Der Staat des Grundgesetzes * Annotierte Fassung des jour fixe Einladungstextes

Der Staat des Grundgesetzes

Initiative Sozialistisches Forum

Wem an der menschlichen Einrichtung der Welt liegt, der kann auf keine Appellationsinstanz blicken: weder auf bestehende noch auf zukünftige Macht. Was ‘man‘ mit der Macht anfangen soll, wenn man sie einmal hat, … verliert im Kampf gegen sie an Bedeutung. Die Frage setzt den Fortbestand dessen voraus, was verschwinden soll: die Verfügungsgewalt über fremde Arbeit.
Max Horkheimer (1940) [ 1 ]

Wer A sagt, muß auch B sagen: das verlangt die Diktatur der Logik. Man kann aber aus einer falschen, nachgerade verlogenen Prämisse nimmer eine wahrhafte Konsequenz folgern. Schon gar nicht im zwanghaften Denken der zum System verschweißten deutschen Ideologie, die sich der Emanzipation der Deutschen zu Menschen strikt verweigert. [ 2 ] Denn allerdings verhält es sich so: Wer einmal A gesagt hat, der muß nicht auf B schließen. Er könnte erkennen, daß bereits A falsch war und sodann sich dem Konsequenzzwang verweigern, d.h. die Prämissen des Wahns der nationalen Kollektivität selbst bestreiten. Daß jedoch schon der Anfang ihres famosen, von den Alliierten mühsam von Hitler gesäuberten Staatswesens falsch war, ist den Landsleuten die Ermächtigung für alles weitere. Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, beschlossen am 23. Mai 1949, beginnt denn auch ­­­­­­­­­ – bevor dann all die Artikel von wegen “Die Würde des Menschen ist unantastbar” (Art. 1 (1)) [ 3 ] oder gar Art. 3 (1) folgen: “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich”, die den Deutschen mittlerweile heilig sein sollen ­­­­­– mit dieser Präambel: “Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und … dem Frieden der Welt zu dienen, hat das Deutsche Volk … dieses Grundgesetz … beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war.” [ 4 ] Was aus dem “Volk” folgt, ist Ableitung und steht unterm Vorbehalt dieser Setzung.

Der objektive Zynismus dieses neuerlichen Anlaufs deutscher Staatlichkeit, gar: dieser “Neuerfindung der Deutschen” (wie der Spiegel schreibt) [ 5 ] , liegt darin, daß er ganz naiv und selbstbewußt den Massenmord an den Juden zur legitimen Basis und Voraussetzung der freiheitlichsten, demokratischsten aller Grundordnungen erklärt. Denn unter die Deutschen, denen die Mitwirkung leider “versagt” blieb, rechnen allein die Schwestern und Brüder in Ostelbien, keineswegs die deutschen Juden, die in den Tod deportiert wurden. Die Deutschen, von denen das Grundgesetz spricht, das deutsche Volk also, das “kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt” die fdGO beschließt, ist, wie die Präambel sagt, von vorneherein das Volk der Nürnberger Gesetze und der Wannsee-Konferenz, ein Volk, das noch nicht einmal im Apriori seiner postnazistischen Konstitution den geringsten Anflug von Klage, Trauer, gar Schuld äußert. Die Toten haben tot zu sein; von Juden läßt man sich nicht ins staatslüsterne Aufbauwerk pfuschen; allseits herrscht, nicht nur in der Verfassung, so Adorno, ein “leeres und kaltes Vergessen” [ 6 ] , das eine vorsätzliche Selbstermächtigung darstellt: die zur abermaligen totalen Weltbefriedung. [ 7 ] Das Grundgesetz weiß, daß es den Massenmord zu seiner historischen wie logischen Voraussetzung hat, und es freut sich darüber, indem es seinen Ursprung beschweigt: Auschwitz ist die Gründungsurkunde, Hitler der Stifter der nun zwangsparlamentarisierten Volksgemeinschaft. In jedem Artikel des Machwerks zeigt es sich, daß, wie Adorno erkannte, “die Volksgemeinschaft der Unfreien und Ungleichen … als Lüge zugleich auch die Erfüllung eines alten, freilich von alters her bösen Bürgertraums” [ 8 ] war. So ist das Grundgesetz zugleich die genaue Methode jener Sorte Selbstkritik, zu der Deutsche allein fähig sind, zur Manöverkritik unter Kumpeln, d.h. Inbegriff der sog. “konstruktiven Kritik”, einer “Kritik”, die darauf abzielt, das nächste Mal nicht sich erwischen zu lassen.

