Die Produktion der Panik

Wechselbad der Gefühle, Produktion der Panik

Hartz IV, die Wendung in den autoritären Staat und die Nazifikation des Subjekts

Initiative Sozialistisches Forum

“Jedem Vierten droht Arbeitslosenhilfe-Entzug.”

Süddeutsche Zeitung, 8. November 2004

“Emotionale Bindung an diesen Staat entsteht erst durch erlebbare … Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, die eine Geschichte hat… Es wird den Deutschen schon schwer genug gemacht, ein positives Verhältnis zu dieser Schicksalsgemeinschaft zu finden.”

Frankfurter Allgemeine, 5. November 2004

“Niemand wird sich entziehen dürfen.”

Gerhard Schröder zur Agenda 2010, Frankfurter Allgemeine, 15. März 2003

Kurze Geschichte vom Souverän und einem abgewiesenen Liebhaber

Die Menschen in Deutschland haben es schwer. Zum Beispiel Andreas S. aus Löningen im Landkreis Cloppenburg. Von ihm berichtet der “Stern” am 14. Oktober 2004 unter der Rubrik “Verharzte Seelen”. Andreas S. ist Major der Reserve. Aber er will das nicht mehr sein, weil er für einen Euro die Stunde im Hallenbad die Putze spielen muß. Das heißt keineswegs: Er sei sich zu schade fürs Feudelkommando. Aber: Er möchte geachtet werden dafür, und zwar als Volksgenosse und gutes Rädchen im Großen & Ganzen. Jeder an seinem Platz. Aber so war es gerade nicht gewesen auf Arbeit. Da hat man ihn ausgelacht, nur weil er den “olivgrünen Dreß” trug, das Stig-ma des Staatskörpers. Sein Ehrenkleid. Daher hat er der BRD komplett gekündigt und hat dem Staat einen Brief geschrieben, in dem er das “Ehrenkreuz der Bundes-wehr” sowie die “Oderflut-Medaille des Landes Brandenburg” retourniert. Andreas S. ist deutsch, daß es kracht. “Andreas S. lag nie in der sozialen Hängematte”, weiß der “Stern”. Vielmehr: “Er hat sich mit Leidenschaft für sein Land, für die Solidar-gemeinschaft eingesetzt. Verpflichtete sich als Zeitsoldat, war Kompaniechef in der Logistiktruppe, bildete alle drei Monate 200 Wehrpflichtige aus”, wurde ausgezeich-net. Aber jetzt hat er dem Staat die Treue aufgesagt, weil er nicht mehr weiß, “wie weit er sich noch der Autorität der staatlichen Führung anvertrauen könne.” An sei-nen Staat schreibt er: “Meiner Auffassung nach ist dies nur so lange möglich, als der Staat und seine Vertreter selber als sittlich zu begreifen sind.” Und aus den Medien der FdGO hallt der Kommentar: “Das Land ist arm an Seele. Ärmer als an Geld.” So schwatzt sich die deutsche Revolution in Rage.

Historisches zur Orientierung

“Arbeit für Dein Volk adelt Dich selbst.”

Slogan des Reichsarbeitsdienstes

Arbeitsdienst war “Ehrendienst am Volk”, sollte Standesunterschiede einebnen und zeigen, “daß der eigentliche Sinn der Arbeit nicht im Verdienst liegt, den sie ein-bringt, sondern in der Gesinnung, mit der sie geleistet wird.”

Stichwort Reichsarbeitsdienst, in: Wolfgang Benz u.a., Hrsg., Enzyklopädie des Na-tionalsozialismus, Stuttgart 1997

Aktuelles zur Präzisierung

“Für erwerbsfähige Hilfebedürftige, die keine Arbeit finden können, werden Arbeits-gelegenheiten geschaffen werden. (…) Diese Arbeiten begründen kein Arbeitsver-hältnis im Sinne des Arbeitsrechts.”

§ 16 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) vom 24. Dezember 2003 (BGBl I S. 2954/2955).

“Geld entsteht im Kopf.”

ADIG Investment

* * *

Niemand wird sich entziehen können. Jeder Fluchtversuch ist zwecklos. Die Macht und die Gewalt des Staates gründen in der souveränen Verfügung über Leben und Tod. Jeder weiß, wenn er auch sonst nichts weiß, daß das Recht nur eine Erschei-nungsform, d.h. das Schaufenster der Souveränität ist, daß die “angeborenen” und “unveräußerlichen” Menschenrechte zur Dekoration gehören. Nicht zwar in dem Sinne, daß sie ganz und gar überflüssig wären, sondern so, daß sie eine Zutat darstel-len, den notwendigen Zierat der souveränen Selbstdarstellung in den Zeiten gelin-gender Akkumulation. Es ist nicht das Recht, das den Souverän ausmacht oder gar konstituiert, sondern der Souverän ist der “Meister der Krise” (Gerhard Scheit) und des Ausnahmezustands, der sich, so temporär wie konjunkturell, in die Form des Rechts einkleidet und somit an sich selbst die Grenze zwischen Legalität und Illega-lität darstellt. Jeder weiß überdies, daß die Form des Rechts Funktion ist von Ware und Wert, von Geld und Kapital. Das weiß jeder schon ganz ohne Lektüre der Marx-schen “Kritik der politischen Ökonomie”, weil die Zellform des Rechts, der Vertrag gleicher und freier Subjekte, der jedwede Gewalt ausschließen soll, auf die juristi-sche Fiktion des freien Willens gebaut ist: Eine Fiktion, die zwar einerseits Vorspie-gelung und Machination ist wie noch jede Fata morgana, die doch andererseits als wirklich geltend unterstellt, praktisch zugerechnet und tatsächlich vorausgesetzt wird in der Form des gewaltbewehrten Rechts selbst: Realfiktion von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit sowie dingliche Gewalt in einem.

Macht und Gewalt des Staates gründen im totalen Zwang zur Freiheit, in der Gewalt gegen die Individuen, die sie nötigt, Subjekte zu sein, die sie zwingt, die ju-ristische Realabstraktion des freien Willens gesellschaftspraktisch im eigenen Flei-sche zu betätigen. Die Entscheidung über Leben und Tod wiederum, das Privileg des Souveräns, fundiert in dem Urteil, das die Akkumulation des Kapitals über den Ein-zelnen vollstreckt, basiert auf der im Kapitalverhältnis so notwendigen wie unver-meidbaren Produktion einer relativen und absoluten Überbevölkerung, auf der Pro-duktion des überschüssigen Menschen. Der Staat, der autonome Verwalter des Rechts, ist zugleich der angestellte Prokurist der Akkumulation. Was als die pure Notwehr auf den Montagsdemonstrationen gegen “Hartz IV” und “Agenda 2010”, gegen “Sozialabbau” und “Neoliberalismus” daherkommt, was “Für Arbeit und sozi-ale Gerechtigkeit” plärrt – das Projekt also, dem Elend der Ökonomie mit dem Terror von Staat und Politik zu kontern –, führt nur immer tiefer in den Schlamassel hinein, in die deutsche Misere. “Eine andere Politik ist möglich!” fordert, frei nach Attac! und Oskar Lafontaine, die “Wahlalternative Arbeit & soziale Gerechtigkeit”. Es geht aber um die Abschaffung, nicht um den alternativen Gebrauch des Staates.

