Zur Dialektik der Gegenaufklärung

Zur Dialektik der Gegenaufklärung

Zweimal 11. September: Über das leere Verstreichen der Zeit und den Fortschritt der Linken in den Abgrund

Joachim Bruhn

Was der 9. November seit der Novemberrevolution, der Pogromnacht und der deutschen Wiedervereinheitlichung schon war, das ist jetzt, durch den islamfaschistischen Anschlag auf das World Trade Center, auch der 11. September geworden: ein Geschichtszeichen. Während der Putsch Pinochets gegen die Regierung der Unidad Popular im Herbst 1973 der radikalen Linken das denkwürdige Bild eines Reformisten mit Kalaschnikow bescherte und damit Träume wahr werden ließ, die heute nur noch Trotzkisten und andere Stalinisten umtreiben, bezeichnen  Osama bin Laden und Kameraden die Liquidation der Hoffnung. Während der Untergang Allendes, des letzten Sozialdemokraten, dem es um die Dialektik von Reform und Revolution durchaus luxemburgistisch ernst zu sein schien, in allem Elend doch die Perspektive eines Lernprozesses eröffnete, ist bin Laden schon der Vorbote einer neuen Barbarei, bevor noch die alte, die der Nazis, in ihrer letzten Konsequenz begriffen wurde. Und während die Pleite des Reformismus noch Anlaß zur Reflexion wurde – so etwa in der fulminanten Schrift “Chile – unsere Pariser Kommune” von Lotta continua – , ist der historische Auftritt des Islamfaschismus den Linken weniger Gelegenheit zur ideologiekritischen Inventur ihrer Denkbestände denn zur fleißigen Repetition eingefleischter Schematismen. Zwischen dem 11. September 1973 und dem des Jahres 2001 liegt die sinnlos vertane Zeit, in der die Linke, wie in den Jahren zwischen Revolution und Pogrom, doch noch hätte etwas werden können.

Um zu verstehen, was das ist: “die Linke”, ist es hilfreich, sie als den extremen Pol gesellschaftlich möglicher Dummheit zu begreifen; einer Dummheit, nicht verstanden als eine des Intellekts, sondern als die der prompten Bereitschaft zur Rationalisierung, zum sich theoretisch Verständlichmachen noch der Anti-Vernunft. Es sind die “ungedachten Gedanken” (Freud), die das Maß dieses Tatbestandes geben. Und es ist nur der jeweilige Grad der ideologischen Triebhaftigkeit oder der akademischen Raffinesse, der zwischen “Wildcat” oder “Indymedia” einerseits, Noam Chomsky und Antonio Negri andererseits zu differenzieren erlaubt. Diese Dummheit ist, in dieser ihrer Differenziertheit, die präzise Funktion des Bescheidwissens – ein anderes Wort nur für Faschismusvergessenheit und für den Widerwillen, den Antisemitismus wie den Antizionismus mit Marx und Adorno als die so praktische wie ideologische Antizipation der negativen Aufhebung des Kapitals in Barbarei zu bedenken. Die Linke weiß Bescheid, immer: “Hätte bin Laden nicht die Twin Towers flachgelegt, man hätte es initiieren müssen, um zu vermeiden, daß sich die weltweit anwachsende Kritik am kapitalistischen System zu einem Massensyndrom auswächst”, schrieb das “Indymedia-Info” (29.11.2001). Antisemitismus ist Vorwand. Und die Linke weiß Bescheid, weil Gesellschaft für sie nur aus Klassenkampf und anderen Interessenten besteht, die Verschwörungstheorien von Matthias Bröckers, Jürgen Elsässer und Andreas von Bülow gibt es inklusive. Antisemitismus ist Beiwerk und Lappalie, die Bagatelle zum Massaker. Es ist dumm gelaufen mit der Linken, wenn Antonio Negri, der Zampano der submissen Subtropen, auf Hunderten von Seiten die neue Weltordnung zu erklären vermag, ohne über den Faschismus mehr zu sagen als den einen einzigen halben Satz, wonach dieser – die Utopie für Anne Frank – die “Menschen in monströser Weise auf das Minimum des nackten Lebens reduziert” habe; und es ist bestimmt noch einiges mehr dumm gelaufen, wenn die Diskussion nicht nur nicht notiert, daß hier der Begriff der Epoche ganz ohne die Barbarei haushalten kann, sondern noch vielmehr, etwa wie Elfriede Müller (jungle World 19/2002), den linken Totalschaden als den besonderen Vorzug dieser “antinationalen Plattform” auslobt, die sich “gegen jede Form ideologischer Abkürzung” richte.

