Zauberland. Notizen aus dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus

Zauberland

Notizen aus dem Zusammenbruch des Staatskapitalismus

Joachim Bruhn

Die schönste Zeit im Leben ist die, wenn die alte Herrschaft weg ist und die neue ist noch nicht da.
Askoldov, Die Kommissarin

Berlin (DDR),15. März 1990: Die Stunde der Wahrheit

Die Abschlußkundgebung der ’Allianz für Deutschland‘ hat längst angefangen. Gerade kommt Eberhard Diepgen zum demagogischen Höhepunkt und verkündet, der Kanzler in Bonn habe beschlossen, seinem Volk östlich der Elbe die Deutsche Mark zu schenken: “Gutes Geld für ehrliche Arbeit” also, wie es die Plakate der DSU von allen Wänden schreien? Dies Geschenk rechtfertige sich aus der Schicksalsgemeinschaft der Deutschen – schließlich, so de Maizière wenig später, hätten die Insassen des Volksgefängnisses vierzig Jahre umsonst gelitten und auf den befreienden Anschluß gewartet. Tosender Applaus – die knapp 3.000 Deutschen auf dem weiten Platz hinter der Friedrichstraße, unweit vom ’Palast der Republik‘, können vor Begeisterung nicht mehr an sich halten. Der Ruf “Deutschland, einig Vaterland” brandet über den Platz und bricht sich an den Monumentalbauten der Reichsgründer. So ’materialistisch‘ geht es her im Vierten Reich, das hier seine Installation feiert, daß die Dankbarkeit fürs ’gute Geld‘ sich nicht als der Warenhunger, der den Massen ins Gesicht geschrieben steht, einbekennt und vielmehr, ganz selbstlos, ein Vaterland und gute Obrigkeit will. Haben oder Sein? Die deutsche Revolution, die Diepgen als sein Werk beansprucht, hat die Frage entschieden: Im Volkswagen zum Volkstum. Eine Gruppe pomadisierter Jünglinge, die mitten in der Menge mit Flugblättern der ’KPD‘, einer der vielen aus dem Zusammenbruch der SED entstandenen stalinistischen Sekten, zündelt, will praktisch werden und schmeißt mit Urquell-Büchsen nach dem Block der ’Vereinigten Linken‘, der längst durch Zwischenrufe wie “Demokratischer Aufbruch – Stasi-Partei. Was ist mit Schnur?” unangenehm aufgefallen ist. Während vom Rednerpult soziale Marktwirtschaft und FdGO gepredigt werden, haben die Teddies längst verstanden, was Sache ist. Ein Mann reckt ein Schild mit der Parole des Tages: “Ein Geld, ein Volk, ein Land”, der allerneuesten Ausgabe des Slogans “Ein Volk, ein Reich, ein Führer”, der schon oft über diesen Platz hallte. Die Geschichte des Nationalsozialismus wird begreifbar erst auf Plätzen wie diesem, wo sich die zum Volk zusammengerotteten Leute, im Dunklen, verloren auf dem weiten und eisigen Platz, den Mut zur Flucht nach vorne andrehen lassen. Nur die Redner sind im Licht. Von der Pressebank kann man Diepgens Schweiß sehen und ahnt die Lust, die ihm das Lügen macht; ein Demagoge vom Scheitel bis zur Sohle. In seinen Memoiren wird man über diesen Abend, fünf Tage, bevor BILD unter der Schlagzeile “JA zur Einheit, JA zur Freiheit, JA zu Deutschland. Ihr Völker der Welt, freut euch mit uns!” den Wahlausgang melden wird, nichts anderes lesen als das, was Heinrich Brüning, einer der letzten Kanzler vor Hitler, über die Technik des politischen Betruges schrieb: “Die Versammlung in Stettin (am 9. April 1932, während der Agitation für die Wiederwahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten – J.B.) vor etwa 15.000-18.000 Menschen fand in einer Markthalle statt, die eisig kalt war, so bitter kalt, daß … ich während der Rede den Mantel anbehalten mußte. Dabei trieb der Wind ab und zu Schnee durch die offenen Luken in die Halle hinein. Keine Rede in der ganzen Zeit ist mir so schwer gefallen wie diese. Die Leute, die zum Teil ohne Mäntel in entsetzlicher Armut und Not dort saßen, mußte ich für die Stimmabgabe für den Reichspräsidenten gewinnen und ihnen beibringen, daß er sie vor einem Verfassungsbruch behüten würde, während ich wußte, daß der Reichspräsident sich gleich nach der Wahl gegen sie wenden würde.” Obwohl hier, am 15. März, alles andere herrscht als Not, vielmehr Begeisterung für das Kaufhaus des Westens, kann das hier eingeschlagene Geschichtstempo nur zur Wiederkehr des Gleichen führen. In nur siebzehn Jahren, von 1917 bis 1934, haben die Deutschen einen Weltkrieg verloren und einen neuen vorbereitet, zwei Regierungsformen, Monarchie und Republik, umgestürzt und die nazistische Diktatur zumindest erlaubt, zwei Inflationen überstanden und dann das Kapital mörderisch gerettet – eine atemberaubende Zeit, die die Leute ebensowenig zur Vernunft zu bringen vermochte wie die nun endende vierzigjährige Geschichtsflaute im Zentrum Europas. Immerhin: Nur wenn in den Metropolen Krieg herrschte, ging es den Menschen der Südhalbkugel halbwegs gut – die Rohstoffpreise zogen an, nach 1939 konnten sogar die argentinischen Gauchos Steaks essen. Aber die Geschichte wiederholt sich nicht, und wenn sie es doch tut, dann als bewußt gewollte und resolut bejahte Tragödie. Diesmal weiß das deutsche Volk genau, wohin die Reise geht; diesmal geht es mit aufrechtem Gang in die Katastrophe. Am Ende der Kundgebung lädt die Junge Union zum geselligen Besäufnis in den Saalbau Friedrichshain, “Nähe Märchenbrunnen”.

