Adorno: Die Konstellation des Materialismus

Adorno: Die Konstellation des Materialismus

Joachim Bruhn

Das Sein bestimmt das Bewußtsein – nicht, zumindest nicht materialistisch. Denn der Materialismus schreibt sich nicht von der Materie her als vom Ersten, dem das Bewußtsein den Spiegel vorhielte, sondern von der in die negative Totalität des Kapitalverhältnisses gebannten Gattung. Der Materialismus ist keine Milieutheorie, kein Determinismus; überhaupt leitet er nicht ab. Er stellt kritisch dar. Er treibt, sagt Marx, „Kritik durch Darstellung“, d.h. die objektivierte Selbstreflexion der in sich verkehrten Gesellschaft im Horizont ihrer ultimaten Krise als ihrer definitiven Wahrheit. Der Materialismus ist so keine Ursprungsphilosophie, sondern das Selbstbewußtsein negativer Dialektik, nicht die Große Methode von Intellektuellen, die sich aufs Objekt anwendet, sondern Kritik, die die verdinglichte Immanenz des Objekts aufsprengt. Der Materialismus ist nicht, schon gar nicht in seiner kategorischen Position als Kommunismus, Organ eines Interesses, Agent einer Klasse, Kommissar eines Programms: deshalb taugt er weder zur „Wissenschaft als Beruf“ noch zu deren Konsequenz: „Politik als Beruf“, weil er das Widervernünftige der kapitalisierten Gesellschaft nicht ins System schachteln und als Theorie vergolden mag. Materialismus ist der Antagonist von derlei Praktiken der Rationalisierung, dieses, wie Adorno sagt, „Defaitismus der Vernunft“. Schließlich ist der Materialismus keinesfalls Marxismus. Denn Marxismus ist vorkritisch, eine Option bürgerlicher Aufklärung. Marxismus ist zudem antikritisch, eine Strategie radikalbürgerlicher, jakobinischer Intellektualität. Wo der Materialismus der marxschen Kritik der politischen Ökonomie von Ideologie spricht, da hört der Intellektuelle penetrant Interpretation, Meinung, Manipulation: Dies, um sich zur professionellen Vermittlung von sog. „Tatsachenurteilen“ und sog. „Werturteilen“ zu ermächtigen.

Das ist wesentlich autoritär. Nicht nur, weil der Intellektuelle das gesellschaftliche Unwesen verdoppelt, indem er sich verhält wie das Geld zur Ware, d.h. als Philosoph, der den „gerechten Preis“ ausmittelt. Sondern auch, weil der philosophische Akt schon in der bloßen Form seines Urteils jenen Unterschied von Wesen und Schein setzt, wonach, ökonomisch betrachtet, der Gebrauchswert bloß Erscheinung des Werts und, politisch betrachtet, das empirische Individuum nur Ausdruck des juristischen Subjekts ist: „faule Existenz“. Schließlich ist Marxismus konterrevolutionär, denn das zu emanzipierende „Wesen“ der Menschen ist keinesfalls Arbeit; wäre es so, ginge es tatsächlich um die „Befreiung der Arbeit“, würde die Repression des Besonderen durchs Allgemeine, des Individuums durch die Arbeitskraft fortgeschrieben, während doch freie Assoziation und endlich, so, wie Adorno in den „Minima Moralia“ den Kommunismus glücklich definiert, die „Einheit des Vielen ohne Zwang“ herrschen soll. Der Materialismus ist kein Marxismus, weil jedweder Marxismus seit Karl Kautsky und W.I. Lenin auf den barbarischen Satz Stalins führt: „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen“. Summa summarum ist der Materialismus kein Marxismus, weil er die marxsche Kritik der politischen Ökonomie beim Wort nimmt und damit als die Einheit von Kapitalkritik, Staatskritik und Ideologiekritik, als die sie von Anfang an gedacht war: Das ist die Quintessenz.

