Initiative Sozialistisches Forum – Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1992

Jour Fixe Programm Frühjahr/Sommer 1992

Dienstag, 21. April 1992

Über einige Schwierigkeiten der materialistischen Faschismustheorie

Es soll nicht mehr bloß versucht werden zu zeigen, daß die kritische Faschismus- und Antisemitismustheorie, indem sie Faschismus und Antisemitismus dingfest macht, ihn zugleich aus dem Zusammenhang bürgerlich-kapitalistischer Reproduktion auszugrenzen sucht. Vielmehr soll der konkrete Versuch unternommen werden, diese Ausgrenzung, die das Problem in einem radikalisiert und um seine Erkennbarkeit bringt, wenigstens im Ansatz rückgängig zu machen. Das heißt, das ein Ansatz vorgestellt werden soll, der zu begreifen gestattet, was allen Kummer macht, aber gewöhnlich als unzulässige Wahrnehmung verleugnet wird: Warum etwa die ausgebeutete Klasse der schärfste Feind der gesellschaftlichen Befreiung ist, warum rechts und links einen keineswegs über die Mitte vermittelten, vielmehr im Klappmechanismus darzustellenden Draht zueinander haben, warum “man nur drei Kreuze machen kann”, wenn man im NS auf der richtigen Seite gestanden hat, warum Auschwitz zugleich das Fernste, Fremdeste und das – nach Personal, Know-how, Geschichte und Geographie – Nächste und Verwandteste ist. – Es spricht Ilse Bindseil (Berlin), die zuletzt das Buch Elend der Weiblichkeit, Zukunft der Frauen veröffentlicht hat”.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Freitag, 8. Mai 1992

“Störenfried”

Die DDR-Opposition vor dem Oktober 1989

Hätte man die DDR-Basisgruppen Anfang 1989 gefragt, so wäre niemand auf die Idee gekommen, eine Revolution für die nächste Zeit zu erwarten. Es gab nicht einmal ein Konzept dafür, was nach einer irgendwie gearteten Veränderung in der DDR hätte geschehen können. Es gab seitens der Emanzipationsgruppen niemand, der das Kollabieren der SED erwartet hätte. Keinem war so recht klar, daß der Staat DDR mit der Existenz der DRR unmittelbar verbunden war und deren Ende nicht lange überleben würde. Für die Opposition, die von einem “Dritten Weg” träumte, ging es darum, den Pudel zu waschen, ohne ihn naß zu machen. Dies ignoriert eine westdeutsche Linke, die die DDR-Opposition heute mehr oder weniger verschämt als “Totengräber des real existierenden Sozialismus” bezeichnet. Das Schlimme ist, es stimmt das Gegenteil: daß nämlich die Opposition trotz allem an den Anspruch der regierenden kommunistischen Partei glaubte und eine verfehlte Loyalität zeigte, über die bestenfalls ein paar Stasioffiziere gekichert haben. – Es spricht Wolfgang Rüddenklau (Ostberlin), Redakteur der Zeitschrift “telegraph”, der gerade das Buch “Störenfried. DDR-Opposition 1986-1989” (Basisdruck/ID-Archiv) veröffentlicht hat. (In Zusammenarbeit mit “Jos Fritz” und Passagenwerk)

Haus der Jugend, Uhlandstr. 2, 20 Uhr

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Samstag, 9. Mai 1992

Seminar: Die Neue Linke in Ost und West vor dem Problem des “real existierenden Sozialismus”

(mit Wolfgang Rüddenklau)

Die Wiedervereinigung der Deutschen mit ihrer Herrschaft hat stattgefunden, die der Linken läßt auf sich warten: eine Ungleichzeitigkeit, die nicht zuletzt den zwar historisch, aber noch lange nicht geistig widerlegten Mythen des Staatssozialismus geschuldet ist.

15 bis 18 Uhr im “Archiv für soziale Bewegungen”, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage). Teilnehmerbeitrag 15 DM.

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Dienstag, 12. Mai 1992

Selbstkritik

DDR-Linke zwischen Stasi und Opposition

Gegen die SED opponierten nicht nur Deutschnationale und bürgerliche Demokraten, sondern, neben einer Vielzahl zum Teil anarchistischer Basisgruppen, auch Dissidenten der Einheitspartei, die, wie Jahre zuvor Rudolf Bahro, den Sozialismus vor dem Stalinismus retten wollten, Gruppen wie die “Vereinigte Linke”, die im November 1989 für die “sozialistische Räterepublik” eintrat, Menschen wie Jutta Braband, die mit 18 Jahren als überzeugte Einheitssozialistin der SED beitrat und für die Stasi in dem Glauben arbeitete, das MfS sei organischer Teil der “Diktatur des Proletariats”. 1975 kündigte sie die Zusammenarbeit auf, beteiligte sich 1979 an der Solidaritätsbewegung für Bahro und wurde für neun Monate inhaftiert. – Es spricht Jutta Braband (Ostberlin), Vereinigte Linke, Ex-MdB Linke Liste/ PDS.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Dienstag, 26. Mai 1992