“Hartz IV” ist nur vordergründig Ökonomie, und die “Agenda 2010” be-zweckt vielmehr, aus Staatsräson und von Staats wegen, die Produktion der Panik im Subjekt. Der Souverän provoziert den Protest gegen den “Sachzwang” der “Wirt-schaft” geradezu, die “unser Schicksal” sein soll, um gegen die Objektivität der “Globalisierung” den freien Willen zu pointieren (d.h. “Gemeinnutz vor Eigennutz” zu setzen), um den freien Willen und den Voluntarismus, den Wahn selbstherrlicher Entscheidung, immer reiner herauszuarbeiten und aus der Gesellschaft heraus zu destillieren. Der freie Wille hat, in letzter Instanz, keine Substanz außer dem Opfer des Leibes für den politischen Souverän, und der Körper ist sein dingliches Unter-pfand. Der Souverän nimmt die Probe auf den Körper und das Leben, d.h. auf die Loyalität, das Kapital die Probe auf die Arbeitskraft, d.h. auf die Produktivität; und beide setzen darin das Individuum als Stück Natur. “Der Mensch selbst”, sagt Karl Marx, “ist, als bloßes Dasein von Arbeitskraft betrachtet, ein Naturgegenstand, ein Ding”, wenn auch, so fügt er hinzu, ein “lebendiges, selbstbewußtes Ding”. Daß die Arbeitskraft nicht einfach durch Gewalt angeeignet, sondern als W are erst noch ver-mittelt und gekauft werden muß, ist zwar das Gesetz der kapitalistischen Vergesell-schaftung (der reale Schein der Freiheit), aber zugleich das Elend jedes einzelnen Kapitalisten. Einerseits kommt dem Individuum das “Selbstbewußtsein” zwar aus seiner Gattungseigenschaft selbst zu, andererseits ist Bewußtsein nur unter der Form des Subjekts gesellschaftlich gültig und zugelassen, d.h. einzig als die Denkform des Kaufens und Verkaufens, so, wie es aus der merkwürdigen Tatsache erwächst, daß der Bezug des Menschen auf sich selbst, seine Selbstreflexion und sein “Ich”, nur in der Form des Privateigentums an sich selbst als der Ware Arbeitskraft möglich ist. Das Subjekt ist die Wertform des Individuums. Und das Recht ist die Bedingung der Möglichkeit der Panik, insofern es das Individuum systematisch unter den Zwang zur Identität setzt. In der Form des Subjekts wird die Panik auf kleiner Flamme stets und beständig am Köcheln gehalten. – Aber das gehört zum ABC der kommunistischen Gesellschaftskritik.

Nicht dazu gehört, zumindest nicht unter deutschen Marxisten, daß der Staat damit nicht etwa der Ökonomie als fauler oder parasitärer Überbau aufsitzt, sondern ihr immanent ist, und auch nicht, daß der Souverän dem Kapital einwohnt als die Bedingung der Möglichkeit des Kapitals selbst. Diese Linke weiß, wenn sie auch sonst nichts weiß, was geschieht, wenn der Staat das Recht auf freie Verfügung an der Ware Arbeitskraft durchstreicht. Die Antwort des ABC ist nämlich: dann ist Schluß mit dem Lohnabstandsgebot, dann drückt die “industrielle Reservearmee” gnadenlos auf den Lohn der Arbeiter, dann kommt das Kapital aus den roten Zahlen, die Gewerkschaft geht in Konkurs und mit den “working poor” kommt der Klassen-kampf zurück: “Die Wiederkehr der Proletarität” (Karl-Heinz Roth). Die Frage müß-te aber tatsächlich lauten: Was geschieht, wenn nicht nur das Recht auf freie Verfü-gung an der Ware Arbeitskraft, sondern die Subjektform und somit auch die Arbeits-kraft als gesellschaftliches Schicksal der Menschen durchgestrichen wird? Eliminiert man nämlich die Warenform der Arbeitskraft für die “industrielle Reservearmee”, überläßt sie aber nicht auf Gedeih und Verderb dem Schicksal der freien Konkurrenz, d.h. dem Hunger, dann eignet man die Arbeitskraft dem Staat selbst zu, verleibt sie diesem ein. Indem sich der Staat mit den Mitteln von “Hartz IV” die Arbeitskraft unvermittelt als sein öffentlich-rechtliches Privateigentum und Monopol aneignet, indem er die “Lazarusschicht der Arbeiterklasse” und das “Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee”, d.h. den “Pauperismus” der Sozialhilfeempfänger, mit der “indus-triellen Reservearmee” (Marx) verschmilzt, d.h. mit einer (in der Perspektive des Kapitals) zwar, physisch betrachtet, arbeits- und “erwerbsfähigen”, gesellschaftlich und objektiv allerdings überschüssigen Menschenmasse zusammenschmeißt, die keine “Reserve” mehr sein kann für irgendeinen kapitalproduktiven Zweck – indem der Staat die Arbeitskraft derart verstaatlicht und gar: sozialisiert, wird die über-schüssige Bevölkerung in einer jenseits von Lohnarbeit und Kapital stehenden, recht eigentlich: “dritten Klasse” zusammengeworfen, die, als Staatsklasse, zugleich unter wie daher über allen Klassen steht. Hier geht es dann nicht mehr um Bedürfnisse, sondern um “Bedarfe”, wie Hartz IV unter § 20 SGB III (“Regelleistung zur Siche-rung des Lebensunterhalts”), sprachschöpferisch konstatiert, ergo: um Lebendhal-tung.

Das Subjekt lebt stets in doppelter Abwehr: Einerseits, und in halluzinierter Notwehr, ist es fundamental antisemitisch gegen die “Übermenschen”, andererseits ist es strukturell rassistisch in der Abwehr der “Unmenschen”. Dieser Zwei-Frontenkrieg ist sein Unwesen und seine Identität, und darin setzt es sich selbst als Subjekt des Vertrages, als den selbstherrlichen Urheber der kapitalen Vergesellschaf-tung. Indem es derart gegen seine Reduktion aufs Individuum massiv einschritt, war es immer zugleich aggressiv gegen die “Nebenmenschen”, die bloß betreuten und verwalteten Körper. So lebte das Subjekt auf den moralischen Pump des zum Objekt gemachten und verwalteten Menschen, d.h. auf den ideologischen Borg des Kontras-tes zur Sozialhilfe, zur Lebendhaltung. Der Übergang dahin war schleichend, der Untergang verlief peu à peu. Aber jetzt ist das Kontinuum einkassiert worden, der schleichende Übergang von der glamourösen Selbstherrlichkeit der Geldverfügung in die kaltherzige Fürsorge der Bedarfsprüfung und der Sozialrazzia entfällt, und damit entfällt auch der Grund zu der wie immer verblendeten Hoffnung, der Aufstieg liege in der Entschlossenheit und Willenskraft des Einzelnen. Es war dies die täuschend echte Simulation des historischen Liberalismus mit den etatistischen Mitteln von ABM und Ich-AG. An die Stelle des Kontinuums tritt nun der Sprung und das Ab-rupte, der Absturz. Der Souverän gibt der Salami-Taktik den Abschied. Indem aber die Vermittlung abgeschafft und eine absolute Grenze gezogen wird, ändert sich auch die Qualität der Rubrifizierten selbst; aus den Verkäufern im Wartestand wird das Zwangskollektiv der Versorgten, halbherzig Gepflegten und notdürftig Gespeis-ten, werden Leute, denen man “in vertretbarem Umfang auch Beziehungen zur Um-welt” (§ 20) gestattet: “Essen außer Haus” 10,31 €; “Bus, Bahn, Rad” 19,18 €; “Tele-fon, Modem, Post” 22,35 €; “Freizeit, Unterhaltung, Kultur” 38,66 € pro Monat (Stern °39/2004), wenn man denn nicht, der Grünen wegen, unter den “Umweltbe-ziehungen” gleich therapeutisches Bäume-Umarmen verstehen will, das einstweilen gratis ist. Und jedermann weiß, daß die Überflüssigmachung des Menschen keines-wegs in der Verwaltung und Lebendhaltung der Körper nach Maßgabe der Sozialhil-fe endet, d.h. in Armenspeisung und Caritas, sondern, das Schicksal der Entmündig-ten und Psychiatrisierten lehrt es, erst mit der vollendeten Geschäftsunfähigkeit und Entmündigung: Nichts anderes steckt in der Ahndung “unwirtschaftlichen Verhal-tens” nach § 23.