Die Intellektuellen –und es versteht sich, daß es, wie vom „bürgerlichen Staat“, Tautologie wäre, von „bürgerlichen“ Intellektuellen zu sprechen – haben sich redlich Mühe gegeben, die Kritische Theorie erst zur Theorie zu depotenzieren und sie dann, ihrer mangelnden Vermittelbarkeit mit Praxis wegen, entweder zum „Luxus des Denkens“ hochzuloben oder als „utopisch“ und „abgehoben“ zu denunzieren; letzteres, wie im Jargon der deutschen Ideologie üblich, mit allerdings antisemitischem Tonfall. Adorno sollte Kumpan werden, zum Habermas unter anderen, dem die Spaltung von geistiger und körperlicher Arbeit, die im Fundament der Klassengesellschaft liegt und erst das trübe Schisma von Theorie und Praxis konstituiert, so wenig angeht, daß sie vielmehr ihr Lebensmittel ist. Doch „Kritische Theorie“ war nur ein Name, um den Marxismus der zwanziger Jahre, der die deutsche Novemberrevolution wie die russische des Oktober derart zuschanden geritten hatte, daß nur der Hitler-Stalin-Pakt, die strategische Ermächtigung zu Vernichtungskrieg und Massenvernichtung, die Konsequenz sein konnte, zu revolutionieren, um ihn, im Interesse von Kommunismus und Revolution, im Materialismus aufzuheben. Außerhalb dessen bleibt die Konstellation des Materialismus, die, kulminierend in der „Negativen Dialektik“ von 1966, in Adorno erreicht wird, unverständlich. Kritische Theorie konstituiert sich historisch wie logisch als Selbstreflexion und Selbstkritik des Kommunismus, daher als der Versuch, die Idee der freien Assoziation gegen den Verrat zu retten, den die Arbeiterklasse an ihrem vom Marx der „Frühschriften“ in sie hineingeheimnißten, objektiven Telos begang, das heißt in der Absicht, diesen Imperativ der Vernunft gegen Nazifaschismus wie Stalinismus zu behaupten. Daß die Kritische Theorie wesentlich nicht, wie Feuilletonisten belieben, dem Versuch geschuldet ist, den hochtrabend so genannten „Zivilisationsbruch“ zu denken, sondern daß vielmehr die Zusammenbruchskrise des Kapitals, die Nazibarbarei und die Shoah aus der historischen Pleite des Proletariats zwischen August 1914 und November 1918 resultieren, zeigt sich nicht allein aus Max Horkheimers 1934 unter dem Titel „Dämmerung“ in Zürich veröffentlichten Notizen. Es demonstriert sich vor allem im Vergleich mit den einzigen anderen Unternehmungen, den Ausfall revolutionärer Subjektivität zu reflektieren, denen Georg Lukács’ und Karl Korschs. Lukács wie Korsch erkannten, daß der Marxismus einer Generalrevision unterzogen werden mußte, allerdings keiner nach dem Vorbild Eduard Bernsteins, vielmehr einer kritischen Sichtung seiner Fundamente und einer bewußten Ent-Sozialdemokratisierung, d.h. Ent-Kautskyanisierung, als „Zurück zu Marx“.

Lukàcs „Studien über marxistische Dialektik“, 1923 in „Geschichte und Klassenbewußtsein“ dargelegt, hatten ein allerdings ambivalentes Resultat. Denn einerseits wurde gezeigt, daß die Frage: „Was ist orthodoxer Marxismus“, nicht im Jenseits von Hegel beantwortet werden konnte, aber andererseits führte die Rekapitulation der im sozialdemokratischen Marxismus stets überlesenen Analyse des Fetischcharakters der Ware im ersten Band des „Kapital“ auf einen Begriff der Verdinglichung, dem das bloße Arbeitsvermögen als Naturkraft ohne Chance zum Veto gegenüberstand. Einerseits bietet Lukács den allerersten tatsächlich philosophischen Marxismus, andererseits legitimiert seine „marxistische Dialektik“, weil immer noch aus der Lehre von der positiven Entfaltung der Arbeit destilliert, in Gestalt der leninistischen Partei die alte Parole vom „Hineintragen des Klassenbewußtseins in die Arbeiterklasse“ (Kautsky), und die in einer Rigidität, die dann Stalin, der proletarische Kaiser, ausbuchstabierte. Das kam so, weil „orthodoxer Marxismus“ verstanden wurde als die Methode, die auf den Gegenstand sich anwendet, als System, dem das Konkrete nichts bedeutet als zu rubrifizierendes Material. Einerseits also wurde erstmals demonstriert, daß Marx kein Sozialwissenschaftler oder Ökonom war, kein sozialistischer Max Weber, und daß die „Kritik der politischen Ökonomie“ mit voller hegelianischer Absicht als „Kritik“ benannt war, d.h. als die Darstellung der Krise, die die gesellschaftliche Totalität mit Notwendigkeit in sich erzeugt – andererseits wurde, gegen Hegel, verkannt, daß sich der Gegenstand in der Methode so ausdrückt wie das Wesen in der Erscheinung, und daß, weil Totalität als negative bestimmt ist, das Wesen nur als das Unwesen gefaßt werden kann. Dara us folgte, daß Lukács die Pleite der Novemberrevolution, wie seine wüste, die Stalinisierung der KPD begleitende Polemik gegen Rosa Luxemburgs Theorie der Spontaneität illustriert, dem Mangel einer wahrhaft bolschewistischen Partei zuschrieb. Daß die Methode das Objekt derart subsumiert wie die Partei das Proletariat, das ist die politische Konsequenz einer Philosophie, die Lukács in den sechziger Jahren zu einer explizit autoritären „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ führte, zu einer typischen Intellektuellenideologie, die Adorno als Machination der „erpreßten Versöhnung“ beurteilte.

