduktiven Aufgaben betrauten Staatbürger; sie verwandeln den Klassenkampf in ein Gleitmittel der Akkumulation. Aber die Klasse verstand sich selbst nicht, als sie diese Organisationen zu ihrem Interpreten und Advokaten bestellte, als sie darauf bestand, ihrem Interesse, d.h. der „Ökonomie der Arbeit“ (Marx) in der Form des Rechts und mit den Mitteln des Staates Anerkennung zu verschaffen.[1] Zwar wendet sich die Klasse ihrem Wesen nach gegen das Kapitalverhältnis in seiner Totalität, gegen Ausbeutung und Herrschaft zugleich als die nur in dieser Wendung praktisch werdende „Kritik der politischen Ökonomie“, erhebt sich gegen Kapital und Souveränität zugleich als den nur verschiedenen Erscheinungen des an sich identischen, in sich verkehrten gesellschaftlichen Zusammenhangs.

Aber das Problem der Zentralität bleibt, auch das der Organisation: die politische Souveränität des Kapitals aufzuheben, erfordert, ihr auf gleicher Augenhöhe entgegenzutreten, ihre Abschaffung als gesellschaftlich gültige zu erklären. Die „Diktatur des Proletariats“ in Form seiner jakobinischen, zentralisierten und militarisierten Kaderpartei ist die Antwort des militanten Flügels der Sozialdemokratie, gegen die die authentischen Theoretiker der Klasse die Idee des „proletarischen Antibolschewismus“ oder auch: „marxistischen Anti-Leninismus“[2] setzen und die Praxis der Räte mobilisieren. Die Räte sollen es sein, die in einem die authentische Selbstinterpretation der Klasse leisten und doch das Problem der Zentralität, der Dezision und der gesellschaftlichen Geltung lösen sollen. Wie die Parteiform den empirischen Arbeitern das Klassenbewußtsein als objektiv-wissenschaftliches von oben herab autoritär zurechnet und dekretiert, so soll die Räteform das empirische Bewußtsein der Arbeiter von unten auf zu seiner revolutionären Wahrheit verallgemeinern und zuspitzen[3]:  keine Frage, welches Konzept das emanzipative und wahrhaftigere ist; keine Frage aber auch, daß das eine wie das andere das Verhältnis von Klasse und Individuum, von Wesen der Klasse und Empirie der Lohnarbeit, von der Wahrheit des Kapitals und der erscheinenden Ideologie etwa des „gerechten Lohns“ nicht aufzuheben und sich vielmehr nur in diesem Dilemma herumzuwerfen vermag. Die Deduktionen des autoritären, des „wissenschaftlichen Sozialismus“ wie die Induktionen des antiautoritären Kommunismus umkreisen nur das Problem. Das macht: beide Strategien, die autoritäre wie die libertäre, begreifen das Wesen der Klasse, die Arbeitskraft, als die gesellschaftliche Ursprungsmacht, die sich ins Kapital hinein nur entfremdet, als das mit sich selbst nicht Identische, das sich selbst nicht versteht, das die Gesellschaft konstituiert, nur ohne Bewußtsein. Kapital dagegen soll Ableitung und Schein sein, Okkupation und Anmaßung. Wie daher die Produktivität der politischen Form nicht verstanden wird: ihre Fähigkeit der Transformation; so auch nicht die der ökonomischen Form: ihre Potenz der Abstraktion und Subsumtion.[4] Das läßt den Leninismus so obsolet werden wie den Rätekommunismus antiquiert.