Schon Artikel 1 (1) spricht mit böser Absicht von der “Würde des Menschen”, nicht: der Menschen. Gemeint sind keineswegs die Leute, wie sie gehen und stehen, nicht die empirischen Individuen, sondern die Körper in ihrer Bedürftigkeit, Produktivität und Leidenschaft nur insofern, als sie zum “stofflichen Träger” (Marx) [ 9 ] der juristischen Funktion des Subjekts taugen. Der Mensch an und für sich existiert nicht, niemand hat ihn je zu Gesicht bekommen; er ist die Abstraktion, die den konkreten Individuen als “juristische Fiktion” (Marx) [ 10 ] unterschoben wird und nach deren Maßgaben sie sich zu bewähren haben, wollen sie gesellschaftlich gültig sein, d.h. das Recht genießen, am Leben zu sein, zu atmen, zu essen. Der Mensch als konkreter Einzelner ist, darüber belehrt jedes juristische Handbuch, nur das “Zuordnungssubjekt der Grundrechte” [ 11 ] , ergo das Objekt einer Zumutung, der er um den Preis seines Lebens gerecht zu werden hat. Das Subjekt ist die Wertform des Individuums, die Charaktermaske, die es sich nicht nur vorhängen, sondern verinnerlichen muß, will es im Gleich um Gleich des Warentausches bestehen, in dem die Akkumulation des Kapitals mit Notwendigkeit erscheint. Daher hebt sich jede der vollmundigen Phrasen in ihren Ausführungsbestimmungen nicht nur selbst auf, sondern verkehrt sich in ihr gerades Gegenteil. [ 12 ] Jede Berechtigung ist unmittelbar zugleich eine Verpflichtung. Das Wahlrecht – dargestellt in der Ideologie der Volkssouveränität, die glauben macht, “daß die Willensbildung vom Volk zum Staat führt” (Spiegel) [ 13 ] – , erscheint sogleich als Wehrpflicht, als Konfiskation des Körpers durch den Staat. So lautet die Wahrheit von Artikel 1 (1) vielmehr: Die Würde des Staates ist unantastbar, die des Souveräns erst recht. Das Grundgesetz, weit davon entfernt, das Gute, Wahre und Schöne zum Auftrag recht verstandener Staatlichkeit zu erklären, gibt den “Fahrplan der staatlichen Maschine” (Carl Schmitt) [ 14 ] , d.h. “die allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Monopolunternehmens” (Jürgen Seifert). [ 15 ]

So zeigt Artikel 3 (3): “Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich” seinen Pferdefuß, wenn der Jurist kommentiert: “Die allgemeine Wehrpflicht ist Ausdruck des allgemeinen Gleichheitsgedankens.” [ 16 ] Gleichheit kommt den Individuen nicht an sich selbst zu, sondern einzig im Resultat einer repressiven Vergleichung, die sie als Subjekte wollen müssen. Das Maß, nach dem die Individuen zu Subjekten befördert werden, ist nicht das ihre. Art. 2 (2) proklamiert sodann: “Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.” Daß das vom Staat generös gewährte Leben die Pflicht zum Opfer impliziert, erfährt man erst aus dem V. Abschnitt des Strafgesetzbuches, das unter der Überschrift “Straftaten gegen die Landesverteidigung” ausführt: “Wer sich oder einen anderen mit dessen Einwilligung durch Verstümmelung oder auf andere Weise zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht oder machen läßt, wird mit Freiheitsstrafen von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft” (§ 109 StGB) [ 17 ] , denn, das immerhin weiß der Jurist, wenn er auch sonst nichts weiß: “Es besteht kein Verfügungsrecht des Einzelnen über das eigene Leben.” [ 18 ] Das Menschenrecht ist das Recht des Souveräns gegen den Einzelnen, d.h. “das Recht des Staates, vom Bürger den Lebenseinsatz und die Tötung … zu fordern.” [ 19 ] Die Selbstverstümmelung des Soldaten ist Sachbeschädigung an fremdem Eigentum, am Privateigentum des Staates; sein Leib ist dem Einzelnen nur unterm totalen Vorbehalt seiner so kapitalproduktiven wie staatsloyalen Nutzung zeitweilig überlassen, das Recht jene gewaltbewehrte Institution, die mit Argusaugen darüber wacht. (Das römische Recht faßte entsprechend die Flucht eines Sklaven unter dem Tatbestand des “Diebstahls an sich selbst” [ 20 ] – man mag daraus ersehen, wie es um Begriff und Sache des historischen Fortschritts bestellt ist, der sich vielmehr als “Formwandel der Knechtschaft” (Marx) [ 21 ] erweist.). Das Subjekt hat darein sich zu schicken, “den der Ware mangelnden Sinn für das Konkrete durch seine eigenen fünf und mehr Sinne (zu ergänzen)” [ 22 ] , darein, sich selbst als stofflich-fleischliche Basis der Vergesellschaftung durchs Kapitalverhältnis zu beweisen, will es sich auch nur als Körper erhalten. In der juristischen Form ist das Individuum gesellschaftlich gültig nur, wenn es der Generalklausel genügt, sich als “subjektivierter Tauschwert”, als “Menschenware” zu bewähren (Marx). [ 23 ] So offenbart die Gesellschaft der freien und gleichen Subjekte im souveränen Gewaltmonopol auf Leben und Tod, im Recht der “letzten Instanz”, die Negativität und also die Unwahrheit der Vergleichung.

