Ludmila Hanisch – Erlebnisse in einer über jeden Verdacht erhabenen Einrichtung

Erlebnisse in einer über jeden Verdacht erhabenen Einrichtung

Ludmila Hanisch

In einem Moment, in dem ich von heftiger Zukunftsangst und Furcht vor Obdachlosigkeit heimgesucht wurde, hinderte der Gedanke an meine noch nicht fertiggestellte Doktorarbeit mich nicht, mich auf einen Anschlag hin zu melden, auf dem ein Wohlfahrtsverband einen Übersetzer für Arabisch sprechende Flüchtlinge suchte. Da ich die einzige Interessentin für die Arbeit war, wurde ich sofort eingestellt. Über die geringe Bezahlung tröstete ich mich mit dem Argument hinweg, daß ich auf diese Weise Übung im Sprechen bekäme. Das wäre ein notwendiger Ausgleich für das Studium, das mir lediglich die Schriftsprache vermittelt hatte. Nicht eine Minute dachte ich darüber nach, in wie desperater Verfassung ich sein mußte, wenn ich mir eine Lohnarbeit gleichsam als bezahlte Fortbildung auslegte.

Mein Arbeitsplatz war in einem der von diesem Wohlfahrtsverband geführten Wohnheime für Asylbewerber. Ein Wohlfahrtsverband – das war in meiner Vorstellung bis dahin eine Organisation, die durch Kleider-, Geld- oder Blutspenden karitative Aufgaben finanzierte. Über ‘Asylanten’ hatte mich die Presse aufgeklärt, und sie waren mir auch im Stadtbild aufgefallen: kleinere Gruppen bei kalter Witterung unzulänglich gekleideter Menschen, die aus irgendwelchen Krisen- und Notgebieten hierhergekommen waren. Die einschlägigen Presseberichte, mit der Intention verfaßt, vor einer ‘Überflutung’ zu warnen, verhinderten zunächst, daß ich Asylbewerber mit Personen und Sachverhalten in Verbindung brachte, die ich im Grunde längst kannte, hatte ich doch während meines Studiums politische Flüchtlinge kennengelernt und etliches zum Beispiel über die Emigration aus dem faschistischen Deutschland gelesen.

Vom ersten Tag an begriff ich, daß der Heimbetrieb mit 15 Angestellten und 150 Bewohnern unmöglich aus der Sammelbüchse zu finanzieren war. Dieser ehrenamtliche Bereich existierte zwar, und ich sollte seine Existenz – oder genauer Konsequenzen seiner Existenz – noch zu spüren bekommen, hatte selbst damit aber nichts zu tun. Ich war in einem Dienstleistungsunternehmen tätig, das mit seinem Unterbringungsangebot den Behörden nicht zuletzt die Furcht vor einem unkontrollierten Eindringen der Flüchtlinge in die ‘normalen’ Wohnbezirke nahm. Der Verband stellte Sammelunterkünfte zur Verfügung, besorgte die Verpflegung der untergebrachten Personen und erhielt dafür pro Person vom Staat eine Vergütung, die weit über dem üblichen Sozialhilfesatz lag. Damit wurde für mich auch das hotelähnliche Abrechnungswesen erklärlich: Bürokräfte mußten die Verweildauer der einzelnen ‘Gäste’ errechnen und über die Endsumme eine Aufstellung an das Sozialamt schicken, Küchenbestellungen erledigen, den Verbrauch aufzeichnen und vielerlei Listen führen. Bei manchen Verwaltungsangestellten paarte sich der starre Blick auf die Abrechnung und Senkung der Kosten mit einer tiefen Abneigung gegen die Ausländer. Diese bildeten schon allein wegen ihrer komplizierten Namen, der oftmals noch abweichenden Familiennamen der Ehefrauen und der ‘unleserlichen’ Pässe eine permanente Gefahr für die Buchführung.