Allerdings: Als die materialistische Kritik der Arbeiterklasse vielleicht noch geholfen hätte, vertraten die Rätekommunisten unter den Fraktionen der offiziellen Arbeiterbewegung und links von SPD wie KPD die avancierteste Position. Nicht allein, daß sie in Texten wie in denen Willy Huhns den Etatismus der Sozialdemokratie aufzeigten und vor der allerdings ideologischen Zwangsvorstellung warnten, der Staat sei – nur als Prinzip gefaßt – die Inkarnation wie der Agent des Volkswillens; nicht nur, daß sie von 1917 an, seit Rosa Luxemburg Schrift über die russische Revolution, erst den Leninismus, dann, als seinen Erben, den Stalinismus als das Produktionsverhältnis des Staatskapitalismus aufzeigten; auch nicht, daß sie das Prinzip der Räte als der Selbstorganisation und der Selbstverwaltung des Proletariats entwickelten – nein: wesentlich darin besteht ihr Avantgardismus, daß sie zum ersten Mal, jenseits des utopischen Sozialismus wie diesseits des „wissenschaftlichen“ Sozialismus, die „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ darlegten: 1930,drei Jahre vor der sog. „Machtergreifung“.[5] Es waren Autoren wie Anton Pannekoek, Hermann Gorter und Karl Korsch, die den Inhalt des Kommunismus als der staaten- und klassenlosen Weltgesellschaft entwickelten, dann, nach 1945 und in fast völliger Isolation, Cajo Brendel, Paul Mattick und wenige andere.

In der postfaschistischen Nacht der Adenauer-Zeit bestechen die Texte Willy Huhns durch Klarheit und Avantgardismus[6]; insbesondere seine wohlbelegte These, der sozialdemokratische Marxismus der Zeit des „Burgfriedens“ nach 1914 gehöre zur unmittelbaren Vorgeschichte wie Vorbereitung des Nazifaschismus[7] demonstriert, wie nachhaltig das Gründungsverbrechen deutscher Staatlichkeit in klassenübergreifender Kooperation vollbracht wurde. Aber der Avantgardismus dieser Erkenntnis ist unmittelbar zugleich Ideologiebildung. Es scheint, als würde die Erkenntnis nachgerade erst dann zugelassen, indem sie ihr höheres Einverstandensein mit den kritisierten Mächten bekundet. Darin, daß Willy Huhns Faschismusforschung nicht nur ohne den geringsten Begriff des Antisemitismus auskommt, sondern sich regelrecht auf die andere Seite der Barrikade schlägt, zeigt sich, daß der emanzipative Gehalt des Rätekommunismus zur Neige ausgeschöpft ist. Denn trotz aller Kritik der Sozialdemokratie vertritt er, wie die „Bilanz nach zehn Jahren“ zeigt, genau deren Position zum Antisemitismus als dem „Sozialismus der dummen Kerle“, wie sie August Bebel 1893 formulierte, wie sie Friedrich Engels vorsprach und wie Stalin sie nachsprach.[8] Seine Intention, durch die Kritik der SPD hindurch die „Wiederbelebung des Rätegedankens“[9] möglich werden zu lassen, scheitert an sich selbst, erweist sich als nicht radikal genug in der Anwendung des Materialismus auf den Marxismus.