Daß, wie Art. 14 (2) besagt, “Eigentum verpflichtet”, daß also “sein Gebrauch zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen soll”, ist, als vorgeblicher “Sozialisierungsparagraph” in der Konsequenz gar des Art. 15, keine Anweisung oder gar politische Legitimation für die staats- und klassenlose Gesellschaft, sondern vielmehr die Reflektion des Warencharakters des Individuums hinsichtlich seiner Arbeitskraft in ihm selbst. [ 24 ] Denn daß die Einzelnen zu sich selbst in ein Verhältnis des (Privat-)Eigentums treten, daß sie darob zu Selbstverwertungs- und Funktionsmonaden werden, ist der Grund, weswegen die Abstraktion des Art. 1 (1) von wegen der “Würde des Menschen” keine einfache Abstraktion ist und d.h.: kein Absehen von etwas, sondern ein Produktionsverhältnis: die Herstellung des Souveräns als des allgemeinen Menschen, eine Realabstraktion daher, die den Deutschen einmal und wirklich in der Gestalt Hitlers erschienen ist – als die Personifikation ihrer bedingungslosen politischen Einheit.

Und so geht es weiter und so fort im Grundgesetz, so energisch, daß man den regelmäßigen Umschlag des (Wahl-)Rechts in die (Wehr-)Pflicht, der Berechtigung in die Verpflichtung, für einen glatten, logischen Widerspruch halten könnte, der nach der Seite des Rechts auflösbar sei. Der Widerspruch jedoch zwischen den egoistischen Einzelnen, den Bourgeois, und der altruistischen, im Staat versammelten Masse der Citoyens ist keiner, sondern bloß Antinomie, d.h. immer schon versöhnt: in der Kaserne, in der Gestalt des Soldaten als eines zwar noch Lebenden, der begrifflich und von Staatswegen aber längst als Toter und Tötender gesetzt ist, als Untoter und als Material des Staatszwecks. [ 25 ] Die Linken, die auf dem Widerspruch herumreiten, mögen so tun, als sei der Gegensatz zwischen dem Ideal und seiner allerdings trostlosen Verwirklichung ein Antagonismus, so, als täte sich zwischen Verfassungsauftrag und gesellschaftlicher Wirklichkeit ein Abgrund auf, und so, als gelte es, das Ideal in die Realität zu setzen; von einer “verfassungswidrigen Wirklichkeit” (Wolfgang Abendroth) [ 26 ] ist gar die Rede. Aber der Gegensatz zwischen Ideal und Wirklichkeit stellt, eben als Antinomie, keinen Widerspruch dar, sondern ein Produktionsverhältnis, das durch keinen alternativen Gebrauch der Verfassung irgend zu heilen wäre. Der Umschlag ist programmiert, und so bedürfte es nicht erst des Art. 18 Grundgesetz, der die Freiheit unter den rigiden Vorbehalt ihres funktionalen Gebrauchs stellt (“Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit.”), um das in Art. 5 aufgestellte Recht auf freie Meinungsäußerung in eben dem Sinne zu erfüllen, daß es konterkariert wird: Denn die Berechtigung zum Meinen ist nichts anderes als die Pflicht, es damit auch bewenden zu lassen, das Denken um die Fähigkeit zur Wahrheit zu verkürzen und es als Agenten erst des gesunden Menschenverstandes, dann des nicht minder strotzenden Volksempfindens zu rekrutieren: d.h. der Zwang zum Pluralismus des “geistigen Tierreichs” (Hegel). [ 27 ]