Die Kollegialität zwischen Verwaltungsangestellten und Übersetzern bzw. Sozialarbeitern, die ihre Arbeit unter dem diffusen Motto ‘den Flüchtlingen helfen’ angetreten hatten, war schon aus rein strukturellen Gründen beständig kleineren und größeren Zerreißproben ausgesetzt. Auch auf der Ebene der einzelnen Einrichtung schlug sich die Janusköpfigkeit des Dienstleistungsunternehmens in Sachen Sozialfürsorge nieder. Ein reiner Verwaltungsbetrieb kann nicht funktionieren, das hatten Schlägereien zwischen Küchenpersonal und Bewohnern in der Vergangenheit unter Beweis gestellt; hingegen brächte die Durchsetzung sozialfürsorgerischer Aspekte den Verband insgesamt noch weiter in die roten Zahlen. Dagegen konnten aus den Gewinnen im Flüchtlingsbereich Defizite etwa aus dem Bereich Hauskrankenpflege, der für das Image des Wohlfahrtsverbands besonders wichtig ist, ausgeglichen werden.

Über meine objektive Rolle bei diesem Balanceakt tröstete mich die Erfahrung hinweg, daß man im Einzelfall tatsächlich etwas verbessern konnte. Arztbesuche, das Schreiben von Anträgen, Verhandlungen mit Behörden etc. waren Aufgaben, die die Bewohner in der Regel nicht allein bewältigen konnten. Demütigungen konnten durch höfliche Vermittlung von Vorschriften verringert werden. Insgesamt lebte ich zunächst mit dem Eindruck, eine facettenreiche Tätigkeit auszuüben. Gelegentlich empfand ich sie als zu facettenreich, z.B. dann, wenn familiäre Streitigkeiten an mich herangetragen wurden. Manchmal wäre mir die Trennung der verkrachten Ehepartner als die einzige vernünftige Möglichkeit erschienen. Aber Leuten, die bereits aus ihrer vertrauten Umgebung herausgerissen worden waren, konnte ich nicht guten Gewissens zur Trennung raten. Die Aufnahme einer Arbeit zum Ausgleich der innerfamiliären Kräfteverhältnisse war durch das gesetzlich bestehende Arbeitsverbot für Asylbewerber verwehrt. Eine Umverteilung von Verantwortung wurde durch die Vollversorgung, die allen gleichermaßen Verantwortung abnahm, unmöglich gemacht. Ich mußte mir eingestehen, daß ich selbst in einer solchen Situation völlig hilflos wäre. Erwartet wurden von mir jedoch eine Autorität und Souveränität, deren Fehlen ich besser für mich behielt.

Zeitweise befiel mich das Gefühl meiner eigenen kommunikativen Unbeweglichkeit. Trotz der Vorschriften und Gesetze im Sozialhilfebereich entscheidet über den Erfolg eines Antrags immer auch ein Sachbearbeiter, der ganz bestimmte Vorstellungen und Vorlieben hat. Es erwies sich als sehr wichtig, mit ihm eine gemeinsame Verständigungsbasis zu finden; denn sonst erreichte man nichts. Das Fraternisieren konnte darin bestehen, daß man in seine Klagen einstimmte, aber die konkrete Angelegenheit zur großen Ausnahme erklärte. Bisweilen gelang es durch gemeinsames Achselzucken über die mangelnde Einsicht der betreuten Personen diesen etwas zukommen zu lassen. Bei einigen Bündnissen, die ich einging, war ich regelrecht froh, daß es keine Zeugen gab. Geriet man dagegen in den Verdacht einer allzu engen Verbrüderung mit Flüchtlingen, konnte man heftige Trotzreaktionen hervorrufen. In der jeweiligen Angelegenheit war dann nichts mehr zu erreichen. Als ‘Überläufer’ war man kein vertrauenswürdiger Gesprächspartner mehr. Eine derartige psychische Flexibilität hatte ich in meinen früheren Arbeitssituationen nicht unter Beweis stellen müssen. Fast wollte es mir scheinen, als hätte ich es weitergebracht, wenn ich schon früher darauf gestoßen worden wäre.