Es ist, als sei nach dem 8. Mai 1945 unter den Sozialisten und Kommunisten aller Fraktionen eine Einheitsfront des kollektiven Beschweigens der Massenvernichtung gestiftet worden, als habe man um so lautstarker von Klasse, Klassenkampf, Klassenbewußtsein gepredi gt, je hoffnungsloser die Ermordeten schwiegen. Egal, ob 1946 der Linkssozialist Paul Sering (d.i. Richard Löwenthal) sein Buch „Jenseits des Kapitalismus“ als einen „Beitrag zur sozialistischen Neuorientierung“ veröffentlicht: der NS ist und bleibt eine „nihilistische Revolte gegen Europa“, dessen „konsequente Durchführung der Rassentheorie bis zur Ausrottung von Millionen geführt hat“[10] – von Juden ist nicht die Rede; es unmenschelt. Gleich auch, ob Anton Pannekoek, der „Denker der Revolution“ (Cajo Brendel), im gleichen Jahr 1946 ein großes Buch über die Arbeiterräte publiziert, das Bilanz und Perspektive zugleich sein soll: Es ist, als habe die Shoa nicht stattgefunden, als sei der Marxismus als das Denken der Revolution nicht in seinen innersten Kategorien erschüttert; es ist vielmehr so, daß die sozialdemokratischen Märchen immer aufs Neue aufgesagt werden – so Pannekoek: der Faschismus, sagt er, sei die „Politik des Großkapitals“, die Volksgemeinschaft „ein antikapitalistisches Trugbild“, die Bombardements der Alliierten nur Mittel, den kommenden „revolutionären Volksaufstand“ zu behindern, und der Antisemitismus, so sagt er, liege darin begründet, daß „die besondere Geschicklichkeit der Juden für den Waren- und Geldhandel … unter den kleinen Bourgeois, die unter der Konkurrenz der Warenhäuser litten, starke antisemitische Gefühle geweckt“ hatte.[11] Noch der Rätekommunismus ist darüber das geworden, was Willy Huhn der sozialdemokratischen Theorie attestiert: eine „Verhüllungsideologie“[12]. So befremdet es zwar zutiefst, verwundert aber nicht mehr, wenn Christian Riechers in seiner „Biographischen Notiz“ berichtet, Huhn habe schon lange vor dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 gerne über „merkwürdige Parallelentwicklungen von antisemitischem Rassismus und Zionismus“ und die „Landnahme des Staates Israel“ sich verbreitet[13]; und auch in seinem Nachlaß finden sich umfangreiche Manuskripte, die man lieber nicht lesen möchte, mit unappetitlichen Titeln wie „Rassismus und Faschismus in Judentum und Zionismus (Antisemitismus und Nationalsozialismus in Israel“ (1961) oder „Paradoxien – jüdische Vorfahren von Nazigrößen“ (1967). Der Rätekommunismus, Avantgarde der Klasse, agiert zugleich als die Avantgarde der antisemitischen Ideologie im allgemeinen und der linksdeutschen, d.h. der des Antizionismus, im besonderen.[14] Die entschiedenste Dissidenz, die auf den Klassenkampf pocht, gibt in ihrer Teilhabe am Antisemitismus als der Alltagsreligion der bürgerlichen Gesellschaft wie am Antizionismus als dem Sonntagsbewußtsein ihres Staates zu erkennen, daß es mit dem sozialrevolutionären Antagonismus, den man proklamiert, in Wahrheit nicht so weit her ist, und daß die Totalität auch über ihren Widerspruch herrscht.

Es ist dies im übrigen ein Befund, der keineswegs den Rätekommunismus allein trifft: mustert man die Positionen des linken Radikalismus, so fällt überall eben das ins Auge – angefangen bei linkskommunistischen Gruppen in der Tradition Amadeo Bordigas[15] über die Situationisten in der Tradition Guy Debords[16] bis hin zu den Operaisten der Gruppe „Wildcat“[17] herrscht die eine und die selbe geistige Umnachtung, deren Name Ideologie ist. Nur: wie können Materialisten ein „falsches Bewußtsein“ haben, das „gesellschaftlich notwendig“ wäre?