Brot und Spiele – die Botschaft hat der Pöbel, der sich hier versammelt, schon immer verstanden. Und obwohl Schnur, dessen Rücktritt auf der Kundgebung, von seinem Nachfolger Eppelmann bekanntgegeben wurde, am Freitag verhindert war, wußten die Massen, worum es geht: Am gleichen Abend wurden in Leipzig, während der Rede des Bundeskanzlers, Mitglieder des ’Neuen Forums‘ von Anhängern der DSU krankenhausreif geschlagen. ’Wir‘ sind eben ein Volk.

Berlin (DDR), 16. März: Eine Kundgebung für den ‘wahren” Sozialismus

Der Alexanderplatz ist ein einziges Meer aus schwarzrotgoldenen Schmachtfetzen. Wie in diesen Tagen überall in der DDR findet sich weit und breit keine rote Fahne. Wozu auch? Denn glaubt man Rainer Land, Dr. sc. oec. von der Sektion Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin, der zum brain trust der hier demonstrierenden Partei des demokratischen Sozialismus (PDS) gehört, dann war es Kommunismus, der in der DDR gewesen sein wird: “Die bloße Unmittelbarkeit ohne Geld, Staat, Politik, Gewinn – ursprünglicher und somit auch roher kommunistischer Gesellschaftansatz – hat sich in der Unmittelbarkeit stalinistischer Machtausübung ad absurdum geführt: Wer die Unmittelbarkeit pur will, der erntet die unkontrollierte, demokratischer Bindungen enthobene, von den Individuen gänzlich abgekoppelte und diese sich unterordnende Einheit von Politik-, Wirtschafts- und Kulturmacht – ausgegeben als Macht des Volkes, in Wirklichkeit Macht gegen das Volk.”

