Frank Böckelmann – Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlich

Vorwort zur Neuauflage 1987

Frank Böckelmann

Das Titel-Schlagwort “schlechte Aufhebung” nimmt das Ergebnis der hier wieder vorgelegten Arbeit vorweg. Ich schrieb den Aufsatz im Oktober 1965; im März 1966 wurde er im “Anschlag”, dem theoretischen Organ der Subversiven Aktion, erstmals veröffentlicht. [ 1 ] Die Mitglieder der genannten Gruppierung – keineswegs nur Studenten und Künstler – sahen sich als berufsmäßige “Rädelsführer des organisierten Ungehorsams” und “direkt auf Aktion ausgerichtete Pariaelite”. [ 2 ] In der ersten Hälfte der sechziger Jahre durchsuchten sie die Schriften der Psychoanalytischen Bewegung (von Freud bis Reich, Gross und Groddeck) nach Sprengmaterial in Kollektiv und Individuum, ließen sich von den Manifesten künstlerischer Bewegungen (vom Futurismus bis zum Situationismus) Stichworte geben und studierten Marx und die von ihm ausgehenden Traditionen bis hin zur Frankfurter Schule, um ihren Abrechnungen, Desideraten und Attacken Verbindlichkeit und Organisierbarkeit zu sichern. In der unaufhörlichen internen Diskussion wurden Theorien und Praxismodelle jeweils in wenigen Wochen angeeignet, verwertet und verworfen. Da die Schätze radikaler Analyse in Universitäten und intellektuellen Zirkeln immer nur zu weiterem Schrifttum stimulierten, proklamierte sich 1963 die Subversive Aktion mit Dieter Kunzelmanns Parole: Der Worte sind genug gewechselt – was not tut, ist einzig die Aktion.

Freilich verlieh der experimentelle und initiatorische Aktivismus der Gruppe dem Lesen und Schreiben nur noch größere Bedeutung. Gelesen wurde in einer zugleich zynischen und ehrfürchtigen Weise: Vielleicht würde schon die nächste Seite den entscheidenden Schwachpunkt des sozialen Zwangszusammenhangs enthüllen. Daß die Theorien ohne akademische Distanz beim Wort genommen wurden, beschleunigte die unvermeidliche Enttäuschung: Der Enttäuschung über die als Katastrophen-Lotung und Glücks- Kompaß gebrauchten Psychoanalyse folgten die Enttäuschung über die Frankfurter Schule und schließlich der Zweifel an Fortgeltung und Gewalt der praktischen Theorie von Wertgesetz und Klassenkampf – lange vor dem Beginn der ApO-Bewegung. Zwei Reaktionen boten sich an: zum einen die Absage an Theorienbildung als Begründungs- und Erkenntnisarbeit und die Konversion zur jeweils die stärkste Breitenwirkung versprechenden Bewegung (Betriebsarbeit – Dritte Welt-Solidarität – revolutionäre Kommunen – Stadtguerilla); zum anderen der Versuch, aus der Unangemessenheit der Globalanalysen und Revolutionsmodelle mit den Verhältnissen von 1965 möglichst weitreichende Konsequenzen zu ziehen, die dann auch Bausteine für eine gewitztere subversive Praxis sein würden. Die nach Ausschlüssen und Abschieden verbleibende Rumpfgruppe der Subversiven Aktion schlug den letztgenannten Weg ein. Er führte auch zu den Thesen über die “schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit”.

Gegenstand meines Aufsatzes ist das empirische Substrat der sozialpsychologischen Studien von kritischer Psychoanalyse und Frankfurter Schule: der autoritäre Charakter. Auf dessen in sich widersprüchliches Konfliktpotential bezogen sich sowohl die Analysen der Massenbasis des Faschismus als auch viele Anleitungen zur Umwandlung von Repressionsenergie in Emanzipationsenergie. Ich beschrieb nun Tendenzen einer “schlechten Aufhebung” der Triebunterdrückung und damit auch jenes Konfliktpotentials. Ich sah mich zur Auflösung dialektischer Kategorien gedrängt, blieb aber an dialektische Denkschemata fixiert, konstatierte folglich dort, wo die Suspendierung realitäts- und identitätsstiftender Gegensätze zu beobachten war, lediglich eine zunehmende,,, Diffusion”, “Mehrdeutigkeit”, “Indifferenz”. (Foucault hat zehn Jahre später dargestellt, wie die Liberalisierung und Förderung sexueller Praktiken ebenso wie deren Unterdrückung Beiträge zur Besetzung und Disziplinierung des Körpers leistet. [ 3 ] Daß wir nicht aufhören können, Sexualität zu untersuchen, zu besprechen und zu bedenken, ist historisch weitaus folgenreicher als der Unterschied zwischen Verbot und Befreiung. Wer sich vom Sex willkürfreie (Er-) Lösungen und Begrenzungen ersehnt, sollte sich statt weiterer Lockerungsübungen also besser wünschen, über Sexualität schweigen, Sexualität vergessen zu können. Aber eben dieses Vergessen ist nicht zu wollen.)