Weder Bourgeois noch Citoyen: “Hartz IV” leitet eine Entwicklung ein, an deren Ende nicht bloß die Verstaatlichung der Arbeitskraft steht, sondern das politi-sche Kuratel auf Leben und Tod, die Aneignung der Individuen als Körper durch den Staat, durch die politische Souveränität des Gesamtkapitals. In diesem Zwielicht zwischen dem Status der noch pro forma Subjektivierten, der de jure schon Entsub-jektivierten und der de facto längst Objektivierten spielt sich das Drama ab. Hier wird die Panik gezüchtet, die die Staatsklasse in der kommenden Zusammenbruchs-krise des Kapitals antreiben wird. Was hier wiederkehrt, ist nicht, wie es das ABC des Deutschmarxismus wohl möchte, ein so aufklärungsfähiges wie durch Not und Elend zur Selbstaufklärung angehaltenes Klasseninteresse, sondern die mit allen Mit-teln der Politökonomie forcierte Verblendung, d.h. die gesellschaftliche Energie und der Èlan vital der Barbarei selbst. Hier entsteht keineswegs, wie es der Marx der “Deutschen Ideologie” vom deutschen Proletariat gerne gesehen hätte, eine Klasse, deren besonderes Elend zugleich “die Protestation” gegen die Allgemeinheit des E-lends nur überhaupt bedeutet, sondern eine Klasse, die ihre Verelendung durch die Verallgemeinerung des Elends zu heilen trachten wird. Hier entsteht eine unmittelbar vom Souverän abhängige Menschenschicht, eine Klasse von Leibeigenen, die ihm auf Biegen und Brechen so unbedingt zu Gehorsam verpflichtet ist wie nur der un-mittelbar und vorbehaltlos auf den Staat vereidigte Beamtenpöbel, der für seine blo-ße Treue und mechanische Pflicht belohnt, der allgemeinen Konkurrenz enthoben, in seiner Existenz alimentiert und für‘s prompte Ja-Sagen bezahlt wird; und all das nur, damit er in der Zusammenbruchskrise des Kapitals etwas zu verlieren haben wird. Hier allerdings, im Staatsproletariat, wird nicht die Existenz, sondern die Subsistenz alimentiert: die Lebendhaltung. Was hier zählt, i st nicht die paritätisch formierte und tariflich regulierte, die im Zweifel prozeßfähige Arbeitskraftveräußerung, sondern deren quasi-militärischer, d.h. allzeitbereiter “Einsatz” (FAZ). Diese “dritte Klasse” wird die Schwungmasse sein der neuerlichen Wendung in den autoritären Staat und hinein in die Faschisierung, die dem Nazifaschismus notwendig vorausgeht.

Das anerkennt, im Feuilleton, sogar die “Frankfurter Allgemeine”, die sich doch so sehr nach dem Opfer sehnt und nach der Selbstentleibung des Subjekts: Die Utopie der Agenda 2010 sei, heißt es am 29. Juli, die allgemeine “Unmittelbarkeit zum Staat”; ihre “Zielvorstellung die Monade, die, aus allen allzu engen … menschli-chen Bindungen der Vergangenheit befreit, dem Staat direkt gegenübersteht”, und die Anthropologie dieser Reform, d.h. der “Menschentypus” nach Hartz IV, sei “der Einzelkämpfer, der alle Brücken hinter sich abgebrochen hat und weiter fortlaufend abbricht. Er wohnt allein in einer günstigen Zweizimmerwohnung, trifft sich, um emotionale Löcher zu vermeiden, regelmäßig mit Freunden am Büdchen um die E-cke und findet sein seelisches Gleichgewicht ansonsten bei Meditationskursen, die ihm dabei helfen, immer wieder Tabula rasa im Kopf zu machen und neu anzufan-gen.” Es versteht sich, daß der kulturkritische Elan dieser Zeitung immer nur so lan-ge reicht, bis es wieder Zeit wird, die “lausbubenhafte Unbekümmertheit” (FAZ, 7. 8.2004) der Chefvolkswirte zu lobpreisen – aber immerhin wird die “Eingliederung in Arbeit” (§ 1) als durchaus antiliberale Rekrutierungsmaßnahme verstanden, als Mobilisierung und Militarisierung der Arbeitskraft für den Staat. Diese Unmittelbar-keit zum Staat ist ein anderer Name für die Volksgemeinschaft, ein Zustand, der erst nach einer neuerlichen, so antikapitalistischen wie daher notwendig schon wieder deutschen Revolution gegen alle gesellschaftliche Vermittlung durch Geld und Recht eintreten kann. Der Kampf gegen die Vermittlung und also für die negative, die bar-barische Aufhebung des Kapitals ist immer auch der “Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauffassung”, den Herbert Marcuse 1934 analysierte, ist der Kampf dafür, daß auch “der Souverän ein Grundrecht auf Irrationalität hat” (FAZ, 11.11.04).

Der vermittlungslose Einbau der ohne jede Reserve vereinzelten Einzelnen in den gesellschaftlichen Zwangszusammenhang, dessen Synthese der Souverän, das “Staatssubjekt Kapital” (Heinz Langerhans, 1934) ist, wird sich allerdings durch ein noch stärkeres Herausstreichen der im NS zwar schon präsenten, aber noch nicht durchgearbeiteten Fusion der Psychokratie in ihren esoterischen und vulgärpsycho-logischen Momenten mit der Staatsbürokratie auszeichnen. Das braune Grün der Alternativen, Erbschaft der späten Siebziger und Treibstoff der Grünen Partei, hat diesen “Dritten Weg” vorgezeichnet, der direkt in die Ideologie der “Dritten Klasse” führt. Es sind die “erdigen Braun-Anteile der Seele”, von denen Rudolf Bahro schwärmte, die nun, im quasi-therapeutischen Geschwätz von “Empowerment” etc. pp. zur Geltung kommen, d.h. die Übertragung der industriellen Psychotechnik und des Kultus der “deutschen Taylorisierung” (Deutsche Arbeitsfront) auf das zwangs-demokratisierte, nach wie vor höchstens postfaschistische Deutschland, jetzt z.B. mit den Mitteln des sog. “Bochumer Persönlichkeits-Inventars”. Das spezifisch Grüne an der Rot-Grünen-Politik besteht eben darin, die Spiritualisierung des Kapital-Verhältnisses mit den Mitteln der Postmoderne zur Ideologie der “Eigenverantwor-tung” (§ 1) zu re-materialisieren und den Okkultismus aus einem Spaßvergnügen ‚postmaterialistisch’ gesonnener Studienräte und Soziologen zur Lingua franca der Arbeitsverwaltung werden zu lassen. Was längst schon in den Trainings- und Coa-ching-Maßnahmen der Arbeitsämter eingedrillt wird: der zum Psychojargon der neu-en Gefühligkeit gehörende “Zwang zur Selbstunterwerfung” (so Frank Rentschler in Exit 1/2004), verallgemeinert sich: “Hartz IV ist kein Gefühls- oder Gerechtigkeits-test, Hartz IV ist … der Beginn eines sozialen Intelligenztests” (FAZ, 7.9.04). Diese gewisse Mischung aus Existenzgründerelan, Tai Chi, Bäumeumarmen und Buddhis-mus, d.h. der praktizierte Aufklärungsverrat, der schon jedem entgegenschlug, der einmal ein grünalternatives Kulturzentrum betrat – in Freiburg z.B. die “Fabrik für Handwerk und Ökologie” – und die dort zur Schau gestellten Unmassen esoterischen AgitProps begutachtete: “Sind sie bereit, Metaphysiker zu werden?” (Näheres unter www. metacentervienna.at), hat sich zum Herrschaftswissen radikalisiert. Hartz IV ist auch die Geistrevolution, die zum “Umdenken” passende Praktik.