Der Philosoph Land plädiert stattdessen für den demokratischen Staat, für einen sozialistischen Staat des ganzen Volkes, in dem es nicht beherrscht wird, sondern sich selber beherrschen darf. Was Land so alles philosophiert, das deklamieren Walter Janka. Steffi Spira und Gregor Gysi megawattstark über den Alex. Jankas “Schwierigkeiten mit der Wahrheit” sind abgeheilt: jetzt redet er wieder frei von der Leber weg als der ’wahre Sozialist‘, der. so Marx, die Ideologien des Bürgertums nicht theoretisch widerlegen und ihre gesellschaftliche Notwendigkeit nicht praktisch aufheben will, der an ihnen nur zu kritisieren weiß, daß die ekle Realität beständig das schöne Ideal blamiert. Jankas ’Schwierigkeiten‘ sind nicht nur die im Umgang mit der Wahrheit – was hat er eigentlich bei den Internationalen Brigaden in Spanten 1936 ff .getan? Im Auftrag des sowjetischen Geheimdienstes mit Anarchisten und Trotzkisten … diskutiert? – sondern Schwierigkeiten mit der Dialektik, also mit genau dem. was den Marx der ’Kritik der politischen Ökonomie‘ vom Marx der ’Frühschriften‘ unterscheidet. Aber diesen Unterschied, der einer ums Ganze ist, hat der Bolschewismus, der aktivistische Zwilling der Sozialdemokratie, nie wahrgenommen. Gemeinsam mit ihrem feindlichen Brude r teilte die Kommunistischen Parteien seit der Oktoberrevolution das Dogma, die Religion des Sozialismus sei die Arbeit und sein Tempel die Verwaltung, mit ihrem friedlicheren Doppelgänger waren sie der Meinung, es ginge um .die Befreiung der Arbeit, nicht von ihr. So schufen sie die gesellschaftliche Gesamtfabrik, die das Individuum nur gelten läßt als die bloße und blöde Inkarnation des arbeitstüchtigen Gattungswesens. Und jetzt ruft es Gregor Gysi über den Platz: “Laßt uns eine starke Opposition sein für die Schwachen. Laßt uns von links den Druck auf die Sozialdemokratie organisieren, damit sie ihre Versprechungen wahrmacht! Laßt uns Opposition treiben gegen die SPD im ureigensten Interesse der SPD!” Nicht mehr und nichts anderes soll an den Sozialdemokraten auszusetzen sein als das, sie machten ihre Ideale nicht wahr – und das soll das Ergebnis sein von siebzig Jahren Arbeiterbewegung, die vor lauter Noske und all dem Stalin ganz aus der Bahn geraten ist?

Hier geschieht ein Skandal von historischer Statur: die automatische, ebenso sprach- wie bewußtlose Rückverwandlung des Bolschewismus in Sozialdemokratie, die Entpuppung der Säulenheiligen des Marxismus-Leninismus, der Lenin und Stalin, in die Urahnen des Godesberger Programms, in die Karl Kautsky und Ferdinand Lassalle. Mit derselben Emphase, mit der die SPD die Verwirklichung von Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit seit einhundert Jahren fordert, mit dem gleichen hohlen Pathos wird das ’Neue Deutschland‘ den Wahlausgang am Montag, den 19. März, kommentieren und schreiben: “Diese Volkskammer hat alles, was ihren Vorläufern fehlte – die demokratische Legitimation. Wie aber alle Erfahrung zeigt, macht ein freies Parlament noch keine Demokratie”. Es bedarf nur der Aufmöbelung der SPD-Wahlspots durch die Experten der PDS nach dem Muster der Videoclips, der jetzt über den riesigen Bildschirm flackert: “Ein Rocker entpuppt sich am Ende als Gregor Gysi” (FR, 26.2.90). Der Wald der Deutschlandfahnen bebt vor Rührung, und jetzt sieht man, daß es DDR-Fahnen sind. Die Vereinigung der beiden Deutschlands zum Vierten Reich wird zur Addition zweier Nationalismen führen, des bürgerlich-kapitalistischen und des proletarisch-staatskapitalistischen, somit zur Wiederherstellung der Weimarer Parteienkonstellation und zur Wiedergeburt genau der 1933 und 1956 verbotenen KPD, von der die BRD-Ausgabe des ’Neuen Deutschland‘, die DKP-Zeitung ’UZ‘, jetzt schon schreibt, sie sei “wegen ihres Programms zur nationalen Wiedervereinigung verboten worden” (UZ. 2.3.90) und das heißt nichts anders als: Adenauer war der “Kanzler der Alliierten” (Kurt Schumacher) und ein Volksverräter, die KPD dagegen wahrhaft national. Die Konkurrenz um den Nationalismus wird erneut von einer Linken aufgenommen, die zur Kritik des Nationalstaates konstitutionell unfähig ist. und die. mit den Rechten durch den Widerspruch hindurch vereint, die Leute schon wieder zum Volk erziehen wird, wenn sie denn immer noch keines sein sollten. Wie recht hatte doch Walter Ulbricht, als er auf dem IV. Parteitag der SED 1954 erklärte: “Wir sind für die Einheit Deutschlands, weil die Deutschen im Westen unsere Brüder sind! Weil wir unser Vaterland lieben! Weil wir wissen, daß die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands eine unumstößliche historische Gesetzmäßigkeit ist und daß jeder zugrunde gehen wird, der sich diesem Gesetz entgegenzustellen wagt.” Während der letzte Wahlspot über die Leinwand flimmert und die wohl 20.000 Genossen nach Hause gehen, schmettert es über den Platz: “Born to be wild!”