Es muß dies mit dem Zustand der Klasse selbst zu tun haben, als deren kollektiver Theoretiker der Rätekommunismus auftritt; und es muß sich daher in der Avantgarde das Klassenschicksal selbst reflektieren. So rührt das Versagen der Theorie im Angesicht des Nazifaschismus davon, daß die Klasse selbst transformiert wird, daß sie der Theorie aus den Händen rutscht und ihre eigene Praxis aufmacht. Indem die Theorie nicht fähig ist, diese Entwicklung zu rekonstruieren, indem sie in hilflosen Protest verfällt, indem sie auf einem nun nicht mehr kritischen, sondern ontologischen Begriff der Klasse insistiert, indem sie schließlich auf dem „Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital“ besteht, ganz so, als sei dieser von außerhistorischer Ewigkeit, vollendet sich die „Krise der Revolutionstheorie“[18] in der politischen Agonie der Revolutionäre. Weil der Gedanke der negativen, in sich selbst verkehrten gesellschaftlichen Totalität nicht gefaßt werden konnte, weil die dialektische Pointe der marxschen Kritik: daß das Ganze, weil negativer Verfassung, sich in sich selbst, und dinglich, repräsentiert und zum „automatischen Subjekt“ wird, weil überhaupt die „Kapital“-Lektüre der Rätekommunisten überaus traditionell und dogmatisch war[19], darum wurde das Schicksal, das das Kapitalverhältnis im Übergang von der formellen zur reellen Subsumtion der Arbeitskraft bereitet, vorm Bewußtsein abgeschottet.[20] Die Basis der „zwei Ökonomien“ schwindet, und die Arbeitskraft wird ganz in das Kapital hineingezogen, auf die Funktion, die es, begrifflich, schon zuvor hatte, nun auch gesellschaftspraktisch reduziert. Indem sich an der Arbeitskraft ihr eigener Begriff geltend macht – nichts zu sein als reine Lebendigkeit und also variables Kapital –, treffen in der Produktion nicht mehr Kapital und Arbeitskraft aufeinander, und eignet der Produktion nicht mehr der Doppelcharakter von Arbeitsprozeß und Verwertungsprozeß, sondern das Kapital interagiert gleichsam mit sich selbst und bezieht sich, wenn auch in anderer Gestalt, durch sich selbst auf sich selbst. Jede Ontologie der Klasse, die auf Arbeit gründet, wird durch die reelle Subsumtion zur Nichtigkeit relativiert, eben zur Ideologie. Marx reflektiert auf diese Entwicklung, indem er die hegelsche Kategorie des „Chemismus“ als das Idealbild kapitalistischer Produktion darstellt, nach der sie in ihrer Wirklichkeit drängt: „Der Kapitalist hat durch den Kauf der Arbeitskraft die Arbeit selbst als lebendigen Gärungsstoff den toten ihm gleichfalls gehörigen Bildungselementen des Produkts einverleibt. (…) Der Arbeitsprozeß ist ein Prozeß zwischen Dingen …“[21], und das Kapital spielt darin den Part der List der Vernunft, die „überhaupt in der vermittelnden Tätigkeit besteht, welche, indem sie die Objekte ihrer eigenen Natur gemäß aufeinander einwirken und sich aneinander abarbeiten läßt, ohne sich unmittelbar in diesen Prozeß einzumischen, gleichwohl nur ihren Zweck zu Ausführung bringt“[22], d.h. die Akkumulation.

Dies, ins Ungeheuerliche radikalisiert durch die Zusammenbruchskrise von 1929, stellt der „Volksgemeinschaft“ die materielle Basis: Weder Lüge noch Manipulation, ist die „Volksgemeinschaft“ das Programm zum Massenmord an den Juden, in dem sie sich bewahrheitet. Der Nazifaschismus ist die Vollendung dieses Zusammenbruchs, d.h. die Abschaffung der Klassen auf dem Boden und mit den Mitteln der Klassengesellschaft selbst: Darum ließ der 30. Januar 1933 den Marxismus in die Knie gehen und unwiderruflich zu einer bloß literarischen Position werden, die nur in den akademischen Ritualen der „Rekonstruktion des Marxismus“ noch vegetiert. Der Nazifaschismus und sein konzentriertester Ausdruck, der Antisemitismus der Vernichtung, besiegten nicht nur die Arbeiterbewegung; sie vernichteten auch ihren komplettes theoretisches Selbstbewußtsein. Vor 1933 hatte sich der Marxismus in all seinen Frak tionen, von den Sozialreformisten über die Bolschewisten bis eben hin zu den Rätekommunisten als unfähig erwiesen, den im Antisemitismus ausgedrückten „Klasseninhalt“ des Nazifaschismus – die „klassenlose Klassengesellschaft“[23] – zu verstehen. Es erschienen ihnen nicht nur unmöglich, daß es eine neue, im evolutionären Verständnis des Fortschritts der Menschheit von der Urgesellschaft über Feudalismus und Kapitalismus zum Sozialismus nicht vorgesehene Gesellschaftsformation eigener Ordnung: die Barbarei geben könne – sie verschwendeten vielmehr (auch nach dem 8. Mai 1945) nicht den mindesten Gedanken daran, daß sich die bürgerliche Gesellschaft der Klassen im Zuge ihrer Zusammenbruchskrise in die Volksgemeinschaft als so klassenübergreifendes wie die Klassen in sich aufhebendes Mordkollektiv verwandeln könnte; man könnte dies, mit Manès Sperber, die „Nazifikation des Marxismus“[24] selbst nennen, die bis auf den heutigen Tag anhält.