Mein Einübungsprozeß wurde durch die Taktik des Verbands, beständig weitere Dienstleistungen zu offerieren, beeinträchtigt. Das, was in der Sprache des Wohlfahrtverbands flexibles Eingehen auf Notsituationen hieß, bewirkte permanente Veränderungen meiner Aufgaben. Mal gab ich Deutschunterricht, dann verteilte ich Windeln und Seife, kurz darauf arbeitete ich wie eine Verkäuferin in einem Kleidergeschäft. Die Heimbewohner wurden öfter mal in ein anderes Haus umquartiert, weil das Heim einer anderen Gruppe zur Verfügung gestellt werden sollte. Derartige Veränderungen hatten beispielsweise als Nebeneffekt, daß mühselig aufgebaute Kontakte zu den Schulen, in denen die Flüchtlingskinder eingeschult worden waren, überflüssig wurden und bei einer anderen Schule, in einem anderen Bezirk, wieder von vorn angefangen werden mußte. Es gehörte zu meinen frustrierendsten Erlebnissen, daß gegen derartige Umsetzungen keine pädagogischen oder sozialpsychologischen Argumente etwas ausrichten konnten. Ich spürte an solchen Stellen, wie das Prinzip, möglichst hohe Gewinne zu erzielen, die Oberhand behielt.

Ich sah mich gezwungen, mich damit abzufinden und allenfalls bei allzu krassen Verletzungen humanitärer Vorstellungen zu prote stieren. Dieser Zustand hätte so weiter bestanden, wenn ich nicht eines Tages selbst in den Sog einer Umwidmungsaktion gekommen wäre. Ich wurde unter der unmißverständlichen Androhung von Entlassung für den Fall meiner Weigerung in ein anderes Wohnheim geschickt. Meine Bewerbung um die Leitung eines Hauses für alleinstehende Frauen wurde dabei schlichtweg übergangen.

Mein neuer Chef verkörperte eine Erscheinung, die es nur dank der Janusköpfigkeit des Wohlfahrtsverbandes geben konnte: die Fehlbesetzung von Posten auf Grund von Meriten, die sich jemand durch Aktivität im ehrenamtlichen Bereich erworben hat. Wenn jemand jahrelang am Wochenende seine Einsatzbereitschaft als Sanitäter oder bei der Durchführung von Sammelaktionen unter Beweis stellt, bringt ihm das in der Regel lobende Worte des Verbands ein. Einzelnen gelingt es dabei, Kontakte anzuknüpfen, die zu einem festen Arbeitsverhältnis führen. Sie sind selbst bei verbriefter Ahnungslosigkeit beliebte Bewerber, da sie eine distanzlose Loyalität zum Verband unter Beweis gestellt haben. Eine solchermaßen eingestellte und mittlerweile aufgestiegene Person saß nun in einem dunklen Anzug hinter seinem Schreibtisch, hatte meine Kollegen, die ebenfalls für Übersetzungs- und Betreuungsarbeit zuständig waren, teilweise stehend in seinem Büro versammelt und ließ die Frau aus der Verwaltung in Sachen Kaffeekochen hin- und herlaufen. Nachdem ich meinen Namen gesagt hatte, kramte er in einem Papierstapel herum und fragte, was ich denn so könne. Zu einer Antwort gab er mir keine Gelegenheit, da er sofort eine Liste europäischer Sprachen herunterleierte, von denen er keine einzige konnte – wie ich später feststellte. Als ich zweimal ja sagte, stutzte er, und ich schob ein, daß ich wegen meiner Arabischkenntnisse im Flüchtlingsbereich arbeitete. In einem maulenden Ton, der seinen seriösen Anzug als bloße Verkleidung eines quengelnden Kindes entlarvte, stellte er fest, daß er aber jemanden für Persisch brauche. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß er dieses Problem mit dem Abteilungsleiter klären müsse. Damit war unsere erste Begegnung beendet, und die Weichen für unsere künftige Zusammenarbeit waren gestellt.

Dank der Unterstützung der erfahrenen Büroangestellten, die sich auch für das Wohl der Bewohner verantwortlich fühlte, konnte ich mir ein Büro mit den notwendigsten Arbeitsinstrumenten einrichten. Schwierig war nur ein Telefon zu bekommen, und ebenso schwierig war es, die Installation eines Kühlschranks in dem recht kleinen Raum abzuwehren. Mein Ansinnen, einen Stempel für die Korrespondenz zu erhalten, löste hingegen einen regelrechten Skandal aus; der Abteilungsleiter mußte quer durch die Stadt fahren, um die Wogen zu glätten. Er gab dem Heimleiter und mir recht, aber den Stempel erhielt ich nie.