Im gleichen Jahr 1923 war auch Karl Korschs „Marxismus und Philosophie“ erschienen, das für die Konstitution der Kritischen Theorie letztlich wichtigere Buch. Nicht nur, daß Korsch zeigt, wie sehr „Methode“ die philosophische Ermächtigung der Intellektuellen zur Politik ist, auch nicht, daß er darlegt, daß der Materialismus Lenins das Niveau frühbürgerlicher Aufklärung nicht übersteigt (er begründet damit die rätekommunistische Kritik an der sog. „Widerspiegelungstheorie“, die 1938 in Anton Pannekoeks Buch „Lenin als Philosoph“ mündet), erst recht nicht, daß Korsch die Betrachtung der Hegelschen Dialektik als einer positiven Explikation der Arbeit zurückweist – vielmehr setzt er der Lukácsschen „Logifizierung“ des Marxismus eine strikte Historisierung entgegen und erweist diesen, indem er den Marx auf den Marxismus anwendet, als eine vergängliche Form des Materialismus selbst, als verflossene Gestalt revolutionären Denkens, als die Darstellung des kategorischen Imperativs im Zeitalter der Kapitalisierung und als die Ideologie der Facharbeit. Es ist der Materialismus, der übergreift, der als das Selbstbewußtsein empirischer Subjekte bestimmt ist, der als das Denken aufgefaßt wird, in dem der Antagonismus gegen Kapital und Staat sich denkt. Materialismus ist Vorrang des Konkreten, des Objekts, der bedürftigen Natur im Subjekt. Die Novemberrevolution war nicht gescheitert, weil es „die Partei“ nicht gab, sondern weil die beiden Gestalten des in Transformation befindlichen Proletariats, die Facharbeit und, wie Operaisten sagen würden, die Massenarbeit, unmöglich zugleich in der Form der Räte sich ausdrücken konnten. Der Vorrang des Konkreten war es, der Korsch seit Mitte der Zwanziger gegen Stalin Stellung nehmen ließ, und dann, im Spanischen Bürgerkrieg, für die Anarchisten. Seine Rezeption und dann Verwerfung jedoch der Hegelschen Philosophie führte ihn auf das Paradox, die Marxsche Darstellung der Formen des Werts als himmelschreiende Metaphysik abzutun und sich dem Denken der Wiener Schule, dem „logischen Empirismus“, zuzuwenden, damit dem Nominalismus als der Ideologie von der Unmittelbarkeit des Konkreten.

So wurde die spezifische Form der Vermittlung, die das Kapital zwischen Gesellschaft und Individuum stiftet, von Lukács und Korsch gedacht und verfehlt. Indem sie erkannten, daß die Frage danach, was Materialismus sei, unmittelbar darauf geht, was die Philosophie des Idealismus ist, machten sie Marx erst begreifbar. Indem sie verkannten, daß die Große Methode, die die Bewegung des Weltgeistes in Façon bringt, nur den idealistischen Ausdruck der Bewegung des Unwesens, des Kapitals als des automatischen Subjekts, ausmacht, verkannten sie auch Marx, weil sie ihn als Intellektuelle begreifen wollten, das heißt ohne auf die gesellschaftliche Konstitution der Denkformen als der Weisen zu reflektieren, in denen sich die Vermittlung dem Denken nur darzustellen vermag.