Das Spiegelspiel der Politik, die oszillierende Antinomie zwischen Recht und Pflicht, hebt sich auf in der Kaserne als der negativen Wahrheit des Staates. Denn, wie die Historiker, d.h. die der Vergangenheit zugewandten Juristen, es der Frankfurter Allgemeinen Zeitung aufsagen, liegt “im gewaltsamen Tod für die politische Ordnung … eine besondere Legitimationsquelle”; daher gilt es, “die Tradition dieses bürgerlichen Totenkultes – wenn man so will: diese Ultima ratio des bürgerlichen Engagements für das eigene Gemeinwesen – zu entdecken und fruchtbar zu machen. Denn nur dort liegen Elemente einer Würdigung des Sterbens für politische Ziele.” [ 28 ] Wie die Kaserne die negative, so ist die Volksgemeinschaft die positive Wahrheit deutscher Staatlichkeit, und so wundert es nicht, daß immer dann, wenn der Staat sich selbst das Loblied singt, der Jargon der Eigentlichkeit sich andreht, d.h. der Schwur auf Pflicht, Opfer und Tod geleistet wird; ein Jargon, den insbesondere Horst Köhler so meisterhaft beherrscht, daß es, wie in der Trance einer spiritistischen Sitzung, aus ihm herausspricht: “Entgrenzung”, “Bindungslosigkeit”, “schrankenlose Freiheit” sollen schuld sein an der ökonomischen Misere; es gilt also, “den Wert und die Würde der Arbeit neu zu entdecken”, den “Sinn für Geldwertstabilität” zu schärfen usw. usf. [ 29 ]

Wenn daher Art. 20 GG bestimmt: “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus”, so ist keinesfalls eine Gesellschaft von Individuen gemeint, sondern die Zusammenrottung so kapitalproduktiver wie staatsloyaler Subjekte zur bewaffneten Horde, zum Volk der nichts als Deutschen. Dieser Artikel, auf den Sozial- und andere Demokraten zur Beförderung legitimer Herrschaft gerne sich berufen, drückt aus, wie sehr der Staat des Grundgesetzes nicht allein als legitimer Rechtsnachfolger, sondern überdies legaler Gesellschaftserbe des Dritten Deutschen Reiches aufzutreten befugt ist. Die lsquo;wehrhafte Demokratie‘ der fdGO zieht darin die konstitutionelle Bilanz des Zusammenbruchs bürgerlicher Klassenherrschaft nach 1929 wie ihrer negativen Aufhebung in die “klassenlose Klassengesellschaft” (Adorno [ 30 ] ) der Volksgenossen. Der sie kontinuierende Staat soll nun, als souveräner Treuhänder (und eigentlich: organische Synthese) von Lohnarbeit und Kapital zugleich, die Stabilität der negativen Vergesellschaftung so garantieren als sei sie von Natur, gerade so, als sei die erfolgreiche Akkumulation um ihrer selbst willen die eingeborene Qualität der durch den Nazifaschismus von einer deutschen Bevölkerung zum “Deutschen Volk” (Präambel) aufgezüchteten Rasse. Derart löst sich der antinomische Zirkel, in dem das moderne Bewußtsein oszilliert, die dem Spiegel so überaus “heikle Sache: der Staat als Problem und Lösung zugleich.” [ 31 ] Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus: Die rebellische Frage, wo sie danach hingeht, ist so konterrevolutionär und deutsch wie das Grundgesetz selbst. Wenn, was als links auftrumpft, die Auffassung vertritt, es gelte, so Oskar Lafontaine, eine “Politik für alle” zu erkämpfen, d.h. das, was seit den Tagen der Agitation Ferdinand Lassalles für den “Volksstaat” als die “Demokratisierung” sattsam bekannt ist, dann kommt die Ideologie der Politik an ihr Ende: die unbedingte Einheit von Bürger und Staat bekennt sich in der Idee, die Souveränität sei das Instrument der gesellschaftlichen Selbstverwirklichung und das System des Befehlens und Gehorchens, nur recht auf Gemeinwohl gedrillt, die Freiheit schon selbst. Darüber wird die kapitale Gesellschaft zur Volksfront.