Die Kritik, die Willy Huhn an der Sozialdemokratie äußert, wird durch die realitätsfremd gewordene Dogmatik des ontologischen Klassenbegriffs derart imprägniert, daß er die Antizipation der kommenden, negativen Aufhebung der Klassen in den Schriften seiner „Gewährsmänner“ übersieht, v.a. in denen Walther Rathenaus und Wichard von Moellendorffs. Denn die Zentralarbeitsgemeinschaft von 1918, die Fortführung der Kriegswirtschaft, ist nicht allein das Projekt eines „weißen“ Kapitalismus, in dem Kapital und Arbeit friedlich in die Produktion von nichts als Gebrauchswerten sich teilen sollen – es ist zugleich das einer „Entproletarisierung auf kapitalistischem Wege“[25], eines „fordistischen Klassenkompromisses“, der, wie schon bei seinem Begründer, Henry Ford, ohne Antisemitismus und Antizionismus nicht haushalten kann. Das Konzept der Gemeinwirtschaft, im wesentlichen ausgearbeitet durch Wichard von Moellendorff, dem Mitarbeiter Walther Rathenaus in der Kriegsrohstoffabteilung, wurde, nachdem bereits der Würzburger Parteitag der SPD 1917 die wirtschaftspolitischen Richtlinien Heinrich Cunows und Rudolf Wissels gebilligt hatte, mit dem Eintritt Moellendorffs in die Reichsregierung am 20. November 1918 zur Leitlinie der ökonomischen Politik der MSPD. Als Unterstaatssekretär im Reichswirtschaftsamt unter Rudolf Wissel als Reichswirtschaftsminister arbeitete v. Moellendorff in einer Fülle von Gutachten an der korporativen Organisation der Wirtschaft. „Das wirtschaftliche Gesamtbewußtsein eines Volkes, vereint im Gehirn eines allwissenden Staates“, hatte er bereits 1916 in seiner Schrift „Deutsche Gemeinwirtschaft“ ausgeführt, müsse die ökonomische Initiative entprivatisieren und nach dem Muster von Technik und Maschinerie neu organisieren, damit alle Agenten des ökonomischen Prozesses „verantwortliche Glieder der deutschen Wirtschaft werden, dienstpflichtig wie Soldaten“[26]. Willy Huhn analysiert die Verstaatlichung und Militarisierung der Arbeitskraft; er fragt nicht, was an der Arbeitskraft ihrer Verstaatlichung von selbst entgegenkommt und nachgerade nach ihr verlangt.

Selbst das radikalste Festhalten am Klassencharakter der Gesellschaft vermag weder: auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft im allgemeinen, noch: in Anbetracht der postfaschistischen Gesellschaft der Deutschen im besonderen, zum Funken von Subversion, Revolte oder revolutionärer Emanzipation zu werden und den Verblendungszusammenhang zu sprengen– vielmehr: die Insistenz auf diesem Klassencharakter reproduziert ganz wie von selbst den Antisemitismus der Scheidung von „raffendem“ versus „schaffendem Kapital“, eine projektive Leistung, zu der es die radikale Linke eigentlich nicht bedarf, weil die bürgerliche Gesellschaft schon ganz von selbst sie erbringt. Man muß also aufhören, „die grimmige Scherzfrage“: „Wo ist das Proletariat“[27] nach dem Urbild tibetanischer Gebetsmühlen jeden Tag naiv wie gestern und morgen aufs Neue zu stellen: Es ist dies ein Mechanismus der Abwehr und der Verdrängung, der an der Frage sich vorbeibiegt, was geschehen kann (und was bereits geschehen ist), wenn sich die Ausgebeuteten mit den Herrschenden verbünden, um gegen eine dritte Partei, gegen die Juden, loszuschlagen, die als solche, als „Volksklasse“ (Abraham Léon), weder zu den Herrschenden noch zu den Ausgebeuteten gehört und darum im Gesellschaftsbild des historischen Sozialismus so wenig vorkommt wie nachher noch in der Wirklichkeit.. Heute, da die Gesellschaft dem Bild entspricht, das sich Friedrich Engels 1890 von ihr machte und nur noch aus Lohnarbeitern und Kapitalisten besteht, ist dieser Widerspruch kein Antagonismus mehr, sondern nur leerer Gegensatz ohne jedwede revolutionäre Implikation.[28] Kein Klassenkampf kann die Schuld abtragen, nur die Revolution wird sie, als Rache, zum gesellschaftlichen Bewußtsein bringen: Darin besteht die Dialektik der Klasse.