Den Staat denken

Carl Schmitt und die Frage nach der materialistischen Staatskritik

Begriff und Sache der Souveränität sind der modernen Demokratietheorie Hekuba. Weil die Linke den Staat “demokratisieren” oder ihn gar, in der Tradition der bolschewistischen Antike, zum “sozialistischen Staat” modeln will, setzt sie die Zentralität des politischen Willens als neutrale, als reine Form voraus. Ihr entgeht, daß die Form schon der ganze Inhalt ist. Konsequent denunziert sie die Verfechter des autoritären Staates als Demagogen, die dem Staat das falsche Programm geben wollen, als Apologeten der Reaktion. Das sind sie – auch. Denn als Philosophen der Staatlichkeit als solcher kommen sie zugleich nicht umhin, in den Formen objektiver Ideologie zu denken. Der Staatsmann Hitler und der Staatsrechtslehrer Carl Schmitt saßen mitten im Hirn des Souveräns: Könnte der Staat denken, er hätte “Mein Kampf” verfaßt und den “Begriff des Politischen” als Kommentar dazu. Es geht darum, Hitler und Schmitt als objektive Denker der Souveränität derart zu kritisieren, wie es Marx im “Kapital” mit der klassischen Nationalökonomie, mit Adam Smith und David Ricardo getan hat. An diesem Punkt scheiden sich die Wege von linker Demokratietheorie und materialistischer Staatskritik. – Es spricht Joachim Bruhn (Freiburg).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Dienstag, 2. Juni 1992

Konspirative Gesellschaft

Lesung mit Andreas Sinakowski

“Der Spitzel sieht mit den Augen einer Fliege: Das Bild ergibt sich aus unzähligen Facetten. Tritt man zu nahe heran, sieht man nur die Punkte des Rasters. Erst mit einigem Abstand formen sich Konturen und Linien, die Linien des Wahns. Alles in meinem Leben bekam solcherart Bedeutung, die Bedeutung eines vermeintlichen Geheimnisses. Denn der Spitzel lebt nicht, er interpretiert, er küßt nicht, sondern er sucht nach dem in diesem Kuß Bedeuteten. Dem Führungsoffizier geht es darum, den Spitzel mit den ersten Aufträgen nicht nur an sich zu binden. Da die Arbeit Ausschließlichkeit verlangt, muß er isoliert werden. Der einzige Ausweg aus dieser Isolation muß das Gespräch mit dem Führungsoffizier sein. Das Trennende zwischen Spitzel und Bespitzeltem ist das Wissen des Spitzels, sich dem Opfer im Rahmen einer Inszenierung zu nähern. Er kann nie frei in Auge n blicken oder in Arme schließen, wenn in der Brusttasche seines Sakkos das Bandgerät läuft. Diese Eigendynamik verhindert, daß der Spitzel in einen Kontakt zur observierten Gesellschaft tritt. Er ist nicht nur Wärter, sondern auch Gefängnis und dessen erster Insasse. Er besitzt am Ende nichts mehr” – Andreas Sinakowski, geb. 1960, arbeitete von 1979 bis 1985 für die Staatssicherheit der DDR, lebt seitdem in Westberlin. Im Verlag Basisdruck (Ostberlin) hat er das Buch “Das Verhör” veröffentlicht. (In Zusammenarbeit mit “Jos Fritz” und Passagenwerk).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Dienstag, 9. Juni 1992

Die brasilianische Linke

Als 1917 die Nachricht von der russischen Oktoberrevolution in Brasilien eintraf, wurde sie enthusiastisch begrüßt – glaubte doch die Mehrheit der syndikalistisch organisierten Arbeiter, es handle sich um einen spontanen anarchistischen Aufstand. Derlei Mißverständnisse innerhalb des Ex- und Importhandels mit Revolutionskonzepten hatten Kontinuität in der Geschichte der brasilianischen Linken. Knapp 70 Jahre später berichteten Reporter der brasilianischen KP in Wahlkampfspots begeistert aus Prag, Budapest und Moskau “von den Schauplätzen der zweiten sozialistischen Revolution”. Mit diesen und anderen folgenreichen Ereignissen wird sich der Vortrag befassen. – Es spricht Anton Landgraf (Berlin).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Dienstag, 16. Juni 1992