Was der Stempel für den Heimleiter war, war das Schlüsselbund für den Hausmeister. Einen Schraubenzieher erbat man von ihm vergeblich. Als Antwort klapperte er mit dem Schlüsselbund und sagte: “Hab ich nicht”. Manchmal benutzte er bei Anfragen die Variante: “Weiß ich nicht”. Standen Reparaturen an, hängte er sich ans Telefon und bestellte eine Firma – nicht jedoch, ohne zuvor die Räume, in denen der Schaden war, abzuschließen. Lediglich beim Auswechseln von Schlössern legte er selbst Hand an. Auf diese Weise hatte er im Laufe der Zeit die Schließanlage, für die ein Generalschlüssel existierte, außer Kraft gesetzt und war gezwungen, mit einem riesigen Bund von Einzelschlüsseln zu klappern. Seine Gestik drängte mir eine psychoanalytische Interpretation förmlich auf: sicher würde er sich kastriert vorkommen, wenn man ihm das Schlüsselbund wegnähme, und sein Herumschreien verkäme zu einem kaum hörbaren Flüstern. Er äußerte beständig, daß er sich und die Sachen gegen Diebstahl und Zerstörung durch die Hausbewohner schützen müsse. Hausinterne Gerüchte und der BMW, den er sich geleistet hatte, deuteten eher auf die Absicherung der Beschaffungskriminalität von Heimleiter und Hausmeister hin. Meine Versuche, irgendwelche Verantwortlichen dafür zu interessieren, daß es im Brandfall unweigerlich zu einer Katastrophe kommen müsse, da niemand Zugang zu den einzelnen Kellerräumen habe, waren vergeblich. Übrigens fand die Sorgfalt des Hausmeisters den Schlüsseln gegenüber keine Parallele in der Sorgfalt gegenüber den Sachen, die in den Räumen untergebracht waren. Bei mir verschwanden während eines Urlaubs drei dicke Wörterbücher, und verschiedene Hausebewohner klagten über Verluste. Bei letzteren konnte man das Problem einfach lösen: jeder weiß, daß Asylbewerber lügen. Ich bekam meine Wörterbücher von der Abteilung ersetzt, noch bevor ich Anzeige erstatten konnte. Die Chance zu einer breiteren Darlegung der Zustände war mir damit genommen.

Hatte ich bis dahin erfahren, daß eine sparsame Wirtschaftsführung oberstes Gebot der Heimleitung war, lernte ich in dieser Einrichtung, daß die Maxime ‘Füttern und Kleinhalten’ den Angestellten gegenüber und ‘Füttern und Ruhighalten’ den Heimbewohnern gegenüber ebenfalls von der Abteilung toleriert wurde. Die opulenten Mahlzeiten für die Angestellten, die aus den Küchenbeständen des Heims zusammengestellt wurden, verursachten mir jedoch ernsthafte Magenbeschwerden, weil ich sie in Verbindung mit Klatschgeschichten, Diffamierungen von Bewohnern und hypochondrischen Betrachtungen einzelner Kollegen über ihren Gesundheitszustand einnehmen mußte. Vor allem vermittelte mir die Großzügigkeit des Chefs das Gefühl, daß ich bei ihrer Inanspruchnahme nicht mehr gegen ihn opponieren könnte, und ich beschloß, mich aus dem gegenüberliegenden Laden zu versorgen. Heimbewohner, die sich lauthals über zu wenig Windeln beschwerten, bekamen so viele, daß sie ihr Baby alle zwei Stunden hätten aus dem Schlaf reißen müssen, um sie zu verbrauchen.