Dadurch zeichnet sich die Linke als das Extrem gesellschaftlich möglicher (und notwendiger) Dummheit aus, daß sie, postmodern getrimmt, die Aufklärung und den ihr impliziten materialistischen Begriff der Wahrheit verwirft, und zugleich, ganz unbedingt, die Dogmatik des Relativismus und der (De)Konstruktion zum totalen Kriterium erhebt. In letzter Konsequenz führt das natürlich auf den Satz, daß Antisemitismus Geschmacks- und Meinungssache sei. Der 11. September hat dann zum Vorschein gebracht, wie weit jetzt der Fortschritt der Gegenaufklärung gediehen ist.

Das provoziert das bestimmte Gefühl, als besäßen die Faschisten, im Gegensatz zu den Linken, eben das, was diese reklamiert: historisches Gedächtnis und ein Bewußtsein von der Statur des “Geschlagen ziehen wir nach Haus, unsre Enkel fechtens besser aus”, d.h. ein wahrlich epochales Programm, das die Niederlagen, insbesondere die des 8. Mai, nur als den Kreuzweg zum Endsieg betrachtet. Dies Programm der fundamentalen Gegenaufklärung, das das Kapital ohne Kapitalisten und den politischen Souverän ohne die Citoyens will, diese Politik der Zwangshomogenisierung der bürgerlichen Subjekte zu Volksgenossen und diese abgrundtief antisemitische Strategie, die, als deutsch-palästinensische, seit Hitler und dem Mufti von Jerusalem, darauf zielt, die Akkumulation des Kapitals ohne die Krise des Kapitals zu haben – es ist dies das Projekt der allerdings negativen Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft vermittels ihrer Zerstörung, das die Linke noch nie hat wahrhaben wollen, daß sie, um es sich verständlich zu machen, auf die Machenschaften der Kapitalisten herunterdekliniert. Daß, auf grauenhafte Weise, der Antisemitismus zum Invers der sozialen Revolution gemacht geworden ist, das hat die deutsche Linke verschlafen, ignoriert, rationalisiert, verdrängt. Erst fehlten ihr, im Zeichen der obskuren Dialektik von Reform und Revolution, die intellektuellen Mittel. (Die Geschichte des Kapitals ist nicht die Geschichte der Selbstentfremdung der gesellschaftlichen Arbeit.) Dann, als dies nach 1968 verstanden werden konnte,  vermochte sie es nicht, die Dialektik der Wertform als den Auftrag zur Kritik zu begreifen, statt als Einladung in eine neue, affirmative Ontologie, wovon u.a. die Schriften der “Krisis”-Gruppe zeugen. (Was Wert ist, versteht sich als die Anti-Vernunft, als die irrationale, “verrückte Form”, und nicht als Einladung in Theorie). Zwischen dem 11. September 1973, der den Sinn und die Stimmigkeit der Kritik am Reformismus bewies, und dem 11. 9. 2001, der drastisch das Ungenügen ihres Faschismusbegriffs demonstrierte, fand die Linke kein neues epochales Programm, keine “historische Mission”.