Rosa Luxemburg: Die anti-nationalistische Kritik des Leninismus

So bekannt Rosa Luxemburgs Lenin-Kritik in der Demokratie- und Partei-Frage ist, so sehr wird ihr anti-nationaler Denkansatz ignoriert. Für Rosa L. war der Zusammenhang von nationaler und demokratischer Frage nur im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus gegeben. Nachdem der Imperialismus zum weltumfassenden “Milieu” wurde, ist ein progressiver Bezug auf die Nation ausgeschlossen. Die Fragwürdigkeit des Begriffs der “unterdrückten Nation” wurde augenscheinlich, als Lenin 1918 das Deutsche Reich derart einstufte. Hier scheint die “schreckliche Vision” (Rosa L.) eines Bündnisses Lenin-Hindenburg auf, die den nationalbolschewistischen Tendenzen in der KPD Futter gab. – Es spricht Jürgen Elsässer (Stuttgart), der in der Initiative “Nie wieder Deutschland” arbeitet und u.a. für “konkret” schreibt.

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Dienstag, 30. Juni 1992

“Rasse” und “Geschlecht” im Feminismus

Die in verschiedenen Varianten vorgetragene Rede vom “Sexual- und Sozialrassismus” des Dritten Reiches (Gisela Bock) impliziert eine falsche Gleichwertigkeit sexistischer und rassistischer Ausgrenzungsstrategien im Nationalsozialismus. Diese Parallelisierung von Sexismus und Rassismus wird in den aktuellen feministischen Analysen fortgeführt. Der Vortrag soll zeigen, inwieweit der Gebrauch der Kategorien “Geschlecht” und “Rasse” vor dem unhinterfragten Hintergrund patriarchaler Herrschaftsstrukturen dem Feminismus nicht nur das Begreifen der Rolle der Frauen im NS unmöglich macht, sondern auch das Verständnis der Vergesellschaftung von Frauen heute verstellt. – Es spricht Gabi Walterspiel (Freiburg).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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Freitag, 3. Juli 1992

Aufklärung der Vergangenheit

Unbewußte und bewußte Motive der 68er und nach 1989

Die 68er Generation rebellierte gegen die Verleugnung der NS-Verbrechen durch die Eltern, sie identifizierte sich im Gegenzug mit sozialistischen und kommunistischen Idealen. Im Nachhinein ist jedoch zu fragen, inwieweit ihr “antifaschistisches” Selbstverständnis und ihre allzu umstandslose Identifikation mit den Opfern die wirkliche Auseinandersetzung mit dem NS nicht eher blockiert und dadurch die Übernahme unbewußter Delegationen von den Eltern möglich gemacht hat. Die aktuelle Debatte über die Geschichte der DDR bezieht sich mehr oder weniger stillschweigend auf die “Bewältigung” des NS, im Gewand der Rede über den Stalinismus wird kaum bewußt über den Nazismus gesprochen. Der inflationäre Gebrauch der Wörter “Opfer” und “Täter”, die Rede vom “Auschwitz in den Seelen” und die Diskussion über den “Fall Just” sind nur einige Beispiele, anhand derer die widersprüchlichen Motive der Aufklärer diskutiert werden müssen, um die merkwürdigen Fronten in der Öffentlichkeit zu verstehen. Das Schweigen der 68er über den Stalinismus und ihre damit zusammenhängende neuere “Abkehr” vom Sozialismus sind ebenso vor diesem Hintergrund zu betrachten wie die Kontroversen zwischen Alt-Linken (z.B. Giordano./.Engelmann) und der zutiefst widersprüchliche Umgang mit Reformkommunisten (Modrow vor Gericht, Gorbi ins Hofbräuhaus). – Es spricht Sophinette Becker (Frankfurt), die als Psychologin an der Abteilung für Sexualwissenschaft der Universität Frankfurt arbeitet und u.a. für die Zeitschriften “Psyche” und “Babylon” schreibt.

“Vorderhaus” der Fabrik, Habsburgerstr. 9, 20 Uhr

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Dienstag, 14. Juli 1992

Krisis und Apokalypse

“So viel Ende war nie”: Mit diesen Worten eröffnet Robert Kurz sein Buch “Der Kollaps der Modernisierung”, in dem er, passend zur Jahrtausendwende, die Offenbarung des Johannes zeitgemäß interpretiert. Aber leider deckt er die Quelle seiner Überzeugung, warum die Hure Babylon endlich fallen muß, nicht auf, sondern behauptet dreist, er stütze sich auf die “fundamentale Wertkritik” des Philosophen und Ökonomiekritikers Karl Marx. Es soll gezeigt werden, daß dessen Krisentheorie etwas komplexer ist als das Kurzsche Gerede vom “Grundwiderspruch der Moderne” vermuten läßt. – Es spricht Michael T. Koltan, “Archiv für soziale Bewegungen” (Freiburg).

Um 20 Uhr im Jos Fritz-Café, Wilhelmstr. 15 (Spechtpassage)

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