Neben der hausspezifischen Wirtschaftsführung stellte die hausinterne Form der Arbeitsteilung ein Unikum dar. Außer mir gab es noch drei Kollegen mit prinzipiell den gleichen Betreuungsaufgaben wie ich. Sie waren Araber und lebten ein paar Jahre länger in Deutschland als die Flüchtlinge. Abgesehen von ihren Sprachkenntnissen, die sich allerdings weitgehend auf das Mündliche beschränkten, hatten sie keine Ausbildung, die sie für diese Arbeit qualifiziert hätte. in der Abteilung gab es zwar auch ausländische Intellektuelle, die sich selbständig informierten und Schriftstücke verfaßten; in diesem Trio konnte das jedoch keiner. In ihren Auffassungen unterschieden meine Kollegen sich nur in Nuancen voneinander. Einer von ihnen war der Ansicht, daß die Flüchtlinge viel zu sehr in Watte gepackt und deshalb immer unverschämter würden. Der andere schwieg dazu und jammerte stattdessen ausgiebig, daß man in dieser Gesellschaft wie eine Maschine funktionieren müsse, und schwärmte von seiner Heimat. Sie fühlten sich in eine rassistische Gesellschaft hineingestellt und unterließen es deshalb von vornherein, beispielsweise Flüchtlingskinder einzuschulen oder Erwachsene in Deutschkurse zu vermitteln. Ihre wichtigste Funktion bestand darin, den Heimleiter bei seinen Überraschungs- und Kontrollvisiten innerhalb des Hauses zu begleiten. Nach Möglichkeit trat das Quartett gemeinsam auf und konnte schon durch seine physische Präsenz in einem kleinen Zimmer Beklemmungen verursachen. Wenn ein Heimbewohner zwischen solchen Besuchen und der letzten polizeilichen Durchsuchung in seinem Zimmer Vergleiche anstellte, fielen diese immer zugunsten letzterer aus. Zu ihren Aufgaben als Hilfssheriff zählten sie ferner die Bekanntgabe ‘heimfremder’ Besucher und das Ausschnüffeln heiminterner Intimitäten. Die Kehrseite der absoluten Loyalität gegenüber dem Heimleiter und seinen archaischen Straf- und zwanghaften Kontrollbedürfnissen bestand in der Entlastung von jeglicher verantwortlichen Tätigkeit. Etwaige Nebenwidersprüche wurden abends in der Kneipe oder auch bei gemeinsamen ‘dienstlichen Besorgungen’ ertränkt.

Als die wirklich sehr beschäftigten Frauen aus der K üche sich gegen das Ausgeben von Windeln zu wehren begannen, befand der Heimleiter, daß ich ‘dank meiner Sprachkenntnisse’ ja wohl die Geeignetste sei, um diese Aufgabe zu übernehmen. Da ich vermutete, es ginge ihm viel eher darum, mich eine Weile zu blockieren, weigerte ich mich mit dem Hinweis auf die hervorragenden Sprachkenntnisse meiner drei Kollegen. Nachdem ich einen halben Tag mit nichts als einem Bleistift in der Hand im Büro verbracht hatte, wurde erneut der Abteilungsleiter geholt. In diesem Fall konnte ich die Aufgabe abweisen, da meine Kollegen keine Briefe schreiben konnten und die beiden Frauen aus dem Verwaltungsbüro ausreichend beschäftigt waren. Die quantitative Aufgabenverteilung innerhalb des Hauses entlang der Geschlechterlinie war dermaßen augenfällig, daß wir Frauen uns nicht enthalten konnten festzustellen, daß für den Heimleiter Männer per definitionem zum arbeitenden Teil der Menschheit gehörten, während Frauen wirklich schuften mußten, um dazuzugehören. Als Ergebnis stellte sich gleichsam automatisch eine Frauensolidarität her, die ich in dieser Reinkultur bisher nirgends kennengelernt hatte. Allerdings hatte ich eine derartige Zusammenballung von herrschaftlichem Männergehabe bisher auch noch nicht erlebt. Mein Chef und meine Kollegen hatten ohne jegliche Vorbereitung die Sozialarbeit als Aufgabengebiet erhalten. Im Fall widersprüchlicher Anforderungen war ihnen der Rückzug auf die rein administrative Tätigkeit auf Grund fehlender Kenntnisse verwehrt. Die Kaschierung von Defiziten durch in der Sozialisation eingeübte mütterliche Verhaltensweisen stand ihnen als Verhaltensmuster ebenfalls nicht zur Verfügung. Als spontane Rückzugsmöglichkeit kannten sie nur die Rolle des Feldwebels bzw. des Hilfssheriffs. Letztere boten die Chance, sich dank einer Position in der Hierarchie und dank der zur Verfügung stehenden Sanktionsmöglichkeiten durchzusetzen. Entsprechend hoch war die Zahl der Heimverweise, die gegenüber Bewohnern durchgesetzt wurden.