Daß dem Nazifaschismus die Transformation der bürgerlichen Gesellschaft in die Volksgemeinschaft gelang, daß den Deutschen der Souverän und damit das Paradox des unmittelbar allgemeinen Menschen [ 32 ] in der Gestalt Hitlers leibhaft, d.h. als Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbsterhaltung als Subjekte erschien (worüber sie sich selbst rassifizierten, was der genaue Sinn der antisemitischen Selbstsuggestion war), daß sie sich als klassenübergreifendes wie die Klassen in sich aufhebendes Mordkollektiv organisierten, daß Hitler sein Versprechen über den 8. Mai 1945 hinaus bewahrheiten konnte – daß es nämlich “eine größere Ehre sein muß, als Straßenfeger Bürger dieses Reiches zu sein, als König in einem fremden Staate” [ 33 ] –, das ist nicht allein die äußere und äußerliche, die historische Voraussetzung des Grundgesetzes, vielmehr die innere, wesentliche Konstitution der Gemeinschaft, die es verfaßt und kontinuiert. Der klassenlosen Klassengesellschaft, die das Grundgesetz in Artikel und Paragraphen gießt, erscheint das Kapitalverhältnis als unmittelbare Natur der zu Deutschen transformierten Menschen selbst. Indiz dessen ist, daß in der ersten Wiederkehr der Zusammenbruchskrise des Kapitals seit 1929 der Jargon der deutschen Ideologie so automatenhaft repetiert wird, daß man unmöglich noch wissen kann, wer spricht. Links und Rechts haben sich im Kult der politischen Souveränität vereint und verschweißt: “Das Geld muß wieder der Wirtschaft und die Wirtschaft wieder dem Volke dienen.” Wer spricht? Köhler oder Hitler? Goebbels oder Lafontaine? Daß es Goebbels war, ist bloß Zufall [ 34 ] ; daß Müntefering im Gegensatz dazu die bestimmte Meinung vertritt, daß “das Geld eine dienende Funktion hat”, auch. [ 35 ]

Damit ist die Melodie angestimmt, zu der die Geburtstagsparty zum 60. Jahrestag des Grundgesetzes tanzen wird. Denn in einem hat Horst Köhler allerdings recht: “Die Deutschen haben etwas anzubieten beim Aufarbeiten der Krise.” [ 36 ] Und auch Der Spiegel liegt nicht falsch, wenn er feststellt, mit dem Grundgesetz sei “aus dem Volk der Blockwarte ein Volk der Infragesteller geworden” [ 37 ] , ein Volk von Kritikern, das alles in Grund und Boden kritisiert, was nicht seiner grausigen Utopie der Volksgemeinschaft gehorcht, das insbesondere den Tatbestand ankreidet, daß immer noch 988 Jahre zum Tausendjährigen Reich nicht nur der endlosen und krisenfreien Akkumulation des Kapitals, sondern erst recht zum Staat des ganzen Volkes fehlen. Trotzdem gilt, auch in Deutschland: Wer A sagt, muß nicht B sagen – er kann auch erkennen, daß A falsch ist. Die längst überfällige Revolution muß daher, wenn sie das Gegenteil der “Revolution der Deutschen” (Goebbels) sein soll, von Anfang an die Weltrevolution gegen Deutschland werden.

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[ 1 ] Max Horkheimer, Autoritärer Staat (1940), in. Ders., Autoritärer Staat, Amsterdam 1967, S. 72.

[ 2 ] “Die Emanzipation des Deutschen ist die Emanzipation des Menschen”, diagnostizierte Marx 1844, weil sich in ihnen die ganze Misere der Weltgeschichte resümiert und in vollendeter Verblendung zum Selbstbewußtsein kondensiert (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW 1, S. 391).

[ 3 ] Der Spiegel, der dies als das “deutsche Wunder” bestaunt, merkt an: “Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes …. ist es, der die deutsche Verfassung so besonders macht in der Welt” (Der Spiegel – Geschichte N° 2/2009, S. 40 und 38). – Der Artikel meint jedoch (und darauf hat Johannes Agnoli immer wieder hingewiesen): Die Würde des Staates ist unantastbar – vgl. Johannes Agnoli, Der Rechtsstaat. Spätkapitalismus und deutsche Erfahrung, in: Ders., Der Staat des Kapitals, Freiburg 1995, S. 155f.

[ 4 ] Tatsächlich: “das Deutsche Volk” – soviel zum Thema “Deutsch fühlen, aber nicht können” (Karl Kraus).

[ 5 ] Der Spiegel, ebd., S. 38.

[ 6 ] Theodor W. Adorno, Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in. Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1963, S. 139.