“Hartz IV” und “Agenda 2010” sind so das Labor und das politische Produk-tionsverhältnis der Panik. Es geht hier nicht um die begründete Furcht oder auch Re-alangst, die der Mensch, als Individuum betrachtet, haben kann und irgendwie be-wältigen muß. Dann gälte: das Pfeifen im Walde vertreibt zwar die Dunkelheit nicht, macht aber leichter ums Herz. Das wäre ja die Aufklärung, und, in der Konsequenz, die Revolution und der Kommunismus. Die Freiheit wäre der Lohn der Angst. Dem Staat geht es aber vielmehr darum, die Realangst ins Virtuelle zu schieben, zu ver-fremden und durch die Panik der blinden Selbsterhaltung zu substituieren, d.h. den kleinen Unterschied zwischen Kalkutta und Kreuzberg folgenlos und zur Meinung zu machen. Der Mensch, von Staats wegen nicht als Individuum, sondern als Subjekt betrachtet, hat zwischen sich als Naturding einerseits, als Gesellschaftswesen andrer-seits kurzzuschließen und – darin besteht das Wesen der Panik – den politischen Souverän als das Selbstbewußtsein seiner leiblichen Not in sich zu installieren. Das erste Gebot derartiger Not ist, daß sie kein einziges von den zehn mehr anerkennt. In der Panik erscheint als Produktionsverhältnis, was Sigmund Freuds “Massenpsycho-logie und Ich-Analyse” am Beispiel der Auflösung “künstlicher Massen”, insbeson-dere der Armee, dargestellt hat. Bei Hartz IV ist die Panik das Produkt der ganzen Operation. “Eine Panik entsteht”, schreibt Freud 1921, “wenn eine solche Masse sich zersetzt. Ihr Charakter ist, daß kein Befehl des Vorgesetzen mehr angehört wird, und daß jeder für sich sorgt ohne Rücksicht auf die anderen. Die gegenseitigen Bindun-gen haben aufgehört und eine riesengroße, sinnlose Angst wird frei. (…) Der Einzel-ne … bezeugt damit die Einsicht, daß die affektiven Bindungen aufgehört haben, die bislang die Gefahr für ihn herabsetzten. Nun, da er der Gefahr allein entgegensteht, darf er sie allerdings höher einschätzen. Es verhält sich also so, daß die panische Angst die Lockerung der libidinösen Struktur der Masse voraussetzt …” Die “künst-liche Masse”, um deren Auflösung es hier jedoch geht, ist die kapitalisierte Gesell-schaft selbst, damit die “zweite Natur” (Marx) und all die Fetischcharaktere, die das Denken und Handeln nach den Maßgaben objektiver Ideologie formieren. Der Sou-verän, Nothelfer des Kapitals, transformiert in genauer Antizipation der letalen Krise eben die Realangst, die aus der Auflösung der Gesellschaft entsteht, zur Panik und zur Einsatzreserve, aus der heraus die Neubegründung der falschen Gesellschaft durch ihren Bankrott hindurch möglich werden soll. Die “riesengroße, sinnlose Angst”, von der Freud spricht, schlägt, in die Form des Subjekts gebannt und in ihr so bewußtlos wie doch zielstrebig ausgiert, in die Panik um, d.h. in Mord und Tot-schlag. So, wie historisch betrachtet, die Freikorps und die SA die Antwort auf die Auflösung der Reichswehr waren, so, wie der Reichsarbeitsdienst den bankrott ge-gangenen Gewerkschaften das Attest ausstellte, so quittiert Hartz IV den Untergang der spezifisch postfaschistischen Form der Vergesellschaftung in Deutschland und das Ende der “sozialen Marktwirtschaft”, d.h. “der Illusion vom dritten Weg zwi-schen Kapitalismus und Sozialismus” (FAZ , 3.11.04), oder auch, wie Dirk Hirschel, Chefökonom des DGB, meint, “das Ende des Rheinischen Kapitalismus” (FR, 23.7.04).

Damit ist nicht gesagt, daß der politische Souverän, als immerhin “ideeller Gesamtkapitalist” (Friedrich Engels), auch eine Idee oder gar einen Begriff von dem Ganzen hätte, das er repräsentiert, administriert und praktisch exekutiert. Das Selbst-bewußtsein der kapitalisierten Gesellschaft, das im Staat inkarniert, ist Ideologie und ergo manischer Denk- und Kombinationszwang: objektiv unabweisliches und not-wendiges, eben darum falsches Bewußtsein. Die politische Spitze dieses Bewußt-seins stellt die reine Veröffentlichung des gesellschaftlichen Unbewußtseins dar. Der Staat handelt nicht im politikwissenschaftlichen, sondern er agiert im psychoanalyti-schen Sinne. Und weil es bei “Hartz IV” gar nicht wirklich um “Ökonomie” geht, kann der “ideelle Gesamtkapitalist” auch keinen Plan haben, kein Rezept und kein Programm. Anders ausgedrückt: es gibt keine “Offensive des Neoliberalismus”, au-ßer in der blühenden Phantasie derer, die den Staat zumindest pro forma und den Schemata der Volkssouveränität gemäß zumindest an sich und seiner Idee halber für die Zentralisation des politisch freien Willens halten: “Der Staat sind wir” (Ferdinand Lassalle). Was er an sich ist, das muß er für uns, ‚das eine Volk’, noch erst werden: das ist der Staatlichkeitswahn, der den Montagsprotest antreibt (siehe Uli Krug und Karl Nele in Bahamas N° 45). Die unter linken Staatsfreunden gängige Polemik nach der Façon “Alle Gewalt geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin?” verkennt, daß die Idee der Volkssouveränität den freien Willen nur insofern als Konstitutivum der Souveränität anerkennt, als es der freie Wille von Subjekten ist, die in der Form des Vertrages interagieren. Das Individuum, “stofflicher Träger” (Marx) des Subjekts, ist in eine Form gebannt, die die Form eines ganz anderen Inhalts darstellt, der Akku-mulation. Der demokratische Staat, der so der Form halber nur die Extrapolation der Vertragsform zu sein scheint, ist der Sache nach nur das Kondensat der Akkumulati-on, die sich durch diese Form hindurch vollzieht. Kein Einzelner in dieser Gesell-schaft, der das Bewußtsein des Zusammenhangs, gar: das kritische Bewußtsein der negativen Totalität zu haben vermöchte. Daß die Gesellschaft als Nexus von Subjek-ten verfaßt ist, die, im vollen Bewußtsein ihrer Zwecke, das gesellschaftliche Unbe-wußtsein als die Anti-Ratio von Herrschaft und Ausbeutung, von Souveränität und Kapital reproduzieren, schlägt nicht nur die Agenten des Staates mit Verblendung, sondern auch die Lautsprecher des Kapitals, so z.B. den BDI-Präsidenten Rogowski. Er tut so, als wisse er genau, worin die Krise des Kapitals besteht. Er weiß aber bes-tenfalls, woher die sinkende Gewinnspanne der Einzelkapitalisten kommt, denen er vorsitzt. Weil er keine Kenntnis der allgemeinen gesellschaftlichen Voraussetzungen haben kann, unter denen das Kapital dem tendenziellen Fall der Profitrate auswei-chen könnte, kapriziert er sich darauf, die Vorschläge der Denkschrift des Reichsver-bandes der Deutschen Industrie (RDI) von 1929 zu wiederholen. “Der soziale Frie-den ist teuer erkauft, und das hat uns zum Teil die Probleme beschert, die wir heute haben”, sagt Rogowski (Spiegel-Online, 15.9.04). Natürlich will er den autoritären Staat, natürlich will er die Deflation, und selbstverständlich haßt er die Gewerkschaf-ten, die “Neidgesellschaft” dazu. Aber so wenig die Denkschrift des RDI von 1929 die Bedingung der Möglichkeit der Aufhebung der Konkurrenz der Kapitalisten un-tereinander programmieren konnte und somit den “sinnvollen”, d.h. nazifaschisti-schen Gebrauch des kollektiven Kapitals der Klasse, d.h. des Staatshaushalts, so we-nig ist der BDI dazu in der Lage. Der Staat ist nicht der “geschäftsführende Auss-chuß der herrschenden Klasse”, und zwar deshalb nicht, weil er unmöglich die Summe und das Integral der Willensbekundungen aller Einzelkapitalisten darstellen kann, soll er wirklich “der Staat des Kapitals” (Johannes Agnoli) sein. Der Staat ist vielmehr nur in dem Maße “ideeller” Gesamtkapitalist, in dem er unmittelbar zu-gleich “ideeller” Gesamtprolet ist. Anders wäre der historische Nazifaschismus – das klassenübergreifende, in sich klassenaufhebende Mordkollektiv – auch gar nicht zu erklären als eben dadurch, daß der Staat die Subsistenz der Arbeiterklasse im diktato-rialen Jenseits der Konkurrenz garantiert. Der reelle Souverän ist der Treuhänder von Kapital und Arbeit zugleich. Im Souverän konzentriert sich das Spiegelspiel der Poli-tik, das die Linken und die Rechten mit sich ausfechten, als die Bedingung seiner Möglichkeit und Mechanismus seiner Reproduktion, ein Spiel, das politisch die Form des Gegensatzes von Schmittianern und Rousseauisten annimmt, das ökono-misch als der Streit der (Neo-)Liberalen mit den Keynesianern erscheint. Aber das Kapital agiert, ob als capital fixe, ob als variables, auf beiden Seiten des Gegensatzes zugleich.