Der Rätekommunismus, der einmal die Zukunft der Arbeiterbewegung sein wollte, ist selbst Geschichte geworden, zu der einzigen Geschichte allerdings, die es, als Vorschein des ganz Anderen, zu erinnern lohnt. Am Anfang dieser Erinnerung steht die Einsicht, der sich Anton Pannekoek 1946 nicht mehr verweigern konnte, als er sein Buch über die Arbeiterräte damit beschloß, daß „das Wesen der einstigen Arbeiterklasse zerstäubt und aufgelöst ist. Die Arbeiter haben ihre Klasse verloren, sie bestehen nicht mehr als Klasse, das Klassengefühl ist in der allgemeinen Unterwerfung unter die Ideologie des Kapitals aufgehoben.“[29] Wie schon Karl Marx bemerkte: Die Arbeiterklasse ist revolutionär, oder sie ist gar nichts.

 

 

Anmerkungen

[1] Vgl. dazu Enzo Modugno, Arbeiterautonomie und Partei. Das Proletariat zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft, in: Claudio Pozzoli (Hg.), Jahrbuch Arbeiterbewegung 3: Die Linke in der Sozialdemokratie, Frankfurt 1975, S. 284‑309, sowie Johannes Agnoli, Wahlkampf und sozialer Konflikt, in: Ders., Die Transformation der Demokratie und andere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg 1990, S. 107 ff. Zu den Tücken der Rechtsform: Eugen Paschukanis, Allgemeine Rechtslehre und Marxismus, Freiburg 2003.

[2] Vgl. Anton Pannekoek, Paul Mattick u.a., Marxistischer Antileninismus, Freiburg 1991, sowie Cajo Brendel, Anton Pannekoek. Denker der Revolution, Freiburg 2001.

[3] Vgl. Joachim Bruhn, Adorno: Die Konstellation des Materialismus, in: Risse. Analyse und Subversion, Nr. 5/2003, sowie: Initiative Sozialistisches Forum, Das Konzept Materialismus, in: www. isf-freiburg. Org.

[4] Vgl. Joachim Bruhn, Karl Marx und der Materialismus, in: Bahamas Herbst/Winter 1999/2000.

[5] Gruppe Internationale Kommunisten Hollands, Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung, Reinbek bei Hamburg 1 971.

[6] Hans Manfred Bock, Geschichte des linken Radikalismus in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt 1976, S. 173 ff., Karljo Kreter, Sozialisten in der Adenauer-Zeit. Die Zeitschrift „Funken“: Von der heimatlosen Linken zur innerparteilichen Opposition in der SPD, Hamburg 1986.

[7] Zu diesem Ergebnis gelangt auch Manfred Faßler, Der Weg zum `roten’ Obrigkeitsstaat. Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Feudalismus und bürgerlicher Gegenrevolution, Gießen 1977. Zur Kritik der SPD auch: Initiative Sozialistisches Forum, Schönheit und Heimtücke des sozialdemokratischen Charakters, in: Dies., Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution. Analysen und Polemiken, Freiburg 1990, S. 204 ff., und Dies:, Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Kurzer Lehrgang, in: Dies., Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten, Freiburg 2001, S. 127 ff.

