Stephan Wirner über Ulrich Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat

Stefan Wirner

Mißverständnis Antisemitismus

Ulrich Enderwitz deutet den Antisemitismus als Ersatzhandlung in Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche. War der Holocaust gar nicht so gemeint? War die Durchführung des Holocausts eine Ersatzhandlung, ausgelöst durch die Zuspitzung ökonomischer Widersprüche innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft Deutschlands? Der in Berlin lebende Publizist Ulrich Enderwitz legt in: Antisemitismus und Volksstaat – Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung, das nun in zweiter, erweiterter Auflage bei ca ira erschienen ist, diese Deutung nahe.

In dem Buch, das zwei Abhandlungen aus den Jahren 1981 und 1991 und einen philosophischen Essay mit aktuellen Bezügen umfaßt, analysiert Enderwitz die Geschichte der deutschen Staatenbildung: vom Feudalismus über den preußischen Obrigkeitsstaat und die sozialdemokratisch-populistische Weimarer Republik bis hin zum nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsstaat. Dabei sind seiner Theorie nach die Juden Opfer einer neurotischen Verschiebungsleistung in Zeiten wirtschaftlicher Umbrüche und Krisen. Dies betreffe den mittelalterlichen “Burgjuden” auf ähnliche Weise wie den “Hofjuden” im Absolutismus und den “Liberalitätsjuden” der Neuzeit. Juden dienten als Prügelknaben und erlitten stellvertretend den Zorn derjenigen gesellschaftlichen Gruppen, die bei wirtschaftlichen Veränderungen den kürzeren ziehen. Antisemitismus ist bei Enderwitz ein vom jeweiligen Staat eingesetztes Instrument der Gefahrenabwehr, das die Auflehnung gegen die Wirtschaftordnung, für die der Staat gegenüber seinem Klientel bürge, kanalisiere und von ihrer Zielrichtung ablenke. Enderwitz’ These besagt, “daß der europäische Antisemitismus nicht Problemen entspringt, welche die europäischen Gesellschaften mit ihren Juden haben, sondern von Anfang an Ausdrucks- und Projektionsmittel interner Konflikte der betreffenden Gesellschaften selber ist”. Im Vergleich zum Antijudaismus früherer Zeiten charakterisiert Enderwitz den “modernen” Antisemitismus als vor allem politökonomischer Natur, als “Symptomhandlung oder Abreaktion”, als “Ablenkungsmanöver”, Juden fungierten als “Projektionsmedium eines verschobenen Protestes”.

Antisemitismus als umgeleiteter sozialer Protest: eine Deutungsvariante, die spätestens seit Goldhagen auf dem Prüfstand steht. Enderwitz kann das enorme Gewaltpotential, das sich im “Dritten Reich” gegen Juden entlud, in seiner Analyse nicht fassen. Wenn er auch einleuchtend die Konfliktbewältigungsstrategien des bürgerlichen Staates in der Krise darlegt, den Umschlag in den barbarischen Terror – den “eliminatorischen Antisemitismus”, wie es bei Goldhagen heißt – vermag er nicht schlüssig zu erklären. Wie kann eine am “Ersatzobjekt Jude geübte Verdrängungspraxis” in das Grauen von Auschwitz münden? Nach Enderwitz verwandle sich der eher mit herkömmlichen Zügen ausgestattete Antisemitismus der frühen 30er Jahre “plötzlich – mitten im Krieg” in eine eliminatorische Praxis. Das Jüdische stelle sich “dem Führerstaat plötzlich als ein ernstzunehmender, im Felde greif- und angreifbarer Gegner dar.” Vielleicht haben aber auch diejenigen, die in den 30er Jahren Mein Kampf gelesen haben, schon vorher gewußt, worauf das “Dritte Reich” hinauslaufen sollte.

Matthias Küntzel u.a. haben Enderwitz in ihrem Buch Goldhagen und die deutsche Linke kritisiert: “Während Goldhagen plausibel macht, daß der Vernichtungskrieg im Osten die Gelegenheit für die Durchführung des lange vorher gehegten Vernichtungswunsches bot, ergibt sich bei Enderwitz die Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Europa erst als Konsequenz aus der Logik des totalen Krieges.” Tatsächlich vermag Enderwitz nicht darzustellen, wie eine “volksgemeinschaftliche Aggression” sich zu einer “Ausrottungs- und Beseitigungsaktion” steigern kann. Wenn der Staat als übergeordneter Interessenverwalter eine Seite seiner Interessenten zur begeisterten Teilnahme an Massentötungen bewegen kann, dann läßt dies gewisse Dispositionen vermuten, die schon lange vor der Kriegshandlung virulent gewesen sein müssen. Das dialektisch-materialistische Geschichtsbild Enderwitz’ kann bestimmte Phänomene nicht adäquat fassen: Warum gibt es Antisemitismus auch in Zeiten, da er nicht in staatlich-wirtschaftlichem Interesse liegt? Wenn die Ermordung der Juden hauptsächlich der Kriegslogik geschuldet war, wie konnte dann ein Bericht über jüdische Flüchtlinge und Displaced Persons in Europa im Jahre 1946 zu folgendem Schluß kommen: “Man kann ruhig offen sagen, daß achtzehn Monate nach Kriegsende der Krieg gegen die europäischen Juden noch nicht zu Ende ist” (zit. nach Brenner, Michael: Nach dem Holocaust, München, 1995, S.25). So kamen zwischen 1945 und 1947 noch 1000 Juden bei Pogromen (vor allem in Polen) ums Leben. Auch die Tatsache, daß der Antisemitismus gerade in Deutschland eliminatorische Praxis wurde, kann mit der “Not der gesellschaftlichen Verspätung” nicht vollständig erklärt werden. Bei Enderwitz steht hinter dem Antisemitismus (im faschistischen Staat) die “komplizenhaft ineinander verwirkte Existenz” von Bürgertum, Arbeiterschaft und Kapital. Warum jedoch die wirtschaftlichen Verlierer immer wieder aufs Neue auf das Täuschungsmanöver Antisemitismus, das der jeweilige Staat laut Enderwitz inszeniere, hereinfallen, bleibt offen. Nach Enderwitz schlägt der Antisemit den Sack und meint den Esel. Was aber, wenn er doch den Sack meint? Das ist das missing link dieser dennoch sehr lesenswerten Abhandlung über das Verhältnis von Antisemitismus und staatlichem Handeln.

Trennmarker