Daß es bei “Hartz IV” nicht um “Ökonomie” im Sinne einer quasi naturwis-senschaftlich-technisch zu besorgenden Produktion und Reproduktion von Bedarfs-gütern geht, auch nicht um die berühmte “Umverteilung von unten nach oben” oder gar um die berüchtigte “Profitmaximierung”, zeigt die an sich simple Frage danach, wie denn in einer Gesellschaft vollendeter Konkurrenz nur irgendwer das Bewußt-sein von der Totalität als das konkrete, das praktische Wissen um die Verallgemei-nerbarkeit seines besonderen Zwecks haben könne. Wäre es mit den “Kapitalisten” wirklich so bestellt, wie PDS oder NPD (“Enteignungspolitik der herrschenden Klas-se”: Deutsche Stimme 9/2004) es sich vorzustellen belieben, dann könnte das Kapital als die gesellschaftliche Totalität gar nicht sein. Daher nimmt das Bewußtsein vom gesellschaftlichen Zusammenhang, das vom “freien Willen” des “Volkes” ausgeht und in “freien Wahlen” zwecks nationaler Selbstbestimmung sich ausübt, bei seiner Karriere durch die Öffentlichkeit und die Wissenschaft hindurch und in die Staats-spitze hinein keineswegs zu, und es gewinnt auch keinesfalls etwa an Umfang durch bessere Information oder an Klarheit durch gründlichere Reflektion. Den “Planstaat” kann es nicht geben. Das spontane Bewußtsein wird nur gereinigt und veredelt, ge-wissermaßen gefiltert. Die Dummheit der Stammtische, die den ARD-Börsentrottel toll findet, ist, im Kabinett angelangt, die Philosophie des Kanzlers und schwört auf Sir Karl Popper. Der Mann von Nebenan weiß von “der Ökonomie” gerade so viel wie “die Wirtschaftsweisen” oder der Wirtschaftsteil der “Frankfurter Allgemeinen”, dem zufolge denn auch die gegenwärtige Krise darin liege, daß die Leute, obwohl man ihnen totale “Einkaufsfreiheit” (FAZ, 20. 9. 2004) verschafft, nicht aus ihrer “Konsumstarre” (FAZ, 29. 9. 2004) aufwachen wollen. Wenn das Bewußtsein des Volkes dem Staat zu Kopfe steigt, dann wird es naturgemäß nicht klüger, sondern erst recht brutal und raffiniert, weil systematisch. Was Karl Marx im ersten Band des “Kapital” der Volkswirtschaftslehre, der “Vulgärökonomie”, bescheinigt hat, trifft die Politikwissenschaft, also die Vulgärpolitik, zugleich: Nichts anderes unternimmt sie, “als die banalen und selbstgefälligen Vorstellungen der bürgerlichen Produkti-onsweise von ihrer eignen besten Welt zu systematisieren, pedantisieren und als ewi-ge Wahrheiten zu proklamieren.”

Daher kann es bei Hartz IV überhaupt gar nicht um “Ökonomie” gehen. Nicht der behauptete Plan und die “Agenda 2010” sind von Interesse. Es gibt kein Interes-se. Was es gibt, ist die politische Konkurrenz zwecksetzender Individuen in der ih-nen gemeinsamen und kollektiv unbewußten Form des Rechts. Die Politik, d.h. die Form, in der sich der Souverän veröffentlicht, funktioniert im Grunde nicht anders als der Markt, auf dem sich das Kapital veröffentlicht. Es sind die sogenannten Fehl-leistungen, die Kunstfehler des Gesetzgebungshandwerks, und es ist das Unabsichtli-che und irgendwie Ungewollte, das, wie in der freudianischen Psychoanalyse, offen-bart, worum es tatsächlich zu tun ist, d.h. um die Produktion der Panik. An der offi-ziellen Spitze des Staates, im Ausdruck der Institutionen, die das Selbstbewußtsein der Gesellschaft darstellen, die ihre Identität ausdrücken und ihr “Ich”, agiert das gesellschaftliche Unbewußtsein, die Natur und der Trieb der kapitalisierten Gesell-schaft als das “automatische Subjekt” (Marx) seiner selbst. Salopp gesagt: der Kanz-ler denkt nicht. Es denkt in ihm. Er spricht auch nicht. Es spricht durch ihn hindurch. Er ist, im strikten politökonomischen Sinne des Wortes, eine “Charaktermaske”. An der Spitze des Staates, eben da, wo nach Maßgabe der Ideologie die Subjektivität des freien Willens ganz ungeschmälert und unentfremdet zum Ausdruck kommen soll, herrscht das genaue Gegenteil, und es regiert die Marionette.

Die Unmittelbarkeit zum Staat, die Schaffung der Staatsklasse, kann nur das Wechselbad der Gefühle bedeuten, das um den etwaigen Restverstand bringt. Sys-temnotwendig muß daher ein Skandal den nächsten jagen, und die neueste Schlagzei-le: “Arbeitslose erhalten im Januar kein Geld. Clement bleibt bei Zahlungspause für ALG II” (Frankfurter Rundschau, 29.7.04) macht die letzte noch lange nicht verges-sen: “Für Arbeitslosengeld-II-Empfänger stehen alte Plattenbauten bereit”(FAZ, 23.7.04). Je mehr guter Rat nottut – “Große BILD-Telefon-Aktion: Wird der Lohn meiner Tochter auf meine Stütze angerechnet? Zehntausende riefen an” (BILD, 12.8.04) –, desto teurer kommt er zu stehen: “Hartz IV. Arbeitslosengeld II. Sozial-geld – ?! Ihre Rechte”, von flinken Juristen link zusammengeschmiert, kostet schon 9 Euro 90. Was der Klappentext verspricht: “In einer verständlichen Sprache formu-liert, mit der jeder Laie umgehen kann”, das enthält das Büchlein wirklich, nämlich den Rat, “daß auch eine handwerklich schlecht gemachte Sozialgesetzgebung nicht zum Rechtsmißbrauch führen darf”, obwohl “Ihnen Ihre Pflichten naturgemäß schneller zuteil werden als Ihre Rechte” (Funda Soysever u.a., Hamburg 2004).

Und überhaupt: die Sprache! “Die Hartzsprache erreicht die Menschen nicht. Viele sind bereit hart zu arbeiten, doch sie wollen anders angesprochen werden”, weiß der Freiburger Soziologe Dr. Gert Keil (Frankfurter Rundschau, 10. 9. 2004). Keil ist, wen wundert’s, nicht nur Soziologe, sondern “freier Politikberater” dazu. Die Fusion von Bürokratie und Psychokratie war in der Soziologie immer schon an-tizipiert. Die Bürokratie setzt den Schock, der soziologisch-psychokratische Kom-plex adelt ihn zur Erfahrung. Kaum ist die Schlagzeile “Union: Länger arbeiten, we-niger Urlaub machen” (SZ, 8.11.04) gedruckt, schon schreibt Norbert Blüm am Re-print seiner Predigt vom letzten Jahr: “Im übrigen ist das Humankapital die moderns-te Vermögensform” (FAZ, 14.3.03). Kaum wird gemeldet, wegen des Umbaus des Arbeitsamts zum “Bundessozialamt” komme es zu einem “dramatischen Rückgang der Vermittlungen” (FAZ, 11.11.04), erinnert man sich des Artikels “Respekt vor den Verlierern schaffen” von Ferdinand Sutterlüty, der tatsächlich als “wissenschaft-licher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung” (SZ, 13.2.04) firmiert: Adorno hat umsonst gelebt. Und kaum war die FAZ dafür eingetreten, Schluß zu machen mit “der Idee, daß in einer Gesellschaft jeder zählt und keiner aufgegeben werden darf” (31.7.04), schon erscheint bei Suhrkamp ein “Glossar der Gegenwart”, das so recht postmodern die These riskiert, die “Konturen der Gegenwart” ließen sich “nicht zurückführen auf ein kohärentes Integrationsprinzip, auf eine herrschende Ideologie oder ein organisierendes Zentrum”, sondern sie seien, mit Foucault, nur “Möglichkeitsfelder” (Ulrich Bröckling u.a., Hg., Frankfurt 2004). Dieser soziolo-gisch-psychokratische Komplex paßt zum bürokratischen Schock wie der Spott zum Schaden.

