Wolfgang Wippermann – Agnolis Faschismustheorie

Wolfgang Wippermann

Agnolis Faschismustheorie

Johannes Agnoli ist bereits zur Legende geworden. Seine Berliner Vorlesungen und Vorträge faszinierten durch Witz und (italienisches) Temperament. Agnoli selber war alles andere als ein “Lämmchen”, sondern mehr einem Löwen vergleichbar, der mit seinen immer unzeitgemäßen Betrachtungen den heute fast ausgestorbenen Typus des wirklich politischen Professors der Politikwissenschaft verkörperte, bzw. verkörpert, denn Agnoli lebt und kommt ab und zu aus der italienischen Provinz in die deutsche Hauptstadt, wo er seine immer noch recht große Fangemeinde zu Begeisterungsstürmen hinreißt.

Einige seiner Fans bzw. seiner Schüler und – so reden sie sich wirklich noch an – “Genossen” geben nun seine “Gesammelten Schriften” heraus . Eine MEGA ist und wird dies wohl nicht werden, eine Sammlung von immer noch oder gerade wieder höchst lesenswerten politischen Beiträgen ist es jedoch allemal. Der vorliegende Band 4 enthält seine in den 60er und 70er Jahren verfaßten Aufsätze zur Faschismusproblematik.

Am Anfang steht daher ein bereits 1966 geschriebener kleiner Aufsatz über “die bürgerliche Gesellschaft und ihr Staat”. Hier räumt Agnoli zunächst einmal mit einigen bürgerlichen Staatstheorien gründlich auf, die damals hoch im Kurs standen und stehen, um dann den “bürgerlichen Staat” als “Klassenstaat” zur “Sicherung der Klassenstruktur” zu definieren. Neu oder gar originell ist dies zweifellos nicht. Doch Agnoli bleibt hier nicht stehen, sondern fügt zwei weitere Gedanken an.

Einmal den Hinweis, daß sich der “Staat ebenso gegen die eigene Gesellschaft kehren” kann. Wann und warum? Erstaunlicherweise geht Agnoli darauf und auf die in den Bonapartismusschriften von Marx und Engels zu findende These nicht ein, wonach sich die “Exekutive” in der Situation eines “Gleichgewichts der Klassenkräfte” auch “partiell” und “temporär” “verselbständigen” könne. Nach der Ansicht einiger kritisch-marxistischer Theoretiker der Zwischenkriegszeit war dies im italienischen und deutschen Faschismus der Fall, wo die “verselbständigte Exekutive” eine Rassenpolitik betrieb, die keine erkennbare soziale Funktion hatte. Agnoli jedoch verzichtet, wie gesagt, auf eine weitere Rezeption und Anwendung der Marxschen Bonapartismustheorie. Statt dessen betont er die funktionale Ähnlichkeit “zwischen dem repressiven Charakter des liberalen und neoliberalen und den terroristischen Methoden des faschistischen Staates”.

Diese These steht dann im Zentrum des zweiten umfangreicheren Aufsatzes “zur Faschismusdiskussion”. Er wurde zuerst 1968 in der kurzlebigen ”Berliner Zeitschrift für Politologie” publiziert, die von dem damals links wirkenden OSI herausgegeben wurde. Agnoli setzt sich hier mit einigen damals viel diskutierten, aber heute fast vergessenen Beiträgen zur Faschismusproblematik auseinander. Darauf ist hier nicht einzugehen, weil dies Geschichte ist. Keineswegs Geschichte, sondern gerade heute hoch aktuell ist Agnolis Faschismustheorie. Und dies aus folgenden Gründen:

Einmal, weil Agnoli an einem allgemeinen, d.h. keineswegs auf Italien bezogenen Faschismusbegriff festhält und das konkurrierende Totalitarismusmodell scharf ablehnt. Beides wird heute nur noch von einer ganz kleinen radikalen Minderheit von Historikern und Politikwissenschaftlern getan, weil sich die meisten einstmals linken Faschismus- zu lammfromm gewordenen und staatstreu gewendeten Totalitarismustheoretikern und “Extremismusforschers” gemausert haben. Für diese alt-neue Spezies von politisch-unpolitischen Politikwissenschaftlern hat es Faschismus außerhalb Italiens gar nicht gegeben. “Faschismus” ist ein “linksextremer Kampfbegriff’ und “Antifaschismus” kann man sich nur als “verordnet” vorstellen, und zwar von bösen Kommunisten, die allemal viel “schlimmer” waren als die, wie es im Nachwende-Deutsch heißt “Nationalsozialisten” im “Führerstaat” des allmächtigen Herrn Hitler. Dieser Hitler gilt gleichzeitig als Vater eines völlig mißratenen Sohnes namens Erich Honecker, der ein wahrer Teufel war und über ein geradezu teuflisches Instrument verfügte, womit die “Krake Stasi” gemeint ist, während die Gestapo ein völlig ineffektiver, harmloser und Ledermäntel tragender Trachtenverein gewesen sein soll.

Von dieser “Totalitarismus”- und “vergleichender Diktaturforschung”, wie sie heute auch an Agnolis alter Wirkungsstätte betrieben wird, ist der Faschismusforscher Agnoli Lichtjahre entfernt. Dies gilt selbstverständlich auch für die “Extremismusforscher”, die am OSI ebenfalls eine neue Heimat gefunden haben, und die sich die Demokratie als einen Halbkreis vorstellen, wobei die guten Demokraten in der Mitte sitzen, während die bösen Extremisten an den rechten und -natürlich weit mehr – linken Rändern hocken, um von hier aus über die bürgerliche Mitte herzufallen.