[8] „Der Antisemitismus ist also nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher untergehender Gesellschaftsschichten, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist eine Abart des feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu schaffen haben“, so Friedrich Engels, Über den Antisemitismus (1890), in: MEW 22, S. 50. Und Stalin sagt: „Der Antisemitismus als extreme Form des Rassenchauvinismus ist der gefährlichste Überrest des Kannibalismus. Der Antisemitismus dient den Ausbeutern als Blitzableiter, der die Schläge der Werktätigen vom Kapitalismus ablenken soll. Der Antisemitismus ist eine Gefahr für die Werktätigen, denn er ist ein Irrweg, der sie vom rechten Weg abbringt und sie in den Dschungel führt“ (Über den Antisemitismus. Antwort auf eine Anfrage der Jüdischen Telegrafenagentur aus Amerika (1931), in: Ders., Werke Bd. 13, S. 26). Eine „Gefahr für die Werktätigen“ also – und für die Juden?

[9] So der Titel eines Aufsatzes in Von unten auf. Blätter für unmittelbare Demokratie (früher „Neues Beginnen“), 8. Jg. (1955), Nr. 1, S. 6 – 18.

[10] Lauf bei Nürnberg 1946, S. 121.

[11] P. Aartz (d.i. Anton Pannekoek), De Arbeidersraden, Amsterdam 1946, S. 203, 219, 273 und 223.

[12] Willy Huhn, Bilanz nach 10 Jahren, in diesem Band S. 124, vgl. S. 135.

[13] In diesem Band S. 179. Die einzige Arbeit über Huhn, Ralf Walters Studie Willy Huhn (1909 – 1970). Zur politischen Biographie eines marxismuskritischen Marx-Orthodoxen (unveröfftl. Ms.), Hannover 1989, schweigt sich darüber höflich aus.

[14] Vgl. Initiative Sozialistisches Forum, Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie, Freiburg 2 2002, sowie Dies., Ulrike Meinhof, Stalin und die Juden. Die (neue) Linke als Trauerspiel, in: Dies., Das Ende des Sozialismus …, S. 119 – 166.

[15] Vgl. etwa die Website der Gruppe „Revolution Times“, die Flugschriften der Internationalen Kommunistischen Strömung, insbesondere die Artikelsammlung: Faschismus und Demokratie. Zwei Ausdrücke (!) der Diktatur des Kapitals, o.O. (Sommer 2001), sowie deren Zeitung Weltrevolution. Amadeo Bordiga veröffentlichte 1961 den Aufsatz Auschwitz – das große Alibi (u.a. auf www. sozialistische-klassiker.org), in dem er als eine Art. Faurisson-Ersatz von links agiert – versteht sich, daß seine Thesen auch gerne von Operaisten diskutiert werden, so im Wildcat-Zirkular 46 (www.wildcat-www.de).

[16] In Guy Debords Gesellschaft des Spektakels (Berlin 1996), immerhin als kritisch-revolutionäre Quintessenz der Gegenwart konzipiert, kommt die Shoa erst gar nicht vor: Was nach Lage der Dinge wahrscheinlich besser ist.

[17] Die Gruppe Wildcat legt ihrem Zirkular gerne Heftchen bei, die von Revolution und Antifaschismus handeln, dabei kaum je ein Wort über den Antisemitismus verlieren; vielmehr wird gerne über den „Verlust der Gemeinschaft“ gesprochen und eine „wachsender Künstlichkeit“ beklagt, so Gilles Dauvé, 1917 – 1937. Wenn die Aufstände sterben (Beilage zu Wildcat-Zirkular Nr. 50, Mai 1999), S. 13. Vgl. zu diesem Befund auch: Gilles Dauvé/François Martin, Niedergang und Wiederkehr der kommunistischen Bewegung (Beilage zu Wildcat-Zirkular Nr. 52/53, Juli 1999), oder den gerne diskutierten Jean Barrot, der in seiner Schrift Fascism/Antifascism (Edmonton 1982) feststellt: „Naziism is condemned because it acted deliberately, because it was consciously wicked, because it decided to exterminate Jews. No one is responsible for famines which decimate whole peoples, but the Nazis – they wanted to exterminate. In order to eradicate this absurd moralism, one must have a materialist conception of the concentration camps. They were not the product of a world gone mad. On the contrary, they obeyed normal capitalist logic applied in special circumstances. Both in their origin and in their operation, the camps belonged to the capitalist world“(36).