[ 7 ] Da klingt die Schlagzeile der Financial Times Deutschland vom 1. April (sic!) 2009 wie bestellt: “Deutschland soll die Welt retten.”

[ 8 ] Adorno, a.a.O., S. 134.

[ 9 ] Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1 (MEW 23), S. 50. – Eugen Paschukanis hat 1929 gezeigt, daß alle ökonomiekritischen Bestimmungen dies nur sein können, indem sie unmittelbar zugleich politikkritische sind (Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Versuch einer Kritik der juristischen Grundbegriffe, Freiburg 2003).

[ 10 ] Ebd.

[ 11 ] So, nur zum Beispiel, Georg Scholz, Grundgesetz I. Grundlagen: Die Grundrechte, München 51985, S. 52. – Dies Büchlein ist ein sog. Repetitorium, ein Kanon, den sich Jura-Studenten vor dem Examen einbimsen, damit sie später als die Jesuiten der kapitalen Herrschaft wie die Schlafwandler funktionieren, d.h. das Konkrete subsumieren können. “Der Staat ist für den Menschen da”, lautet denn auch der Kommentar zu Art I 1 GG (ebd., S. 26).

[ 12 ] “Jeder Paragraph der Konstitution enthält … seine eigene Antithese, (…) nämlich in der allgemeinen Phrase die Freiheit, in der Randglosse die Aufhebung der Freiheit” (Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852), in : MEW Bd. 8, S. 127). – Zum Schicksal von Art. 16 (2) GG: “Politisch Verfolgte genießen Asylrecht” vgl. dementsprechend Initiative Sozialistisches Forum, Artikel 16 (2), in: Dies., Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten, Freiburg 2001, S. 38ff.

[ 13 ] A.a.O., S. 44.

[ 14 ] Carl Schmitt (alias “Präsident Dr. Haustein, Bielefeld”), Gegenwartsfragen der Verfassung, in: Der Eisenbahner, 2. Jg. 1949, H. 3.

[ 15 ] Jürgen Seifert, Grundgesetz und Restauration. Verfassungsgeschichtliche Analyse und synoptische Darstellung des Grundgesetzes vom 23. Mai 1949 mit sämtlichen Änderungen, Darmstadt/Neuwied 1974, S. 11.

[ 16 ] Scholz, a.a.O., S. 141.

[ 17 ] Zugleich § 17 Wehrstrafgesetz II. Teil: Militärische Straftaten, 1. Abschnitt: Straftaten gegen die Pflicht zur militärischen Dienstleistung. Die weiteren §§ behandeln “Eigenmächtige Abwesenheit”, “Fahnenflucht” sowie “Dienstentziehung durch Täuschung”. – Zur Tradition dieses § vgl. die Arbeiten des Militärhistorikers Wolfgang Wette sowie Michael Behrendt, Tätowierung und andere Straftaten, in: Illoyal. Journal für Antimilitarismus N° 1(Herbst 1997).

[ 18 ] Ebd., S. 133.

[ 19 ] Ebd., S. 134.

[ 20 ] Vgl. Alfred Söllner, Einführung in die römische Rechtsgeschichte, München 1985.

[ 21 ] Marx, Das Kapital, S.

[ 22 ] Ebd., S. 100.

[ 23 ] Marx, Grundrisse, S. 913, und Ders., Ökonomisch-philosophische Manuskripte, in: MEW-Erg.bd. 1, S. 524.

[ 24 ] Einmal ganz abgesehen davon, daß Art 14 das Resümee des nationalsozialistischen Eigentumsgedankens zieht, wie ihn die “Akademie für deutsches Recht” ausgearbeitet hat – vgl. Frédéric Krier, Sozialismus für Kleinbürger. Pierre-Joseph Proudhon – Wegbereiter des Dritten Reiches, Köln/Wien 2009.

[ 25 ] Vgl. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 324 (Zusatz): dem Staat ist es “notwenig, daß das Endliche, Besitz und Leben, als Zufälliges gesetzt werde.”