Die Produktion der Panik setzt auf den Schock. Weil der Bürger weiß, wozu er selbst fähig ist, darum traut er seinem Staat alles zu und noch viel mehr. Dieses generalisierte “Vertrauen in Politik”, die kostbarste Ressource des Souveräns über-haupt, wenn denn, so der Kanzler, “unser Land wieder zu einem Zentrum der Zuver-sicht werden muß” (FAZ, 15.3.04), wird durch den Schock nicht etwa irritiert, son-dern forciert. Der Schock ist der Nerv der Panik, er elektrisiert und scheucht die Sub-jekte zur Herde auf, macht sie zur Masse der Atomisierten. Die Politik, die den Schock setzt, macht keine Fehler, sie ist der Fehler, und daher ist sie das System, dem es um das vermittlungslose Eintakten der Subjekte in den Okkasionalismus der Staatsräson zu tun ist. Die Produktion der Panik besorgt die Nazifizierung der Sub-jekte, die sodann, vermittels ihrer Verstaatlichung in den Formen von Law & Order, in die geordnete und volksgemeinschaftliche Aggression nach Innen und Außen ge-gossen werden wird. Die Ökonomen der “Frankfurter Allgemeinen” wissen längst, daß es nicht um “die Ökonomie” geht, daß mit besserem Wirtschaften niemandem mehr zu helfen ist. Vielmehr geht es, hochtrabend “aus der Sicht der realistisch-machiavellistischen Sicht der ökonomischen Theorie der Politik” formuliert, um die “Sprengung des Konsenskorsetts”. Gefordert wird die Ausschaltung der “Vetospie-ler” und “die Absage an den Konsens um jeden Preis”: “Wichtig ist konzeptionelle Klarheit, strategisches Denken, Mut und politische Führung mit visionärer Kraft: Schumpetersches Politikertum.”(FAZ, 13.9.04). Joseph A. Schumpeter, soziologi-scher Prä-Faschist von Graden und Urheber der Theorie der “produktiven Zerstö-rung”, gibt die Perspektive dieser Souveränität: Wie das capital fixe von Zeit zu Zeit moralisch entwertet und materiell zerstört gehört, so auch das variable. Der Nazifa-schismus, die Panik des kapitalen Souveräns, war, als so stählerne wie elastische Einheit von Kalkül und Raserei, die Utopie dieser “produktiven Zerstörung” und damit einer “politischen Führung mit visionärer Kraft”. Die Produktion der Panik ist die Destillation des Voluntarismus, des politischen Willens zur Unbedingtheit und zur reinen Dezision, die Entscheidung um ihrer selbst willen, die der Selbstverwer-tung des Werts gemäß ist. Was schon lange, und seit dem 9. Mai 1945 erst recht, in der stillen Begeisterung für Carl Schmitt weste, der gesellschaftspraktische Wahn des freien Willens, setzt sich darin als Prinzip: “Politik ist der Brückenschlag von der Hypothese (der Wissenschaft) zum Imperativ (der Entscheidung). Es ist an der Zeit, diesen Brückenschlag zu vollziehen”: So etwa Christoph Böhr, stellvertretender Vor-sitzender der CDU-Wertekommission, in seinem Artikel “Arbeit für alle” (FAZ, 2. 5. 2003).

Die Panik, um deren Produktion es dem Souverän geht, tritt dann ein, wenn die Selbsterhaltung überkocht, die Macht ergreift und die Realangst beiseite schiebt. Panik ist, wenn die Selbsterhaltung kollabiert. Wenn der Verstand umgerempelt wird und angepöbelt, um den Körper zu retten. Panik ist die Stampede der Lemminge. In der Gesellschaft geht es dann zu wie im Kino, wenn es brennt: Das hastet alles zum Ausgang und tritt sich gegenseitig tot. Panik ist dann, wenn Es denkt und Über-Ich lenkt. Wenn Es glaubt, es sei was, das zählt. Wenn Ich hofft, sich zu retten, indem es sich ins Es schmeißt. Das ist die Panik: Sehenden Auges in den Untergang, auf gut deutsch: Schicksal, Verhängnis, “Vorsehung”. Hier wissen alle ganz genau, was kein einzelner begreift. Panik ist eine Art Amok der “unsichtbaren Hand”. Also die Ge-sellschaft als Lawine, der losgelassene Zwangszusammenhang der falschen Verge-sellschaftung und ein Schneeballsystem, bei dem es, wie immer im Märchen, keinen wirklich treffen soll, weil die Letzten mit Sicherheit die Ersten sein werden. Aus Angst vor dem Konkurs wirft sich die Gesellschaft der Subjekte mit Hab und Gut in die Lotterie, nu r um nicht von Hans D. Barbier und namens der Ludwig-Erhard-Stiftung wegen “Konkursverschleppung” verklagt zu werden: “Konkursverschlep-pung ist ein gravierender Verstoß gegen eine in Gesetzesform gegossene Facette der Moral des Marktes” (FAZ, 12.11.04). Das ist fein gedacht und gut gesagt.

Die Panik, das versteht sich nun, hat mit der Anthropologie von Individuen nichts, mit der gesellschaftlichen Ontologie der Subjekte dagegen alles zu tun. Panik ist nicht eine Neigung der “Masse Mensch”, eine objektive Tendenz ihrer psychi-schen Verfaßtheit. Sie ist ein politisches Produktionsverhältnis. Darin wird dem Sub-jekt qua Schock vor Augen geführt, wie einsam und verloren es ist, und daß es keine wirkliche Vermittlung gibt zwischen dem Einzelnen und der Gattung, sondern nur den Sprung der Monade mitten hinein ins falsche Kollektiv. Das Subjekt hat sich erst in “Sachzwang mit Gemüt” (Ebermann/Trampert) zu üben, dann, im Zustand der Panik, rast es Amok im Gehäuse seiner Hörigkeit: Mordlust aus Einsicht in die Not-wendigkeit (frei nach Goldhagen). Im Maße, in dem die Panik das Subjekt ergreift, greift es zur Theorie, d.h. zur Verschwörungstheorie und zu eben dem Selbstbewußt-sein, das ihm aus der Fusion von Psychokratie und Bürokratie zuwächst. Dies fügt dem System der Ideologie als der kalten Ordnung des falschen Bewußtseins nichts hinzu, es zieht vielmehr die rigorose Konsequenz daraus. Als so resoluter wie ver-geblicher Versuch, noch die Panik nach den Maßgaben der Ideologie selbst zu be-greifen, muß diese Verschwörungstheorie unmittelbar auf Praxis hinauslaufen, auf Mord und Totschlag also, d.h. auf Rassismus und Antisemitismus. Der Antisemitis-mus – in feineren Kreisen nur als Antizionismus goutiert – ist die Option auf die Vernichtung. Wo denn soll die “an sich berechtigte Israel-Kritik” erst noch in den Antisemitismus umschlagen? Indem sie so fragen – wie in diesem Fall Wolfgang Benz in seinem neuen Buch “Was ist Antisemitismus?” (München 2004) –, wissen sie’s und haben sie’s schon getan. Dann schlägt die Stunde der Proudhonisten. Sie mühen sich, die Theorie, die doch nur in ihrer Praxis existieren kann, für sich zu fi-xieren, d.h. als Sektenprogramm, für das man, gut bürgerlich, Vereinsbeiträge ent-richtet. Die Anzeigenplantagen der FAZ sind voll damit: “Die Wirtschaft soll uns Bürgern umweltfreundlich und mit möglichst wenig Arbeit alle Güter liefern, die wir für das Leben, für ein möglichst gutes Leben benötigen. Seit Jahrhunderten war dafür das Hilfsmittel ’Geld’ nötig, jetzt aber ist eine verständliche Wirtschaftsordnung vor-stellbar, bei der im Mittelpunkt stehen ’Güter + GeBer’ (Güter und Bezugsrechte)” (mehr davon bei: “Aktion Zukunft. Verein zur Förderung zukunftsorientierter For-schungen” aus 48527 Nordhorn unter www. aktion-zukunft.de). So alt wie die bür-gerliche Gesellschaft selbst, so alt ist auch das Programm zur “Brechung der Zins-knechtschaft” und niemals um neue Etiketten verlegen, hießen sie nun Tobin-Steuer oder sonstwie. Das ist die Tradition der deutschen Ideologie: Rebellischer Wahn der Produktiven.