Eine Erinnerung: Was ist Sozialismus, und was wollen die Sozialisten?

“Der Sozialismus, der seinen Namen von dem lateinischen Wort socialis, ’die Gesellschaft betreffend‘, herleitet, beschäftigt sich, wie schon der Name anzeigt, mit der Einrichtung der Gesellschaft, mit dem Verhältnis des Menschen zum Menschen: er stellt aber kein neues System auf. sondern sein Geschäft ist hauptsächlich, an dem alten Gebäude zu flicken, die durch die Zeit entstandenen Risse wieder zuzukleben und dem Auge zu verbergen, oder höchstens … auf dem alten, vermoderten Fundament, Kapital genannt, ein neues Stockwerk aufzubauen. Der Begriff Sozialismus ist so wenig scharf bezeichnet, daß man alle Gefängnis-Verbesserungs-Erfinder, Armenhäuser-, Spitäler- und Suppenanstaltseinrichter unter die Sozialisten zählen kann, und eben darum, weil das Wort Sozialismus eigentlich gar keinen festen Begriff ausspricht, sondern alles und nichts heißen kann, flüchten sich alle seichten Köpfe, alle Liebesduseler, alle Kerls, die gerne etwas tun möchten. aber keinen Mut zur Tat besitzen, unter seine Fahne und schimpfen über die Kommunisten. die nicht mehr am alten flicken, sondern ein ganz neues Gebäude aufführen wollen.” (Ansprache der Volkshalle des Bundes der Gerechten an den Bund, Februar 1847, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED: Der Bund der Kommunisten. Dokumente und Materialien. Bd.1: 1836-1849. Berlin 1983. S.456)

Leipzig, 18. März: Im Haus der Schizophrenie

Ein Wunder, daß es nicht zu Mord und Totschlag kommt – hier, im ehemaligen Luxusgebäude der SED-Bezirksleitung in Leipzig, das seit dem November 1989 den Oppositionsgruppen zur Verfügung steht. Hier haust eine komplette bürgerliche Gesellschaft, Pluralismus und Freiheit des Andersdenkenden inklusive, unter einem Dach: Unten die SPD, darüber die Grünen, der Unabhängige Frauenverband, die Initiative Freiheit und Menschenrechte, schließlich mit dem Neuen Forum die restlichen Gruppen des Bündnis ‘90, die Vereinigte Linke und, im Oberstübchen, der Demokratische Aufbruch, eine Mitgliedsorganisation der ’Allianz für Deutschland‘, die in wenigen Minuten ihren Sieg – obwohl es der DA auf nur kümmerliche 0.69% bringen wird – mit einem markerschütternden Teutonengebrüll feiern wird. Beim Bündnis ‘90dagegen. das in Leipzig, seiner Hochburg, immerhin 3,31 % bekommt und damit unter der 5%-Klausel bliebe, wenn das Grundgesetz erst gilt, herrschten betretenes Schweigen und der Griff zur Flasche, als der neue Kanzler der DDR vor die Kameras tritt. Seit dem Dezember haben sich die Linken nicht mehr auf ihre Montagsdemonstration getraut; der Umschlag des zukunftsfrohen Slogans “Wir sind das Volk” in die Tümelei von wegen “Wir sind ein Volk” kam so überraschend, daß völlige Begriffslosigkeit und das nackte Entsetzen noch immer anhalten. Der Schreck sitzt tief. Mit der BRD-Linken hat das Neue Forum die Meinung geteilt, bei der Rede vom Volk käme es vor allem auf die Aussprache an und damit auf die Intention, mit der einer das ’Volk‘ in den Mundwinkel sich schiebt. Daher dürfe man, so eine Auskunft der Basis des Forums noch am 17. März, nicht sagen “Wir sind das Volk”, sondern die Betonung habe vielmehr strikt auf Wir zu liegen – gegen die Knüppel der Volkspolizei nämlich und gegen die Lügen der Leipziger ‘Volkszeitung‘ allemal. So recht vermag sich aber keiner den Umschlag der als urdemokratisch mißverstandenen Parole vom legitimen Ursprung der Macht vom Volk in die Stasi-Ideologie vom Volk als Organismus und vom Staat als Hirn der Gesellschaft erklären. Sie haben es nicht gewollt und schon gar nicht haben sie das gewollt – aber am Ort des Begriffs brütet das Schweigen.