[ 26 ] Abendroth, a.a.O., S. 15. – Die Definition von “links” ist einfach, denn die Linke ist jene Fraktion der bürgerlichen Gesellschaft, die, man weiß nicht, wieso und warum, aber jedenfalls doch sehr resolut darauf besteht, das Ideal gegen die Wirklichkeit auszuspielen. Hochtrabend kam das etwa bei Wolfgang Abendroth daher: Der “wesentliche Gehalt” des GG sei “die Garantie der Möglichkeit zu legaler Transformation der sozialökonomischen … Basis in Richtung auf eine sozialistische Gesellschaft, die auch real (und nicht nur juristisch-fiktiv) wirklich allen gleiche Rechte gewährt” (Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme (1966), Pfullingen 31972, S. 12), vulgär und fürs alltägliche ideologische Bedürfnis genügt dann die Linkspartei oder gleich Oskar Lafontaine: “Demokratie gibt es erst dann wieder, wenn die Interessen der Mehrheit tatsächlich zur Geltung kommen und das Volk nicht erleben muß, das auf der einen Seite Hunderte von Milliarden für die lsquo;Bankster‘ ausgegeben werden, auf der anderen Seite kein Geld für Hartz IV-Empfänger, für Rentner und für Lohnempfänger da ist. Das ist nicht Demokratie” (Eine Krise der Demokratie und der Sozialordnung, in: Das Parlament N° 43 vom 20. Oktober 2008). – Man mag daraus die Wahrheit des Marxschen Diktums schließen, wonach dort, “wo es politische Parteien gibt, selbst die radikalen Politiker … den Grund des Übels nicht im Wesen des Staates (suchen), sondern in einer bestimmten Staatsform, an deren Stelle sie eine andere Staatsform setzen wollen” (Kritische Randglossen zu dem Artikel eines Preußen (1844), in: MEW 1, S. 401), aber auch die Einsicht, daß Ideologie in der spätkapitalistischen Gesellschaft nicht das Dogma ist, das man zu glauben und zu bekennen hat, sondern die Meinung, die endlos diskutiert zu werden hat. Das Recht auf Meinungsfreiheit ist die Pflicht zur Ideologie, zum Gewäsch der “Menschen bei Maischberger” und anderswo. Das Verhältnis der “Linken” zu den “Rechten” ist derart, vermittelt über die “Mitte”, das endlose Spiegelspiel der Politik, durch das hindurch die Legitimation des staatlichen Souveräns sich reproduziert, d.h. mehr und mehr verhärtet und den Subjekten zur Evidenz wird. Vgl. im übrigen: Theodor W. Adorno, Meinung, Wahn, Gesellschaft, in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt 1963, S. 147 ff.

[ 27 ] Wer sein Denken aufs Meinen verkürzt, bricht, so Hegel, mit der Menschheit in sich und löst so das Billet ins “geistige Tierreich” (Phänomenologie des Geistes). – Auch das Koalitionsrecht nach Art. 9 steht unter dem Vorbehalt seines funktionalen Gebrauchs zur “Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen” (Art 9 (3)): Usw., usf.

[ 28 ] Manfred Hettling, Wofür? Der Bundesrepublik fehlt ein politischer Totenkult, in: FAZ vom 4. März 2006. (Der Autor ist, wie könnte das anders sein, Professor für Neuere und Neueste (das auch noch!) Geschichte in Halle.). – Die Beschwörung von Opfer und Tod dient natürlich dazu, “eine eingeschworene Kampfgemeinschaft” herzustellen, d.h. einen “Kameradenkreis”, in dem der Einzelne “funktioniert wie ein Automat”; siehe nur den Artikel “Zusammen dem Schrecken trotzen” über das Fallschirmjägerbataillon 263 in der FAZ vom 15. Dezember 2008.

[ 29 ] Horst Köhler, Der Markt braucht Regeln und Moral. Die “Berliner Rede” vom 24. März 2009, in: Frankfurter Allgemeine vom 25. März 2009. – “Die Feierlichkeit solcher Sätze … unterscheidet sich von der säkularisierter Beerdigungen einzig durch den Enthusiasmus fürs irrationale Opfer: so mochten Fliegeroffiziere sprechen, wenn sie, von einer frisch verwüsteten Stadt zurückgekehrt, Champagner tranken zum Wohl derer, die nicht wiederkamen”, und: “Eigentlichkeit ist der Tod” (Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt 1964, S. 133 und 125). Die gestanzten Festreden der politischen Charaktermasken sind aus all den Bausteinen zusammengesetzt, die Günther Anders in seiner Liste der dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft verbotenen Worte aufführt – vgl. Ders., Ketzereien, München 1982, S. 130 ff. – Und was Köhler kann, das kann die IG Metall allemal, wenn sie gegen die “Ideologie des Geldes und der Gier” agitiert und höchst kritisch anmerkt, “die Politik hat sich zu häufig den reinen Marktinteressen untergeordnet” – darf‘s ein bißchen weniger sein? (Verantwortung übernehmen. Frankfurter Appell der IG Metall, hier nach: Financial Times Deutschland vom 25. März 2009).