Die Panik in Deutschland ist Antisemitismus, in ihrer letzten Konsequenz wie in ihrer ersten Zuckung.. Seine andauernde, nicht totzukriegende Präsenz schon im Stande der “Normalität” ist deren Vorschein, ihr Potential; “Erziehung zur Demokra-tie”, auf Staatskosten gar, ist daher sinnlos. Weit davon entfernt, den sog. Extremis-ten von links und rechts exklusiv zu gehören, ist der Antisemitismus der Extremis-mus der Mitte selbst, der nur allzu gut begründete Selbsthaß der Subjekte, der vom Selbsterhaltungswahn abgelenkt wird. Die Mitte ist der Ort, in dem die antagonisti-sche Gesellschaft ihre auch soziologische Vermittlung findet, ihre Identität und Ein-heit, d.h. ihren Mittelstand; sie ist der Ort, in dem allein das Privateigentum als Rechtsgut zählt und zählen soll, ob an Arbeitskraft, ob an Produktionsmitteln. Die falsche Utopie der in sich versöhnten Klassengesellschaft, die in der Form des Rechts doch wahr wurde, findet hier ihren natürlichen Boden und ihre gesellschaftliche E-xistenz, auf der der Staat, abermals nur soziologisch betrachtet, als das Institution und Apparat gewordene Bündnis von Lohnarbeit und Kapital bislang praktisch auf-ruhte. Denn der “ideelle Gesamtkapitalist” ist der “ideelle Gesamtlohnarbeiter” zugleich; der Staat ihr beider Treuhänder und daher der berufene Apologet der zwar einigermaßen kühnen, doch allseits beglaubigten Behauptung, daß die Arbeit es sei, die das Eigentum schaffe. Daher sorgen sich die liberalen Bürgerblätter in Sachen “Hartz IV” wesentlich um die Abschaffung des “auf Leistung” basierenden Versi-cherungsprinzips, d.h. um die Streichung des “Systems der erworbenen Ansprüche” (Die Zeit, 8. 7. 2004, vgl. auch taz, 6.9.02), während diesen “Gesinnungslümmeln” (Marx) die Lebendhaltung der Körper nach Maßgabe der Sozialhilfe stets noch Be-weis genug ihrer sozialen Großherzigkeit war und also Volksküche nach Art. der famosen “Hamburger Tafel”. Diese linksliberale Kritik weiß denn auch nur, wie etwa der Bundesverwaltungsrichter Uwe Berlit, zu bemängeln, daß “der Rückgriff auf die Vertragsform trotz fehlender rechtsgeschäftlicher Abschlußfreiheit ein Formen-mißbrauch des Gesetzgebers ist” und daß dieser “sanktionsbewehrte Kontrahierungs-zwang gegen das Grundgesetz verstößt” ( Uwe Berlit, Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe, in: info also N° 5/2003): Das Pochen auf den Vertrag als Vergesellschaftungsform freier und gleicher Subjekte: das ist, natürlich jenseits jedweder Dialektik des Vertragssubjekts selbst, noch das Beste, was von der bürgerlichen Öffentlichkeit zu erwarten ist: Als dieses Beste ist es aller-dings bezeichnend und niederschmetternd zugleich.

Vermittels der ihr selbst wesenseigenen Extreme hält sich das “juste milieu” den Spiegel seiner Selbsterkenntnis vor, aber nur um sich, je länger, desto mühsamer, die Contenance zu wahren. Man muß kein Totalitarismus-Theoretiker sein, aber in der Mitte, da ist es zum Aus-der-Haut-fahren: Links (alias Genosse Lenin) die Wut der deutschen Lohnarbeit auf das “mühelose Einkommen”, rechts (alias Bruder Hit-ler) die organische Haßliebe des industriellen Kapitals auf die “spekulative Börse” – und beides zerreißt die Mitte und fegt sie, d.h. doch nichts anderes als die “Staatspar-tei” selbst , auseinander, allerdings in Richtung einer kollektiven Politik. Als erstes geht es gegen Israel als das, noch zurückhaltend gesagt: geopolitische Alibi der kommenden innerstaatlichen Feinderklärung. (Der “Schumpetersche Politiker” war Antisemit schon in Gestalt des Politikers Schumpeter). Der Mittelstand hat den sieb-ten Sinn, und ist deswegen antiamerikanisch zugleich. Hier ahnt man schon, was der Souverän im Schilde führt, wenn er sich seine Klasse schafft. Der Mittelstand, d.h. das Grün, das zu der Sorte Rot paßt, hat als das privilegierte Milieu der Vermittlung schon ausgedient, auch wenn es sie noch feuilletonistisch und akademisch, ob nun in den Ideologemen der Zivilgesellschaft oder schon gleich der Postmoderne, bedient und sich ihr praktisch, ob freischaffend oder verbeamtet, zur Verfügung stellt und sich gar zum Autor der Vergesellschaftung erklärt. Foucault ist der theoretische Ü-berbau, der auf Claudia Roth paßt, Habermas und Negt geben das Bewußtsein, das für Attac! und Müntefering zugeschneidert ist – und all das läuft, wie stets in Deutschland, auf Martin Heidegger, den Ideologen der Panik, hinaus. Denn nicht dumpfe und passive Mitte: Sumpf also im genauen Sinne des Marais der französi-schen Revolution, will man sein, sondern Autor und Urheber, Stifter und Vermittler, umtriebig, selbstbestimmt, energisch und jobaqutiv. Die Mitte hat aber kein Selbst und nirgends Substanz. Sie weiß nicht recht, wozu sich entscheiden, und nimmt da-her an ihren Extremen den innigsten Anteil. Sie ist beides zugleich, borgt, wo sie kann, nimmt, wo sie’s kriegt, und sie wird es nachher wieder nicht gewesen sein. Diese Mitte befindet sich genau dort, wo die Extreme sich aufschaukeln: als deren strategische Achse. Als Vermittlung ist die Mitte eine juristische Fiktion von bloß konjunktureller sozialer Existenz.