Die Konstellation, die der Materialismus im Denken Adornos (unter tätiger Beihilfe Alfred Sohn-Rethels), in den „Drei Studien zu Hegel“ und in der „Negativen Dialektik“ etwa, erreicht, läßt den Widerspruch von Subjekt und Objekt, von Methode und Gegenstand, von Nominalismus und Ontologie durchsichtig werden als die nur logische Antinomie, die innerhalb ihrer selbst so wenig zu entscheiden ist wie der von Gebrauchswert und Tauschwert, von Ware und Geld, von Lohnarbeit und Kapital. Diese Antwort auf die Pleite der Novemberrevolution überschreitet Lukács „Geschichte und Klassenbewußtsein“ und Korschs „Marxismus und Philosophie“, indem der Widerspruch als die manifeste Darstellung eines die Antinomie im selben Akt setzenden wie in ihr verschwindenden Unwesens rekonstruiert wird, eines Unwesens, das in sich selbst die Logik aufhebt, weil es deren gesellschaftliche Geltung doch installiert. Marx, sagt Adorno, gibt im „Kapital“ nicht die Logik der entfremdeten Arbeit, sondern die „Phänomenologie des Widergeistes“, der Anti-Vernunft: „Gesellschaft ist so wesentlich Begriff wie der Geist. Als Einheit der durch ihre Arbeit das Leben der Gattung reproduzierenden Subjekte wird in ihr objektiv, unabhängig von aller Reflexion, abgesehen von den spezifischen Qualitäten der Arbeitsprodukte und der Arbeitenden. Das Prinzip der Äquivalenz gesellschaftlicher Arbeit macht Gesellschaft im neuzeitlichen bürgerlichen Sinn zum Abstrakten und zum Allerwirklichsten, ganz wie Hegel es vom emphatischen Begriff des Begriffs lehrt.“ Reale, konkrete, praktisch daseiende Abstraktion, eben das Allgemeine, das in der Flucht seiner eigenen Negativität zum unmittelbar Einzelnen kondensiert: darin besteht Adornos Antwort auf „Geschichte und Klassenbewußtsein“, die zugleich revolutionstheoretische Bedeutung hat. Denn die gesellschaftliche Synthesis durchs Kapital, die zwanghafte Einheit, die sie stiftet, ist der Widerpart zum Kommunismus als der „Einheit des Vielen ohne Zwang“. Dies, indem sie die arbeitenden Individuen als „Gallerte“ (Marx) der Arbeitskraft setzt, nicht als selbstbewußte Exemplare der Gattung, sondern als bloße Exemplare einer Naturkraft, die in den „Chemismus der Fabrik“ (Marx) eingebaut ist. Das Verhältnis von Arbeiter und Arbeiterklasse kann daher weder so dargestellt werden, wie Lukács es tut – d.h. im Sinne der Subsumtion des proletarischen Individuums unter die Allgemeinheit seines objektiv eigenen, ihm „zugerechneten“ Klassenbewußtseins in Form der Realabstraktion „Partei“, noch in der Manier Korschs – d.h. in der Perspektive einer Selbstverallgemeinerung der Individuen in der Form der Induktion von unten auf und in Gestalt der Nominalabstraktion „Räte“, in denen sie ihr Klassenbewußtsein als das Werk ihrer selbst objektivieren und darstellen. Wird das Verhältnis von Arbeiter und Klasse so statuiert, dann folgen, in weiterer Wendung, die Wüsten des „wissenschaftlichen Sozialismus“, sodann die hoffnungslosen Dilemmata von Theorie und Praxis.

Adorno, indem er die fundamentale Negativität der Kategorien der marxschen Kritik der politischen Ökonomie faßt und etwa die Arbeit nicht als an sich seiende Selbstverwirklichung, sondern als das Unglück, das sie für uns ist, transformiert die Antinomie von Theorie und Praxis in die Konstellation von Kritik und Krise, in die Konstellation der polemischen Explikation der Vernunft zur katastrophischen Selbstkritik des Kapitals im Zuge seiner Krise: Es gilt nicht, eine Utopie zu verwirklichen, sondern das „Programm der Abschaffungen“ (Korsch).

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