Beim Wiederlesen meines Aufsatzes fiel mir auf, wie ich damals die Prozesse der “Einebnung der Widersprüche” und das – gleichwohl zu beobachtende – Weiterbestehen “überholter” Normen und Institutionen begreiflich zu machen versucht hatte. Wo bestimmte Herrschaftsverhältnisse (letztlich der “späte” Kapitalismus insgesamt) und Kontrollstrukturen trotz der Zersetzung ihrer historischen Ursachen und Existenzbedingungen fortdauerten, sprach ich von Verselbständigung. In ihr sah ich aber nur ein retardierendes Moment. Da ist die Rede von einem “Trägheitseffekt” (aufgrund einer “Blindheit gegenüber dem objektiven Prozeß”), von einer “immer gründlicheren Abschleifung der alten Hemmungen, Tabus und ideologisch-ethischen Dogmen” und von deren “zunehmender Unwirksamkeit”. Nichts Neues tritt an die Stelle des Alten; so kommt es zu einem “unendlichen Teilungsprozeß”.

Konsequenterweise wertete ich somit die Auflösung konstituierender Bedingungen letztlich als entscheidende und irreversible Schwächung des Gewordenen und Bedingten (Beispiele: Familie als Überlebens- und Konsumeinheit, Strafvollzug per Isolierung, Wettrüsten der Supermächte, Leistungsprinzip, Arbeitsnormen, Individual-Kraftverkehr, ökonomische und soziale Individualkonkurrenz, Legitimation durch “Gebrauchswerte”). Wie auch anders? Mittlerweile aber mußte ich lernen, daß eine Institution, eine Normalisierungs-Apparatur oder ein soziales System desto überlebenstüchtiger ist, je weiter es sich von seinen konstitutiven Voraussetzungen und Begründungen (“objektiven Interessen”, ökonomischen Gesetzmäßigkeiten u. dgl.) gelöst hat. Eben jenen Strukturen, Gestalten und Abläufen, denen weder Zwangsläufigkeit noch Sinn zu beschaffen ist, bleibt nichts anderes übrig, als präzise nachmodelliert wiederzukehren. (Offene Frage: Welche Seinsweise kommt diesem überlebenden Überleben zu?).

Ich halte es daher für opportun, Baudrillards vielgeschmähte Interpretationsfigur der “Simulation” mit dem Theorem der “Verselbständigung” zu verbinden und sie nicht – wie dies Baudrillard nachträglich selbst getan hat – als verhohlene Anmahnung von Authentizität abzutun. Aufschlußreicher als die Alternative Simulation/Original ist das Rätsel der Selbsterhaltung durch Selbstzersetzung bzw. der Wiederkehr des Gleichen.

Im Zusammenhang der theoretischen Anstrengungen in der Spätphase der Subversiven Aktion erweisen sich der Aufsatz über die “schlechte Aufhebung” und der – im Anhang wiedergegebene – Briefwechsel mit Karl-Heinz Neumann als Beiträge zur immanenten Kritik der sozialpsychologisch angereicherten “Kritischen Theorie” mitsamt der neubelebten Kritik der politischen Ökonomie. Wir wollten damals die Desillusionierung auf die Spitze treiben, um der Gesellschaft, mit der es keine Versöhnung gab, mit angemessenen: neuen und nicht neutralisierbaren Brechstangen zuleibe rücken zu können. (Eine Versöhnung hat auch in den folgenden Jahrzehnten nicht stattgefunden, doch kam mir und anderen der Begriff der einen, ganzen Gesellschaft und damit das Großobjekt der Revolutionierung bzw. Stabilisierung abhanden.) Das Leitmotiv aller Überlegungen war die Frage, ob der praktische Begriff der Totalität der Gesellschaft noch zu retten sei.