Das Unbehagen an seiner Funktion steht dem Mittelstand ins Gesicht ge-schrieben. Man merkt das zuerst im Feuilleton, immer dann, wenn wieder die ennu-yante Frage nach dem Lernen aus der deutschen Geschichte behandelt werden muß. “Aus der Geschichte lernen” – das möchte man schon gerne, denn aus der Geschich-te lernen, soll diesmal heißen: das Siegen lernen. Wie läßt sich das Prinzip der “wehrhaften Demokratie” im Sinne des handelsüblichen, des kostenlos nachgetrage-nen Antifaschismus mit der zwanghaften Sehnsucht nach dem “Schumpeterschen Politiker” vereinbaren, und wie soll das gehen: “politische Führung” ohne Führer? Wenn, wie mit den Mitteln von “Hartz IV” und “Agenda 2010”, der Vertrag als Form der Vergesellschaftung zur Unkenntlichkeit entstellt und in sein scheinbar glat-tes Gegenteil, das Kommando, transformiert wird, dann kann auch der Souverän auf nichts mehr aufruhen, was irgend nach Staatsvertrag aussieht und “Vetospieler” zu-läßt. Denn “Deutschland leidet an tausend Verhinderungsinstanzen”, weiß Helmut Schmidt, und er weiß außerdem, “daß das Wohl des Vaterlands höher stehen muß als das der eigenen Partei” (Die Zeit, 22.5.03). Die Dialektik von Bourgeois und Citoyen schnappt über und manifestiert sich als die von Eigennutz und Gemeinnutz. So hat sich gelegentlich der diesjährigen Feiern zum 20. Juli die Staatsministerin für Kultur, Christine Weiss (SPD), im Bendlerblock öffentlich gefragt, warum ihr der deutsche Widerstand, insbesondere der letzte Ausruf Stauffenbergs vor dem Exekutionskom-mando “Es lebe das heilige Deutschland”, so fremd geworden sei. Dann sagt sie: “Wir leben heute in einer Zeit, in der wir nichts von Heiligkeit hören können, ohne sofort an Scheinheiligkeit zu denken. Und wir betrachten den Staat Deutschland als eine von jeglicher Metaphysik weit entfernte Vertragsgemeinschaft zum gegenseiti-gen Interessenausgleich. Stauffenbergs Beschwörung des ’heiligen Deutschland’ führt uns zu einem völlig anderen Begriff von Nation und Staatlichkeit…” (FAZ, 20.7.2004). Metaphysik aber muß sein: Und keine zwei Wochen später weiß die “Frankfurter Allgemeine” von den Feierlichkeiten von Ypern, den Schlachtfeldern des 1. Weltkriegs, zu berichten: “Die Deutschen können genau das nicht: ehrenvoll und stolz die Kriegsgeschichte der eigenen Nation als sinnvolles Geschehen nachle-ben” (31.7.2004), d.h. vorsterben. Deutsch sein heißt, in dieser Reihenfolge, sterben machen und sterben können. Das ist die Metaphysik von Leuten, die sich für die “Bedarfe” der Physis zu fein sind.

Zwar: die Propaganda für das Opfer, für Staatsmetaphysik, gegen “Schönwet-terdemokratie” in Deutschland ist so alt wie der autoritäre Staat, so ausdauernd wie die Agitation gegen die “Raffgesellschaft” und so nimmermüde wie die Polemik ge-gen den “schnöden Materialismus” der kalkulierenden Interessenten.. Aber darin sprachen die bürgerliche Öffentlichkeit und ihr Staat gleichsam doch noch, wenn auch nur als die Testamentsvollstrecker und Nachlaßverwalter des Nazifaschismus, als die so wohlsituierten wie kultivierten Erben der organisierten “Entjudung”. Aus Weimar lernen – das ist vorbei. Gelernt wurde längst die “wehrhafte Demokratie”; und der Staat des Grundgesetzes durfte, in der Abwehr der Extreme von Links und Rechts, von ganzem Herzen autoritär sein bzw. keine Mördergrube draus machen. Die politische Produktion der Panik und ihres gesellschaftlichen Agenten, der staat-sunmittelbaren Klasse, demonstrieren, daß jetzt ein ganz neues Kapitel aufgeschla-gen wird. Wie immer in Deutschland geht es darum, wer die Nase vorn hat beim Sichhineinsteigern in die Theorie und Praxis der putativen Notwehr, wer die Avant-garde der Panik stellt, wer die Speerspitze der Hysterie sein darf. Jetzt wird nicht mehr historisch rückversichert, jetzt wird futuristisch agiert. Damit Deutschland nicht mehr “das einzige Land ist, wo diejenigen, die erfolgreich sind und Werte schaffen, deswegen vor Gericht stehen”, so Josef Ackermann, Deutsche Bank (SZ, 22. 1. 2004), damit also die “Ausbeutung des Staates” (Schröder, FAZ, 23. 9. 2004) ein Ende hat, und damit die Souveränität endlich anfangen kann. Die Wiederkehr des Immergleichen geht in die nächste Schleife.

Atteste

“Längere Arbeitszeiten können allen helfen. Der erste Schritt ist gemacht.”

Die Welt, 11. 7. 2004

“Was wir erlebt und gespielt haben, war Monopoly. … Es mußte alles nur toll ausse-hen und plausibel sein. … Auch ich kam mir vor wie ein Junkie – meine Droge war die Börse.”

Der Vorstandschef der Phenomedia AG, Markus Scheer – der Erfinder von “Moorhuhn” –, vor dem Gericht in Bochum, angeklagt wegen Bilanzfälschung. Frankfurter Allgemeine, 5.11.2004

“Sie arbeiten gemeinnützig, das heißt, ihre Leistung kommt der Allgemeinheit zu gute. … Wer soziale Hilfen in Anspruch nimmt, ist verpflichtet, seine Arbeitskraft voll einzubringen. … Ist es nicht ungerecht, daß jemand arbeitet und nicht mehr üb-rigbehält als derjenige, der nicht arbeitet? … Die Vorteile für die Hilfeempfänger liegen zumindest nicht kurzfristig in einem höheren Entgelt, sondern in der Verbes-serung ihrer gesellschaftlichen Stellung, einer Stärkung ihres Selbstwertgefühls …”

Johann Eekhoff, Hartz IV mit ordnungspolitischem Kompaß, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.9.2004 (Eekhof ist, als immerhin “praktizierender Protestant”, Direktor des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Uni Köln, Direktor daselbst des Instituts für Wohnungsrecht und Wohnungswirtschaft, Sprecher des Wissenschaftli-chen Beirats der Stiftung Marktwirtschaft, zudem noch Kuratoriumsmitglied der Ini-tiative Neue Soziale Marktwirtschaft).

“Die Bereitschaft zur Veränderung ist in der Gesellschaft zu spüren. Jedoch ist politi-sche Führungsstärke erforderlich, um die Reformkräfte zu bündeln und die überfälli-gen Modernisierungen gegen den Widerstand der Bedenkenträger durchzusetzen.”

Institut zur Zukunft der Arbeit (Bonn), Den Reformaufbruch wagen! Aufruf von 250 Ökonomen an die politischen Entscheidungsträger, in: Frankfurter Allge-meine Zeitung, 31.5.2003.

“Deutschland ist aus dem Schatten seiner Geschichte herausgetreten.”

Frankfurter Allgemeine, 20.9.2002

“Soziale Sicherung ist bei uns zum System der Störungsabwehr, gar der konsequen-ten Störungsvermeidung geworden; es ist der Anti-Markt. … Es geht letztlich darum, eine Reinigung der Köpfe zu erreichen.”

Michael Hüther, Deutsche Mythen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.8.2004; Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln, zuvor Chefvolkswirt der Deka-Bank, Frankfurt.

“Wir haben heute leider eine Vielzahl von Managern, denen völlig egal ist, wie viele Arbeitsplätze noch in Deutschland sind, und die keine emotionale Bindung an das Land haben. …. Der Patriotismusgedanke gehört auch die Chefetagen.”

Laurenz Meyer, CDU-Generalsekretär, nach FAZ vom 19.11.2004

“Der Staat, der Sozialstaat auch, ist diese freiwillige Vereinbarung auf Gegenseitig-keit.”

Franz Müntefering, SPD-Bundesvorsitzender, nach FAZ vom 23.11.2004

“Die Nachfrage nach Arbeit ist nicht identisch mit Wachstum des Kapitals, die Zu-fuhr der Arbeit nicht mit dem Wachstum der Arbeiterklasse., so daß zwei voneinan-der unabhängige Potenzen aufeinand er einwirken. Die Würfel sind gefälscht. Das Kapital agiert auf beiden Seiten zugleich. … Die Bewegung des Gesetzes der Nach-frage und Zufuhr von Arbeit auf dieser Basis vollendet die Despotie des Kapitals.”

Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie; Bd. 1 (MEW 23), S. 669.

Aus: Konkret N°1/2005, S. 24 ff. und N°2/2005, S. 32 ff.

Trennmarker