Beschäftigt mit meinen Frustrationen auf Grund der Versetzung und der ersten Kontakte mit den neuen Kollegen machte ich mir etwas widerwillig eine Liste der im Heim lebenden Flüchtlinge und dachte mit Unbehagen daran, daß ich nunmehr diese Namen lernen und die Personen, die sich dahinter verbargen, kennenlernen mußte. Anscheinend war die erste Begegnung mit den Kollegen so anstrengend verlaufen, daß ich keine Lust auf neue Bekanntschaften hatte. Ich verschanzte mich hinter allen möglichen Schreibtischtätigkeiten – Bestandsaufnahmen, Statistiken – und rationalisierte mein Verhalten damit, daß ich mir sagte, daß ich dringend eine Grundlage für meine Arbeit bräuchte. Im nachhinein kann ich mir jedoch eingestehen, daß ich ‘Wackersteine’ in meiner Schublade anhäufte, um damit zu schmeißen, wenn man mich bedrohte. In diesem Milieu eines relativen Analphabetismus konnte die Dokumentation eine wirksame Waffe sein. Es war leichter, Kollegen und auch Heimbewohner zum Schweigen zu bringen, wenn man ihnen zeigen konnte, daß die Zahlen gegen ihre Behauptungen sprachen. Beispielsweise gab es einige Aufgaben, die von Heimbewohnern gegen Entgeld übernommen wurden. Diese Arbeiten – Müllbeseitigung, Reinigungsaufgaben, Telefondienst u.a. – waren heiß umkämpft, weil sie die einzige Möglichkeit darstellten, an Geld zu kommen. Mit dem Argument, sie hätten seit Monaten nicht mehr gearbeitet oder der Nachbar würde beständig vorgezogen, versuchten einige Bewohner möglichst häufig an eine solche Tätigkeit heranzukommen.

So führte ich in den ersten Wochen einen privaten Zweifrontenkrieg, dessen erste Front erst dann zum Stillstand kam, als ich beobachtete, daß Bewohner – im Unterschied zu meinen Kollegen – dem Heimleiter durchaus in aller Öffentlichkeit widersprachen. Ich betrachtete sie von da an als meine Bundesgenossen, die meine Auffassungen teilten und die entsprechend Anspruch auf meine Solidarität hatten. Es begann eine regelrechte Kumpanei zwischen mir und dem Großteil der Bewohner. Bei jeder Klage, die einer von ihnen äußerte, lief ich treppauf treppab, um der Ursache nachzugehen bzw. um ihr abzuhelfen. Bei Behördenproblemen nahm ich alle erdenklichen Stellen in Anspruch, um eine Lösung zufinden. Ich machte mir die Probleme – angefangen von einem zerrissenen Handtuch über verfaulte Tomaten bis hin zu abgelehnten Asylanträgen – so weit zu eigen, daß ich hinter den Heimbewohnern herlief, wenn ich das Gefühl hatte, sie kümmerten sich nicht kontinuierlich genug um ihre Interessen. Letztlich aus dem Motiv heraus, mir Genugtuung zu verschaffen, forderte ich sie auf, der jeweiligen Angelegenheit doch bitte weiter nachzugehen. Ich rechtfertigte mich damit, daß es doch eine allgemein bekannte Erscheinung sei, daß Asylbewerber auf Grund ihrer Lebenssituation leicht resignieren und in Apathie verfallen. Bei der Anzahl der Heimbewohner schuf ich mir auf diese Weise aber eine erhebliche Arbeitsbelastung und war ständig im Laufschritt unterwegs.