Unterdessen heulen im Stockwerk drüber die Sieger; Kerle mit Burschenschaftsstreifen über der Brust schleppen Kistenweise Radeberger Pilsener zum Bacchanal, das Funktionärs- und Devisensäuferbier, die Flasche zum Einkaufsverkaufspreis (EVP) von Mark der Deutschen Notenbank 2,50 (ein Taxifahrer verdient im Grundlohn 0,84 Mark die Stunde). Der Geschäftsführer des DA Leipzig erklärt die Parole vom Volk so, daß alle Fragen restlos geklärt sind – er als Geschäftsführer, der schon immer die Filiale einer Westfirma in Leipzig aufmachen wollte, sei im September und Oktober 1989 Gründungsmitglied des Neuen Forums gewesen, dann gings zum DA, sein Herz schlage mittlerweile für die DSU, er werde sich aber voraussichtlich der CDU anschließen, denn die habe den Daumen auf dem Geldbeutel. Und zwischen dem Volk und dem einen Volk könne er schon deshalb keinen Widerspruch entdecken, weil die Berufung aufs Volk ausschließlich negativ-kritischen Charakter gehabt habe, nur dazu taugen mußte, die schlechte Regierung zu stürzen – während danach, beginnend im Dezember, die konstruktiv-affirmative Phase dieser typisch deutschen Revolution begann, und es jetzt darum geht, aus dem Westen einen guten Staat zu importieren. In Deutschland waren die Bourgeois schon immer die besseren Ideologen, weil die Linke auf ihr Erbe an Marx und Bakunin großzügig verzichtete, den Staat einen guten Mann sein ließ und die Rede vom Volk, je nachdem, welchen ’Klasseninteressen‘ sie jeweils zu dienen schien, ’gerecht‘ sein ließ.

Leipzig, 19. März: “Bauarbeiterhotel”, Grünau

“Ist es provinziell”, fragte die FAZ am 10. Februar ihre Leser im Osten, “wenn sich der Bundestag jetzt mit dem Ausländergesetz beschäftigt? Die normalen politischen Geschäfte müssen weitergehen und ein zusammengefaßtes, bereinigtes, halbwegs klares Ausländerrecht wäre schließlich etwas, was die Bundesrepublik eines Tages in ein vereintes Deutschland einbringen könnte. (…) Aber den Kirchen, auch Teilen der SPD – den Grünen, die multikulturellen Idealen nachstreben, ohnehin – sind die Bedingungen für das Aufenthaltsrecht der Ausländer zu hart. Dabei ist, in einer Zeit, da nicht nur die Volkswirtschaft, sondern auch die Volksseele belastet scheint durch den Zustrom von Deutschen aus der DDR und aus östlichen Staaten, eine Begrenzung des Zuzugs von Ausländern angezeigt.” Was die ’Frankfurter Allgemeine‘ ins neue Deutschland erst noch einbringen möchte, das ist in der staatskapitalistischen DDR längst Alltag gewesen. In Grünau, eine halbe S-Bahn-Stunde vom Messezentrum des weltoffenen und handelstüchtigen Leipzig entfernt, leben die moçambikanischen, vietnamesischen und kubanischen ’Fremdarbeiter‘, die ’Fidschis‘, wie die Genossen sagen, wie im 19. Jahrhundert. Schon das Wort Bauarbeiterhotel ist, wie alles im verwirklichten Sozialismus, die blanke Lüge – das achtstöckige Gebäude, das fast vierhundert Menschen speichert, ist eine Aufbewahranstalt für Arbeitskräfte, die Außenstelle eines Arbeitslagers, das seine Vorbilder in den kruppschen Arbeitersiedlungen oder in den Quartieren Henry Fords findet. Besuch nach 22 Uhr ist verboten, wer trotzdem bleibt, der riskiert, daß sein Gastgeber mit halbjährigem Besuchsverbot bestraft wird. Drei Arbeiter wohnen in einem Zimmer von fünfzehn Quadratmetern, jeder zahlt 30 M für diese fürstliche Herberge, in der die Tapeten von den Wänden bröseln und Kakerlaken die einzigen von der Lagerleitung erlaubten Haustiere sind. Für diese Miete wäre in der Stadt eine kleine Wohnung zu mieten – wenn es denn erlaubt wäre. Im ’Grünauer Krug‘, der einzigen Kneipe in diesem Viertel von noch nicht einmal der ’Lebensqualität‘ des Märkischen Viertels, haben Ausländer Lokalverbot, in Diskotheken trauen sich die Ausländer nur in Gruppen – was ihnen jedenfalls nichts nutzt, denn dann ruft der Wirt die Volkspolizei, die die proletarische Anmaßung, auch einmal sich amüsieren zu wollen, ahndet. ’Internat‘ nennen die Arbeiter ihre Bleibe – und man mag sich eine westdeutsche Jugendherberge der fünfziger Jahre mit Polizeistation vorstellen, um den rechten Begriff zu gewinnen. Schon im Foyer herrscht Ordnung und der Zerberus verwehrt den Eingang – am Schwarzen Brett hängt – wahre Augenweide und einziger Wandschmuck – ein großes Plakat der ’Allianz für Deutschland‘: “Nie wieder Sozialismus”. Es stammt von Herrn Fahst und seiner zwanzigköpfigen ’Betreuergruppe‘, die sich hier ganz, wie es noch im August 1989 hieß, der “Sorge um den arbeitenden Menschen” hingibt und ihre Arbeit so genau nimmt, daß “unsere Werktätigen”, wie man sich ausdrückt, die Arbeit in der VEB Wollkämmerei oder im Reichsbahnausbesserungswerk Leipzig-Süd als Freizeit empfinden: Das ist sie – die Realität des wahrgemachten Sozialismus und seiner imperativen These, Arbeit habe gefälligst das erste Lebensbedürfnis der Menschen zu sein; hier herrscht er – der Staatskapitalismus, an dem die Noch-DKP und West-PDS in spe nur zu kritisieren weiß, ihn kennzeichne die “Mißachtung des (…) sozialistischen Leistungsprinzips” (UZ, 24.3.90).