[18] Vgl. Stefan Breuer, Die Krise der Revolutionstheorie. Negative Vergesellschaftung und Arbeitsmetaphysik bei Herbert Marcuse, Frankfurt 1977.

[19] Vgl. nur Otto Rühle, Karl Marx. Leben und Werk, Hellerau 1928 (Reprint Haarlem 1974) sowie Das Kapital. Kurzausgabe des Hauptwerkes von Karl Marx. Ausgewählt von Otto Rühle (Offenbach1949), Reprint: Oberaula 1970.

[20] Zum Begriff der reellen Subsumtion: Karl Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt 1969.

[21] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (MEW 23), Berlin 1970, S. 200.

[22] G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Werke Bd. 8, Frankfurt 1970, § 209, S. 365, und weit er: „Gott läßt die Menschen mit ihren besonderen Leidenschaften und Interessen gewähren, und was dadurch zustande kommt, das ist die Vollführung seiner Absichten, welche ein anderes sind als dasjenige, um was es denjenigen, deren er sich dabei bedient, zu tun war.“ – Man mag daran ersehen, wie es um das Erkenntnisinteresse derer bestellt ist, die den marxschen Begriff des automatischen Subjekts als theologisierende Spekulation abtun; vgl. zum Beispiel Nadja Rakowitz, Das automatische Subjekt bei Marx, in: www marx-gesellschaft.org, dann die postmoderne Durchtriebenheit der Argumentation Ilse Bindseils, Reale Abstraktion und reelle Subsumtion, in: Ästhetik & Kommunikation Nr. 113 (2001), S. 77 – 80; schließlich, als besonders armseliges Beispiel, Thomas Gehrig, Der Freiburger Materialismus, in: www. links-netz.de: Diese Genossen bilden, wenn das denn die Möglichkeit wäre, eine Art Gewerkschaftsbewegung in der Theorie.

[23] Vgl. Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in: Ders., Soziologische Schriften I, Frankfurt 1972, S. 373 – 391. In dieser Tradition äußerst instruktiv auch Gerhard Scheit, Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand, Freiburg 2001.

[24] Manès Sperber, Die Tyrannis und andere Essay aus der Zeit der Verachtung, München 1987, S. 146.

[25] Walther Rathenau, Der neue Staat, Berlin 1919, S. 79.

[26] Wichard v. Moellendorff, Deutsche Gemeinwirtschaft, Berlin 1916, S. 34 und 39. Vgl. auch Rathenau, Die neue Wirtschaft, Berlin 1918, S. 61, der Gemeinschaft definiert als eine „Produktionsgemeinschaft, in der alle Glieder organisch ineinander greifen, nach rechts und links, nach oben und unten zur lebendigen Einheit zusammengefaßt, (….) nicht eine Konföderation, sondern ein Organismus“. Siehe auch Rathenau, Die neue Gesellschaft, Berlin 1919.

[27] Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt 1979, S. 258.

[28] Ernst Bloch hat dies schon 1935 vorausgesehen: Gegen Lukàcs Apologie des Klassenbewußtseins beharrte er darauf, daß aus dem Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital als einer leeren Aktualität und puren Gegenwart kein transzendierendes Bewußtsein erwachsen kann – vgl. Erbschaft dieser Zeit, Frankfurt 1962, S. 111 – 125. Diese Einsicht hat Bloch aber auch nicht daran gehindert, in Sachen Israel gefährlichen Unfug zu verbreiten: vgl. dazu Horst Pankow, Kommunismus und Zionismus. Das Beispiel Ernst Bloch, in: Bahamas Nr. 38 (Frühjahr 2002), S. 48 – 52.

[29] Anton Pannekoek, a.a.O., S. 276 f.

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