Die Abneigung meiner Kollegen mir gegenüber wuchs und meine Wut auf sie ebenfalls: sie sahen mich als Bedrohung ihrer Ruhe, und ich verachtete sie, weil sie unfähig waren. Die Heimbewohner freuten sich dagegen über meinen Aktionismus und waren weit davon entfernt, mich zu bremsen. Einer äußerte die Vermutung, daß ich wohl deshalb arbeite, weil ich mich zu Hause langweilte. Er war davon ausgegangen, daß ich im Prinzip genügend Geld hätte. Das Zwanghafte meines Verhaltens wurde mir einmal vor Augen geführt, als ein Heimbewohner kurz vor Dienstschluß in mein Büro kam, um zu fragen, was es denn Neues gäbe. Da ich den ganzen Tag herumgerannt war und mich entsprechend erschöpft fühlte, fuhr ich ihn unwirsch an und schickte ihn zu seinen Freunden: schließlich sei ich nicht auch noch als Entertainer angestellt. Ein anderes Mal verdarb mir ein sehr höflicher Bewohner mit seinen besten Wünschen für das Wochenende unwissentlich meine freien Tage, nahm ich sie doch zum Anlaß, um über meine Freizeitgestaltung nachzudenken, und kam zu dem deprimierenden Schluß: Mein einziger Wunsch am Wochenende war es, nichts zu sehen und zu hören. Den gleichen Effekt produzierte einmal die Frage: Macht Ihnen Ihr Job eigentlich Spaß? Ich mußte mir eingestehen, daß ich mir lediglich ausgenutzt und ausgebeutet vorkam. Ich fing wieder an, mich zu bewerben. Aber meine Versuche, eine andere Arbeit zu finden, verliefen erfolglos.

Aus dem Gefühl heraus, daß die Heimatmosphäre auch die Heimbewohner schlichtweg krankmachen müsse, konzentrierte ich mich darauf, ihnen einen möglichst raschen Auszug zu ermöglichen. Der entscheidende Schritt aus der Misere erschien mir der Bezug einer eigenen Wohnung. Auf dieses Ziel verlegte ich von nun an den Hauptteil meiner Aktivitäten. Aus der Distanz betrachtet, sind die Perspektivlosigkeit und die verordnete Untätigkeit in erster Linie für das psychische Elend der Asylbewerber verantwortlich, aber mir erschien mit dem Auszug aus der repressiven Atmosphäre des Heims schon der wichtigste Schritt zur Verbesserung getan. Die Wohnungssuche enthob mich für viele Stunden des Tags meiner Präsenzpflicht im Wohnheim. Oft lief ich stundenlang mit einem Wohnungsuchenden durch die Stadt, besichtigte große und kleine Zimmer, verhandelte mit Maklern, Vermietern und dem Sozialamt. Wegen der beständigen Fluchtmöglichkeit, die sein Anliegen für mich verkörperte, hatte jeder Wohnungsuchende meine volle Sympathie. Je länger wir gemeinsam unterwegs waren – manchmal waren es Wochen –, desto enger wurde die Interessengemeinschaft. In der Regel bot das Heimleben genügend Stoff für intensive Unterhaltungen. Zwischendurch erholten wir uns im Café, und manchmal ging die Komplizenschaft so weit, daß ich schnell mal meine eigenen Angelegenheiten erledigte. Das war eine große Hilfe für mich, da meine arbeitsfreie Zeit durch die enorme Entfernung meines neuen Arbeitsplatzes von meinem Zuhause erheblich geschrumpft war, und steigerte nicht nur meine Sympathie für den Betreffenden, sondern machte mich auch von ihm abhäng ig. Ich wurde traurig, wenn die Wohnungssuche schließlich erfolgreich war, hatte ich doch jedesmal den Eindruck, daß nun die nettesten Leute das Haus verlassen hatten.

Nur in der Stadt herumlaufen konnte ich freilich nicht, da ich die Aufgabe hatte, den Heimleiter in seiner Abwesenheit zu vertreten. Glücklicherweise war er sehr häufig abwesend, und ich konnte in solchen Momenten versuchen, nicht mehr veränderbare Tatsachen zu schaffen. Aus diesem Grund gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen Heimleiter und Stellvertreterin zu einem mittleren Indianerspiel. An manchen Tagen schaute ich zunächst aus dem Fenster, um festzustellen, ob sein Auto endlich weg war, dann begann ich verschiedene Angelegenheiten zu regeln, Besuchsgenehmigungen auszustellen, das Übernachten ‘heimfremder’ Personen zu erlauben, u.ä. Die Heimbewohner machten den Blick aus dem Fenster nach und kamen erst dann mit Anfragen, wenn der Heimleiter das Haus verlassen hatte.

