Fabian Kettner – Durch Sozialismus zur Nation * Rezension Willy Huhn, Der Etatismus der Sozialdemokratie

Fabian Kettner

Durch Sozialismus zur Nation!

„.. wir müssen uns endlich klar werden, daß es, seitdem sich Menschheit von Politik betrügen läßt, nie ein größeres Mißlingen gegeben hat als das Tun dieser Partei, und daß die Entehrung sämtlicher Ideale, die sie benützt haben, um mit der Bürgerwelt teilen zu können, vollendet ist.“
Karl Kraus, Oktober 1932

Die Überschrift ist eine Losung von Baldur von Schirach, Reichsjugendführer der NSDAP, und sie fasst die historische Leistung der Sozialdemokratie, dieser „staatlich konzessionierten Anstalt für den Verbrauch revolutionärer Energien“ (Kraus), zusammen. Der Nationalsozialismus ist, so resümiert Huhn, „das unvermeidliche Ergebnis der ganzen Geschichte der Sozialdemokratie“ (151).

Willy Huhn (1909-1970), gelernter Buchhändler, bewegte sich Zeit seines Lebens als Autodidakt in linkssozialistischen Kreisen. Zunächst war er Mitglied des Zentralverbandes der Angestellten, ab Ende 1930 der Jungsozialistischen Vereinigung Groß-Berlin (und dadurch widerwillig automatisch SPD-Mitglied), später bis Anfang 1933 der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), dann der klandestinen Roten Kämpfer. 1933 und 1934 wurde er kurzzeitig inhaftiert, kam aber offenkundig weitgehend ungeschoren durchs Dritte Reich. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er kurz an verschiedenen VHS. 1953 wurde er aus der SPD ausgeschlossen und musste von da an in diversen kleinen Zirkularen publizieren.

Der ça ira-Verlag der Freiburger Initiative Sozialistisches Forum (www.isf-freiburg.org), dem immer wieder für die Neuauflage von nicht mehr erhältlichen Klassikern linker Theorie zu danken ist, hat nach der Wiederveröffentlichung der Thesen über den Bolschewismus der Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands und Anton Pannekoeks Lenin als Philosoph in dem Band Marxistischer Antileninismus mit den nun vorliegenden zwei Schriften Huhns wieder eine weitgehend unbekannte linke innermarxistische Kritik wieder zugänglich gemacht: zum einen Etatismus – „Kriegsssozialismus“ – „Nationalsozialismus“ in der Literatur der deutschen Sozialdemokratie, von 1933, im Jahre 1952 in der Zeitschrift Aufklärung, 1970 in der letzten Ausgabe der SDS-Zeitschrift Neue Kritik erschienen; zum anderen Bilanz nach zehn Jahren, von 1939/40, ein bislang unveröffentlichtes Typoskript aus dem Nachlass Willy Huhn beim Institut für Internationale Sozialgeschichte (IISG) in Amsterdam.

Huhn setzt sich mit verschiedenen Schriften der Sozialdemokratie auseinander. Bereits Ferdinand Lassalle pflegte eine „staatsbejahende und staatserhaltende Gesinnung“ (31) und erhob „diktatorischen Führungsanspruch“ (32). Bereits früh konnte man theoretische Überschneidungen mit dem in der Tradition einer ‚organischen Volkswirtschaftslehre’ der deutschen Nationalökonomie stehenden autoritären und totalitären „Staatssozialismus“ der sog. „Kathedersozialisten“ feststellen. Diese trachteten, „den Klassenkampf des Proletariats noch innerhalb der kapitalistischen Klassengesellschaft aufzuheben bzw. unmöglich zu machen“ (41). Beide betrachteten den Staat als eine „über den Klassen stehende Instanz“ (50) zur Regulation sozialer Konflikte. Der Staat gilt als reine Form, indifferent gegen seinen Inhalt. Die SPD kämpfte „für eine andere Form des Staates, nicht gegen den Staat an sich“ (105), weil sie der Überzeugung ist, „daß der Staat … das bewußte Vollzugsorgan der Gesellschaft sei, … daß die Gesellschaft anders als in der Form des Staates nicht existieren könne“ (143).

Das staats- und deutschtreue Verhalten der Sozialdemokratie zum Beginn des Ersten Weltkrieges sieht Huhn nicht als „Verrat“ an marxistischen Idealen, denn diese habe sie nie gehabt. Die Kriegswirtschaft fand bei den Sozialdemokraten große Sympathie. Der Staat stelle „die Privatwirtschaft in seinen Dienst“, so begeisterte sich Eugen Varga, weise „viele Züge der sozialisierten Wirtschaft auf“ und beschütze „die Allgemeinheit gegen die Profitwut der Kapitalisten“ (56). Indem der Staat die Wirtschaft und das gesamte gesellschaftliche Leben durchdringt und diszipliniert, zum „totalen Staat“ (115) wird, scheint er auf das Ziel Sozialismus hinzuarbeiten. Dieser war eine Frage der richtigen Organisation, d.h., so Johann Plenge, der „Befreiung des Einzelnen zur bewußten Einordnung in das begriffene Lebensganze von Staat und Gesellschaft“ (59). Wenn die Gesellschaft im Staat sich konzentriere, so hatte man von Lenin und Hilferding gelernt, dann könne man den Apparat übernehmen und für den Sozialismus benutzen. Man verwechselte also Vergesellschaftung mit Verstaatlichung; es war ihnen „die staatliche Organisationsform wesentlich und nicht die gesellschaftliche, die lediglich Objekt des staatlichen Subjekts ist“ (58).

Der Sozialdemokratie erledigte die Aufgabe, die Arbeiterschaft in den Staat einzubauen und die Nation zu festigen, – ähnlich wie in Russland die Bolschewiki und in Italien der später faschistische Syndikalismus. Huhn erblickt in ihnen „nationalhistorisch und geographisch unterschiedene, im soziologischen und dialektisch-historischen Aspekt aber als im Wesen ähnliche Formen der im Imperialismus notwendigen ‚militarisierten Gesellschaft’“ (128).

Zwar gesteht Huhn zu, dass mit dem Kriegssozialismus erstmalig „tatsächlich eine ‚Volksgemeinschaft’“ entstand („wenn eben auch zunächst nur als nationale Wehrgemeinschaft“) (115f.), also nicht nur als ideologisch-funktionelles Ablenkungsmittel, – aber wie und gegen wen diese sich synthetisiert, der Antisemitismus also, das kommt bei Huhn nicht vor. So avanciert, illusionslos und für seine Zeit gänzlich rückhaltlos unmarxistisch er gegen die sozialdemokratische wie kommunistische Parteilinie analysiert, so hat er mit ihnen diesen blinden Fleck gemeinsam.

Bochumer Studentenzeitung

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