Agnoli dagegen meint, daß die Gefahren aus der Mitte der Gesellschaft und von oben, d.h. vom bürgerlichen Staat kommen, der durchaus auch “faschistische Modelle” übernehmen kann, “um den politischen Folgen einer wirtschaftlichen Krise präventiv zu begegnen”. Dies könne keineswegs nur in der Extremsituation einer Weltwirtschaftskrise in einer offenen faschistischen, sondern auch in “parlamentarisch verdeckten” und “maskierten Formen des Faschismus” geschehen.

Dies wirkt ziemlich vulgärmarxistisch, ist es aber keineswegs. Agnoli kritisiert nämlich die damals – 1968 – weit verbreitete Formel “Kapitalismus führt zum Faschismus” (was man mit dem Zusatz: “Kapitalismus muß weg!” – wunderschön skandieren konnte) als “unreflektiert”, weil damit aus einem “dialektischen Vorgang” ein “unverständlicher und unbegründbarer Willensakt” gemacht werde. Dies heißt in anderen Worten, daß es schon auf die konkrete Situation ankommt, ob an Stelle von parlamentarischen verdeckte oder offene faschistische Methoden verwandt werden.

Dabei ist der Präsens wichtig. Für Agnoli ist Faschismus nicht Geschichte, sondern höchst gefährliche Gegenwart, wobei er keineswegs nur auf die damalige Militärdiktatur in Griechenland, sondern auch auf bundesrepublikanische Bestrebungen hinweist, eine, was immer das bedeuten sollte, “formierte Gesellschaft” zu schaffen. Dies gelte auch für gewissen wirtschaftspolitische Maßnahmen des bürgerlichen Staates, die im damaligen Frankreich unter dem Begriff der “planification” liefen und die Agnoli an das korporative Wirtschaftssystem des italienischen Faschismus l erinnern.

Mit diesem “italienischen Korporativismus” hat Agnoli sich besonders intensiv beschäftigt, wobei er allerdings dessen “modernistisch-technokratische Wendung” überschätzt, weil er sich hier, ohne dies allerdings zuzugeben, den Thesen des konservativen italienischen Faschismusforschers Renzo De Felice anschließt. Dieser Renzo De Felice l hat in den 70er Jahren mit der Behauptung, daß sich der italienische Faschismus wesentlich vom deutschen unterscheide, weil ersterer “moderner” gewesen sei als letzterer, den italienischen Historikerstreit eingeleitet, auf den dann der deutsche mit Noltes Behauptung folgte, daß der Stalinismus eher und terroristischer als der Nationalsozialismus gewesen sei. All dies konnte Agnoli 1968 natürlich nicht wissen, dennoch ist seine grundsätzlich richtige Mahnung, die einzelnen Varianten des Faschismus deutlich von einander zu unterscheiden, nicht unproblematisch. Dies gilt insbesondere für die ziemlich scharfe Abgrenzung des italienischen (vor allem seines angeblich “linken” Flügels) vom deutschen Faschismus. Dies macht nur Sinn, wenn man wie Agnoli das Wesen des Faschismus mit dem Hinweis auf seine “soziale Funktion” bestimmt und die Bedeutung der faschistischen Ideologie, in dessen Kern der Rassismus stand, unterschätzt.

Ich möchte diese Kritik an Agnolis Rezension von Alfred Sohn-Rethels “Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus” verdeutlichen, wobei ich die übrigen Artikel und Aufsätze übergehe. In der Besprechung von Sohn-Rethels kongenialen Werk definiert Agnoli Faschismus ohne Wenn und Aber als “Rückkehr zur absoluten Mehrwertproduktion”. Darunter falle auch die “Vernichtung durch Arbeit” in den nationalsozialistischen Konzentrations- und anderen Zwangslagern.

Und was ist mit der direkten Vernichtung durch Massenvergasungen und Massenerschießungen? Was hat der Holocaust mit der “absoluten Mehrwertproduktion” zu tun? Die Antwort auf diese Frage lautet schlicht: nichts. Der Rassenmord “der Deutschen”, um Goldhagens provozierenden Begriff aufzunehmen, war rassistisch und eben nicht ökonomisch motiviert. Er hatte keine “soziale Funktion” und nützte niemandem. Der faschistische Rassenmord war statt dessen das Ergebnis eines umfassenden rassistischen Programms. Das allerdings in Deutschland weit radikaler war als im faschistischen Italien, wo der Rassismus aber ebenfalls nicht fehlte. Faschismus ist ohne Rassismus nicht zu denken und folglich auch nicht zu definieren.

Erstaunlich ist, daß Agnoli diese Fragen noch nicht einmal stellt. Der Holocaust kommt in seinen Faschismusschriften kaum vor. Dieses Defizit, das ein generelles Kennzeichen der marxistischen Faschismusdiskussion der 60er und 70er Jahre war, hat Agnoli in der neu geschriebenen Einleitung zu dem vorliegenden Aufsatzband auch eingeräumt und mit der Bemerkung entschuldigt, daß er “nicht in der Lage” sei, “den Völkermord an den Juden mit irgendwelchen rationalen, marxistischen oder sonstigen Kategorien zu begreifen”. Dies ist zwar ehrlich, aber dennoch eine intellektuelle Bankrotterklärung. Eine Theorie, die nicht in der Lage ist, das Wichtigste am Faschismus zu erklären, ist schlicht eine unzureichende Theorie. Hier liegen die Grenzen von Agnolis marxistischer Faschismustheorie, die sich ganz auf die soziale Funktion des Faschismus konzentriert und seine rassistische Zielsetzung ausblendet.

Aus: Kalaschnikow. Die Waffe der Kritik (Berlin) N° 10 / Frühjahr 1998

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