Die Vereinigung der Deutschländer zum Staat des ganzen Volkes multipliziert den manifesten Rassismus der Bourgeoisie mit dem eklatanten Fremdenhaß der Bürokratie. Was auf die Ausländer im Resultat der zweiten deutschen Novemberrevolution seit der Reichskristallnacht von 1938 zukommt, das hat, ex negative zur ebenso klassen- wie staatenlosen Gesellschaft, die Zeitung für das Neue Deutschland beschrieben: “… aus dem Saarland kommt die falsche Parole, niemand mehr habe Grund aus der DDR zu flüchten, ’politische Verfolgung‘ gebe es dort nicht mehr. Das sind Begriffe, die für Asylsuchende zutreffen, nicht jedoch für Deutsche in der DDR. Wer in der DDR lebt, ist weiterhin, nach der gemeinsamen deutschen Staatsangehörigkeit, in dem Augenblick Deutscher auch im Rechtssinne, da er das Territorium der Bundesrepublik betritt und seinen Willen bekundet, hier zu bleiben … nach den Motiven darf nicht gefragt werden” (FAZ v. 21.3.90).

Schon wieder Deutschland

In Litauen verbrennen die Rekruten öffentlich ihre Wehrpässe, desertieren zuhauf oder verweigern sich der Einberufung. Alles sieht täuschend echt nach Revolution aus – die Armee liegt lahm, Soldatenräte formieren sich, das Gewaltmonopol des Staates ist von heute auf morgen gegenstandlos. Ein litauischer Rekrut, vom Fernsehen nach seinen Motiven befragt, stellte die Sache richtig: “Wir wollen unsere eigene Armee haben, unseren eigenen Staat – nie wieder Fremdherrschaft!” Die Nationale Volksarmee ist derart zersetzt, daß sie sich weigern würde, zu marschieren: Jederzeit hätte der Ruf “Deutsche, schießt nicht auf Deutsche!” Erfolg. Darin liegt das Produktionsgeheimnis des Nationalismus: Er okkupiert die Formen der Revolution – die massenhafte Insubordination – um ihren Inhalt: Kommunismus als freie Assoziation und Bruch mit dem Leistungsprinzip, gründlich zu blamieren und um die Gesellschaft zum Volk, tendenziell zur Armee, zu der man sich freiwillig zu melden hat. umzuformen. Die Deutschen drüben haben sich heim ins Reich revolutioniert, und das Zauberland, das die DDR von Oktober 1989 bis in den März 1990 hinein war – der einzige rechtsfreie Raum der Welt -, hat sich als die angestammte Heimat längst vergessen geglaubter Alpträume wieder kenntlich gemacht. Wir Deutsche, schrieb 1844 Karl Marx, dem jede Spekulation über Volkscharakter und -seele eigentlich fern lag, “befanden uns, unsere Hirten an der Spitze, immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung”.

Aus: Stadtzeitung für Freiburg, April 1990, S. 21-23

Trennmarker