Da es sich auch nach Ansicht der Büroangestellten sehr viel angenehmer lebte, wenn der Leiter nicht da war, spendierten wir lauthals kichernd dem Arzt für jede zweifelhafte Krankschreibung unseres Chefs Blumen . Da es aber auf die Dauer nicht bei diesen infantilen Verhaltensweisen bleiben konnte, strebten wir eine dauerhaftere Lösung des Problems an und beratschlagten, wie wir den Heimleiter loswerden könnten. Unsere Sorge war, lediglich an seinem Stuhl zu sägen, aber nicht genug zu erreichen, um ihn endgültig loszuwerden. So sammelten wir gemeinsam Munition: überzogene Fahrtkostenabrechnungen, Rechnungen für Waren, die niemals im Heim auftauchten, Nichteinhalten der Dienstzeiten etc. Die Heimbewohner halfen beim Sammeln, sie erzählten, daß der Heimleiter mit dem Hausmeister am Wochenende vorbeigefahren käme und seinen Wagen mit Lebensmitteln aus der Heimküche vollüde. Wann immer wir eines Schlüssels habhaft werden konnten, zählten wir die Haushaltsbestände im Lager und verglichen sie mit den bestellten Mengen. Es fehlte immer ein ziemlicher Anteil. Nach meiner Schätzung betrugen die Nebeneinnahmen von Heimleiter und Hausmeister mindestens 50% ihres regulären Einkommens. Wir beratschlagten mit Kollegen aus anderen Einrichtungen, wie wir eine Denunziation am besten in die Wege leiten könnten, und ernteten ernsthafte Warnungen, es bloß nicht dilettantisch anzufangen, sonst sei unser Stuhl gefährdet. Vorklärungen bei der Abteilungsleitung brachten ähnliche Ergebnisse: Auf bloße Verdächtigungen wolle man nicht reagieren, wir müßten schon Beweise auf den Tisch legen. Ich wollte jedoch nicht meine Wochenenden mit der Kamera auf der Lauer liegend im Wohnheim verbringen, zumal jeder Besucher – und ich selbst wäre am Wochenende ein Besucher gewesen – vom Pförtner auf eine Liste gesetzt wurde. Wir hofften, wenn sie nur einen entsprechenden Tip bekäme, würde die Buchhaltung schon von selbst hinter die Schiebereien kommen. Da aber nur die Geldströme und nicht die Warenströme erfaßt wurden, erfolgte von dieser Seite nichts. Es verstärkte sich der Eindruck, daß niemand etwas wissen wollte. Immerhin hätten schon allein 1200 km Dienstfahrten im Monat eine Rückfrage provozieren können. Wir fingen an, auf Stellen von außerhalb zu hoffen. Aber von der städtischen Verwaltung wurden alle Anfragen mit dem Hinweis darauf beantwortet, daß man sich in heiminterne Angelegenheiten nicht einmischen wolle. Lediglich die evangelische Kirchengemeinde reagierte, als eine schwangere Frau vom Heimleiter so heftig angegangen wurde, daß sie mit Wehen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußte und mit einer Frühgeburt niederkam. Ihre Anfrage wurde aber mit dem Hinweis auf die Überlastung des Personals, die in einem so großen Haus nun mal entstände, beantwortet. Als sich im Testament eines verstorbenen Heimbewohners auch ein Brief fand, in dem eine Reihe von Mißständen angeprangert wurden, wurde unser Heimleiter gefragt, ob denn an diesen Vorwürfen etwas dran sein könnte. Nachdem er seinem Vorgesetzten versichert hatte, daß alles erfunden sei, war die Angelegenheit erledigt.

Ich gewann den Eindruck, daß allenfalls ein Diebstahl im Beisein des Abteilungsleiters und vieler anderer Zeugen einen Zwang zum Reagieren darstellen würde, mit anderen Worten eine erfolgreiche Denunziation ein Ding der Unmöglichkeit war. Da ich merkte, daß ich in meiner Sichtweise immer mehr verunsichert wurde, und meine private Umgebung auch nicht grenzenlos mit meinen Geschichten füttern konnte, stellte ich schließlich einen Versetzungsantrag. Die Umsetzung wurde mir nach einigen Monaten ermöglicht, aber nur weil ich bereit war, eine Gehaltseinbuße in Kauf zu nehmen. Noch mehr aber wurde mein Verhältnis zum Wohlfahrtsverband dadurch getrübt, daß man mir bei der Versetzung mitteilte, die neue Stelle sei meine letzte Chance, falls es dort auch Probleme gäbe…

Trennmarker