Im Rückblick erscheint jene immanente Kritik a ls ein rührendes Unterfangen, das nicht in die Geborgenheit einer neuen allgemeinverbindlichen Erkenntnis- und Interventions-Strategie führte und überdies kaum jemanden interessierte. In den wiederentdeckten Marxismus oder Marxismus-Leninismus sprang man hinein, und später sprang man auf ihm hinaus. Passagen, Weiterentwicklungen oder Aufhebungen waren nicht gefragt; sie muteten – je nachdem – als blasphemisch und verräterisch oder als obsolet und müßig an. Nur wenige Ansätze fallen mir ein: Arbeiten von Herbert Nagel [ 4 ] und Rodolphe Gasché [ 5 ] aus der Subversiven Aktion, Anläufe bei Hans-Jürgen Krahl [ 6 und Hans-Georg Backhaus [ 7 ], die Dissertationen von Wolfgang Pohrt [ 8 ] und Stefan Breuer [ 9 ]. So wie Ende der sechziger Jahre viele Anlehnungsbedürftige ohne viel Federlesens in die Orthodoxie glitten, standen in den siebziger Jahren viele unversehens wieder draußen. Solange man in die strenge Wahrheit der Kapitallogik, von der eine (durch Verschwörung?) verblendete Welt nichts wissen will, eingeweiht ist, behält man seine negative Identität und ist sich mehr oder weniger selbst genug. Zugleich gelingt es einigen Professoren wie Negt, Altvater. u. a., einer Überprüfung ihrer Kategorienzusammenhänge (und der an diesen haftenden Erwartungen) lebenslänglich auszuweichen, indem sie vielversprechende neue Theorien einfach für kompatibel halten und integrieren, wobei der Historische Materialismus zu einer Art neutraler Rahmen- und Allerweltswissenschaft gerät. Dieser ganz selbstverständlich weiterplaudernde Ex-cathedra-Marxismus demonstriert auf das schönste, wie viele Wahrheiten heute unbefangen koexistieren können, ohne daß es zum Clinch kommt. Daß “Totalität” (der Repression, der Emanzipation) als Inbegriff von Praxis und Theorie nicht mehr zu fassen war, kündigte 1965/66 große Schwierigkeiten für die Theorie an, für die “kritische” ebenso wie für andere, an sozialen Makrostrukturen interessierte Ansätze. Das Scheitern der praktischen Revolutionstheorie meldet auch das Ende der Selbstverständigung und Selbstkontrolle der ubiquitären und globalen Verwertung des Werts. In diesem Prozeß gibt es keinen Sieger und “Konsolidierung” nur unter dem Aspekt vergangener Konflikte.

Aus: Frank Böckelmann, Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, Freiburg: ça ira 1987, S. 5 – 11.

Anmerkungen

[ 1 ] Frank Böckelmann, Die schlechte Aufhebung der autoritären Persönlichkeit, in: Anschlag. Heft 3 (März 1966). S. 34–66. Nachgedruckt vom makol Verlag. Frankfurt, 1971. als Text 7 der ..marxismus bibliothek”.

[ 2 ] Unverbindliche Richtlinien. Heft 2. hrsg. von Chr. Baldeney. R. Gasché und D. Kunzelmann. München/Berlin/Assens. Dezember 1963.   Zur Geschichte der Gruppierung: Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hrsg.). Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Frankfurt 1976

[ 3 ] Michel Foucault. Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen. Frankfurt 1977.

[ 4 ] Herbert Nagel. Besinnung auf stillschweigend Vorausgesetztes: Totalität, in: Anschlag. Heft 3, März 1966   Gekürzt nachgedruckt in: Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hrsg.), Subversive Aktion, a. a. O.. S. 383-436.

[ 5 ] Rodolphe Gasché. Präliminarien, in: Anschlag. Heft 3/März 1966. Nachgedruckt in: Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hrsg.), Subversive Aktion. a.a.O.. S. 342–382.

[ 6 ] Hans-Jürgen Krahl. Konstitution und Klassenkampf. Zur historischen Dialektik von bürgerlicher Emanzipation und proletarischer Revolution. Frankfurt 1971.

[ 7 ] Vgl. u. a.: Hans-Georg Backhaus. Materialien zur Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie, Teil 3. in: Gesellschaft, Beiträge zur Marxschen Theorie. Band 11. edition suhrkamp. Nr. 957. S. 16-117, Frankfurt 1978.

[ 8 ] Wolfgang Pohrt. Theorie des Gebrauchswerts, Frankfurt 1976.

[ 9 Stefan Breuer. Die Krise der Revolutionstheorie. Zur Arbeitsmetaphysik Herbert Marcuses. Frankfurt 1977.

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