Dem militanten Projekt der Gegenaufklärung, das 1789 beginnt, in der Wannsee-Konferenz kulminiert und jetzt, nicht nur im Islamfaschismus, auf neue Konjunktur lauert, steht nur die gelangweilte Aufklärungsverachtung von links gegenüber. Adorno hat umsonst gelebt. Darin liegt die Dialektik dieser Gegenaufklärung, daß sie gleichsam, wie Wolfgang Pohrt vor zehn Jahren in seiner Studie über das Massenbewußtsein empirisch aufzeigte, nach links übergeschnappt ist. Denn “die Linke” ist, einmal strikt soziologisch betrachtet, eine Versammlung von Soziologen, Kathedersozialisten und Sozialpädagogen, deren intellektuelles Grundgesetz darin besteht, nicht das Resultat und seine objektive Geltung zu kritisieren, sondern dies aufzulösen in seine Bedingungen und in den Prozeß, der dazu führte, d.h. in nichts als subjektive Intention: man mag dies an Heidegger, Foucault, Derrida und tutti quanti einerseits, ihren allerdings deutschen Adepten andrerseits studieren.  Die Gegenaufklärung hat darin gesiegt, daß sie ihrer Opposition den Begriff wie die  Sache der Wahrheit austrieb – und wie das geht, das zeigt ihre ML-Fraktion nicht erst seit solchen Glanzleistungen der Rationalisierung wie den “Mudschaheddin des Werts” (jungle World 42/2001) ode r Ernst Lohoffs “Schwarzer September” (jungle World 33/2002). Plötzlich blättert man Adorno. Um Beute zu machen. Politiker, deren Interesse stets der Theorie, nie der Kritik galt, hasten durch die “Dialektik der Aufklärung” und suchen nach “Stellen” wie z.B. diesen: “Die Dialektik der Aufklärung schlägt objektiv in den Wahnsinn um”, oder: “Der Bürger … ist das logische Subjekt der Aufklärung”. Das sind die Fingerübungen einer quasi-stalinistischen Zitatenakrobatik, denn bewiesen werden soll, daß die antideutschen “Zombies” zur “Huntingon-Linken” (Lohoff) wurden. Das Beste wird dabei, wie Abfall, vom Tisch gewischt – die “anti-autoritäre Tendenz” der Aufklärung nämlich, “die, freilich bloß unterirdisch, mit der Utopie im Vernunftbegriff kommuniziert”, und die es macht, daß sich, in Marx, “die Aufklärung gegen das Bürgertum wandte, sobald es als System der Herrschaft zur Unterdrückung gezwungen war.” Es ist dies hier nicht auszuführen, aber es versteht sich, was von der Aufklärungsphobie der Linken zu halten ist, die, unwillig, die Begriffe mit den Begriffen zu kritisieren und sodann die deutsche Ideologie als Denkform, gerade das durchstreicht, was, als die Utopie in der Vernunft, den Materialismus von Marx zur “Aufhebung der Philosophie” in die Kritik des Kapitals motiviert. Die Aversion gegen die Aufklärung, gegen Wahrheit und deren notwendig insistierende Penetranz, die Rede z.B. vom Antisemitismus als einer “Diskursfigur”, wie Diedrich Diederichsen schreibt (jungle World 36/2002), ist in ihrer Spitze gegen Materialismus ein Etappensieg der Gegenaufklärung. Darin ist die Linke subaltern, Moment einer hegemonialen Strategie, deren Subjekt sie nicht ist: Wer die Aufklärung malträtiert, erntet Aufkläricht.

So konnte der 11. September nur den Abgrund an Aufklärungsverrat eröffnen, der sich bis heute auftut und in puncto Israel seine schwärzeste Tiefe erreicht. Zeigt schon das gefällige, notdürftig geduldete Subsistenz verheißende Versprechen vom “Existenzrecht”, dessen sich, allerdings zu kritisch-solidarischen Bedingungen, das israelische Staatsungetüm erfreuen dürfe, daß man es bei Links mit der juristischen Weltanschauung hat und damit, was der alte Engels den typisch deutschen “Juristensozialismus” nannte, so ist die Fixierung darauf, alles und jedes nach Kategorien des Rechts, des Willens und des Interesses zu beurteilen, nachgerade chronisch: bei Oliver Tolmein etwa, der der Ansicht ist, “noch immer (stünde) das Geschehen (des 11.9.) weitgehend frei im Raum” – als Signifikat ohne Signifikant gewissermaßen steht es da mutterseelenallein im Raum, als Tat ohne Zeichen, Täter ohne Programm –, der aber zugleich präzise weiß, was die amerikanische “Abkehr  von einem freiheitlichen Staatsrecht” (jungle World 35/2002) bedeutet, den Verrat nämlich an den Idealen, die der Staat der kritischen Justiz zu verkörpern hat. Irgendwie verhält es sich mit der Bedeutung des 11. September wie mit der des Nazifaschismus: erst da erschloß sich der Sinn der Veranstaltung, als Hitlers Tagebücher publik wurden, als der deutschen Untat zum Signifikanten verholfen wurde und dem kruden Faktum zu Sinn und Deutung. Es ist alles ganz einfach: Man muß nur Osama bin Laden nicht glauben, wenn er davon spricht, seit über achtzig Jahren seien die arabischen Massen versklavt worden, seit 1917, seit der Balfour-Deklaration.

Darin mündet die Dialektik der Gegenaufklärung, daß die Linke, deren “historische Mission” doch tatsächlich im Programm der Abschaffungen und im Materialismus der Kritik besteht, sich der Spökenkiekerei ergibt, und daß ihr dazu jeder Anlaß der rechte ist, gerade der 11. September. So bedarf es nur einer geringen Übertreibung, um auf den bestimmten Verdacht zu kommen, diese deutsche Linke sei die beste Linke, die Nazis sich wünschen können.

Joachim Bruhn ist Co-Autor des Buches “Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten. Über Israel und die linksdeutsche Ideologie” der Initiative Sozialistisches Forum, das am 8. Oktober in 2., erweiterter Auflage im ça ira-Verlag (Freiburg) erscheint (Informationen unter www.isf-freiburg.org).

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