[ 30 ] Theodor W. Adorno, Reflexionen zur Klassentheorie (1942), in. Ders., Soziologische Schriften 1, Frankfurt 1975.

[ 31 ] Der Spiegel, a.a.O., S. 41.

[ 32 ] Der Souverän ist in der Politik eben das, was Marx in der Wertformanalyse im Geld als “die Form unmittelbarer allgemeiner Austauschbarkeit” (Kapital I, S. 82) kritisch darstellt, d.h. die gesellschaftspraktische Existenz eines vollendeten Paradoxons: das Allgemeine als unmittelbares, als sinnlich und dinglich Konkretes. Daher rührt, sagt Marx, “die Magie des Geldes” (ebd., S. 107), und ergo, so läßt sich zwanglos anschließen, die Magie des Souveräns, der böse Zauber der Zentralperspektive wie der totalen Disposition. So wenig das Kapital in den Fabriken aufgeht, so wenig die Souveränität in den einzelnen Staatsapparaten; ein Sachverhalt, der, in vollendet affirmativer wie apologetischer Form, in der Carl Schmittschen Lehre vom Ausnahmezustand als dem “Wunder” des Staates ausgedrückt ist. – Hitler als der unmittelbar allgemeine Deutsche war dieser Souverän, das Grundgesetz organisiert die so end- wie folgenlose Trauergemeinde, die aufs neuerliche Pfingsterlebnis wartet. Was der Faschismustheorie das Anathema schlechthin ist, hat die Psychoanalyse sehr wohl bemerkt: “Zwischen Hitler und dem deutschen Volk besteht eine beispiellose Ähnlic hkeit im Denken, Fühlen und Handeln, als hätte Hitler die kritischen Funktionen eines jeden einzelnen paralysiert und deren Rolle selbst übernommen. So ist er in einem geradezu körperlichen Sinn Teil eines jeden einzelnen, dessen Denkvermögen er beherrscht. Hier liegt die Wurzel der unfaßbaren Verbundenheit der Person Hitlers mit dem deutschen Volk. Diese Verbundenheit macht alle Appelle an Vernunft und Logik wirkungslos. Wer für Hitler kämpft, kämpft gewissermaßen um seine eigene psychische Identität”, befand Walter C. Langer (Das Adolf Hitler-Psychogramm. Eine Analyse seiner Person und seines Verhaltens, verfaßt 1943 für die psychologische Kriegführung der USA, Wien 1972, S. 225).

[ 33 ] Adolf Hitler, Mein Kampf, München, 209. – 210. Auflage 1936, S. 491.

[ 34 ] Joseph Goebbels, Revolution der Deutschen. 14 Jahre Nationalsozialismus, Oldenburg 1933, S. 155. – Man vergleiche nur die schon angeführte Rede Lafontaines vor dem Bundestag, aber auch mindere Geister wie der Linkspartei-Abgeordnete Dieter Dehm beherrschen den Jargon auswendig: “Kredite sollen … dem Allgemeinwohl dienen. Aber dazu muß das Finanzkasino radikal geschlossen werden” (Das Parlament N° 50/51 vom 8./15. Dezember 2008). – Auch Köhler kann‘s: “Unmittelbar gilt es, den Geldkreislauf wieder in Gang zu bringen. Wir sprechen von der Lebensader der Wirtschaft” (FAZ vom 25. März 2009); die Original-Nazis, die freilich überflüssig sind, können‘s erst recht, wenn sie gegen “die Verwaltungsdiktatur des transatlantischen Kapitals” hetzen, gegen “Finanzoligarchie” und “angelsächsisches Finanzkapital”, und für das gute, das zutrauliche Geld der Deutschen agitieren (Michael Nier, 2009 weiter so! Freie Fahrt für freches Geld, in: Euro-Kurier 19. Jg., N° 6 (Dezember 2008). Aktuelle Buch- und Verlagsnachrichten aus dem Grabert-Verlag, Tübingen).

[ 35 ] “25 Prozent sind eine moralische Verirrung”. SPD-Chef Franz Müntefering über Manager als Gangster, den Kampf für deutsche Fabriken und einen neuen, sozialen Kapitalismus, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 3. Mai 2009.

[ 36 ] FAZ vom 25. März 2009.

[ 37 ] A.a.O. S., 40.

Annotierte Fassung des in Jungle World N° 21 vom 21. Mai 2009 erschienenen Artikels

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