Vermenschlichung des Staats

Drei Bemerkungen zu Haider

Gerhard Scheit

I. Elegie und Posse

Der Beginn jener drei sozialdemokratischen Jahrzehnte in Österreich, die nun zu Ende sind, muß dem heutigen Anti-Haider-Patriotismus wie der Eintritt in ein glorreiches Zeitalter erscheinen: Von einer breiten Basis der Bevölkerung getragen und bei günstigen Kreditbedingungen auf den Märkten realisierte Kreisky ein spätes keynesianisches Reformprogramm, wollte in gewisser Weise nachholen, was er in Schweden im Exil als Alternative zur austrofaschistischen und nationalsozialistischen Art der Krisenbewältigung erlebt hatte. In bestimmter Hinsicht erreichte damit aber auch die Verdrängung gerade dieser heimischen, spezifisch deutschen oder deutsch-österreichischen Art der Krisenbewältigung ihren Höhepunkt - und davon will der linke Patriotismus lieber nichts hören. Denn Kreiskys spätes New Deal, das für einige Zeit ein fast völliges Verschwinden der Arbeitslosigkeit brachte, hat zugleich eine eigenartige Verschränkung von imaginärer “Wiedergutmachung” und raffinierter “Schuldabwehr” erlaubt: Der einstmals aus Österreich als Jude und Linker Vertriebene wurde gewählt, obwohl man seinen christlich-konservativen Gegenkandidaten als “echten Österreicher” angepriesen hatte. Und seine erste Minderheitsregierung wurde von der FPÖ gestützt, jener damals kleinen Partei, zu der die bekennenden Ewiggestrigen gegangen waren, als sie wieder wählen durften. Angeführt wurde diese Partei von Friedrich Peter, früher Unterscharführer der berüchtigten 1. SS-Infanteriebrigade, der sich nun zwar zum Liberalismus bekannte, seine Schar aber konnte sich unter diesem Mäntelchen treu bleiben. Die SPÖ förderte ihren Bündnispartner nach Kräften, Kreisky stellte sich schützend vor Peter, als Wiesenthal über dessen SS-Vergangenheit aufklärte.

Im selben Maß, in dem der keyensianische Sozialstaat von den Nachfolgern Kreiskys wieder Stück für Stück abgebaut wurde, brach sich auch das Verdrängte Bahn - und der Aufstieg von Haider und der FPÖ seit Mitte der achtziger Jahre ist davon die Resultante. Aus den Ewiggestrigen sind Ewigmorgige geworden. Ungeachtet des Designs seiner Medienauftritte, die auf das Image des Senkrechtsstarters hinauslaufen, handelt es sich im Grunde um einen eher langsamen, stockenden Vorgang, was die Sache allerdings nicht weniger gefährlich macht. Haider repräsentiert damit geradezu den Charakter einer Krise, die nie zum Ausbruch zu kommen scheint und auf permanentem Aufschub der zyklischen Entladung beruht. Im Vergleich zum rapiden Aufstieg der Nationalsozialisten nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 hat man es hier eher mit einem schleichenden, nicht kataklystischen Prozeß zu tun - und es sieht ganz so aus, als würde sich daran in nächster Zeit auch nichts ändern.

Was von Haider allerdings zu erwarten ist, darüber besteht kaum Zweifel: daß er in der Krise losschlägt. Solange aber die Erosion der alten fordistischen Verhältnisse langsam fortschreitet, den Sozialstaat sukzessive aushöhlt, die Arbeitslosigkeit sanft, aber stetig ansteigen läßt, ohne plötzliche Schübe des Zerfalls und schlagartige Einbrüche in den Beziehungen der kapitalisierten Gesellschaft, behält dieses Losschlagen notwendig etwas Possenhaftes - (man muß sich nur die Chargen der jetzigen Regierung ansehen - allen voran den Nebenrollen-Darsteller Schüssel, eine Nestroyfigur, aber eine postfaschistische). Für die von Ausländerpolitik und rassistischen und antisemitischen Projektionen Betroffenen handelt es sich allerdings bereits bei dieser Klagenfurter Republik, bei diesem Faschismus in Krähwinkel, um ein äußerst bedrohliches Spektakel. Die Frage ist, von welchem Standpunkt diese Bedrohung noch begriffen und angegriffen werden kann - gewiß nicht vom Standpunkt der siebziger Jahre.

II. Opfer und Täter

Günther Jacob hat in seiner Polemik gegen die Haider-Kritik der österreichischen Linken (Weg und Ziel 5/99; konkret 2/2000) davon gesprochen, daß sich diese Kritik nicht über “die Darstellung der Situation der wirklich Bedrohten” hinwegsetzen darf. “Wo es um Antisemitismus und Rassismus geht, also um Ausgrenzung, Degradierung und Mord, müssen wir der möglichst genauen Beschreibung der Ereignisse den Vorrang geben. Die Theorien, mit denen wir dabei arbeiten, müssen sich an dieser Aufgabe bewähren, und sie bewähren sich nicht, wenn wir uns mit ihnen von Ereignissen entfernen.” Die Polemik ist richtig, soweit sie sich gegen jene typisch linke Rationalisierung des Rassismus wendet, wonach die Rassisten selber Opfer seien, Opfer der Kapitalisten, die sie ausbeuten, oder einer miesen ökonomischen Lage, die sie zu Arbeitslosen und Modernisierungsverlierern macht: “Beruhigend zu wissen, sagen sich da alle, die in der Straßenbahn angespuckt werden, dann sind wir ja bloß in einen Widerspruch hineingeraten”. Auch darin hat Jacob recht, daß jenes Bedürfnis nach Rationalisierung etwas mit dem Kontinuum dieser Gesellschaft zu tun hat, die aus dem Nationalsozialismus hervorgegangen ist. (Dieses Kontinuum zu verdrängen, um etwa in der aktuellen Situation gegen die Reaktionen des “Auslands” Stellung zu nehmen, kann geradezu als Hauptgeschäft der staatstreuen Linken betrachtet werden.)

Fragwürdig aber ist, worin die Suggestivfragen Jacobs münden und wozu ihre moralische Intention verallgemeinert wird: “Haben Rassismus und Antisemitismus also einen ‘Grund’? Muß man sich vor allem um die ‘sozialen Mindeststandards’ der ‘kleinen Leute’ kümmern, um sie vorm Pogrom abzuhalten? Die rassistisch Ausgegrenzten stehen in diesen Texten deutlich nicht im Mittelpunkt des Interesses. (...) Unter der Hand ist der Gegenstand der Betrachtung ausgetauscht worden. Haiders Rassismus und Antisemitismus ist plötzlich nur noch ein Thema unter ferner liefen. Bevor wir es bemerken, diskutieren wir wieder ganz allgemein über Staat & Kapital. Das kann ja interessant sein. Es fällt nur auf, daß solche Diskussionen die Darstellung der Situation der wirklich Bedrohten einfach ersetzen.”

Sollte es die Strategie von Jacobs Text sein, die Situation der wirklich Bedrohten so darzustellen, daß von Staat & Kapital geschwiegen werden könne, weil deren Betrachtung im besten Fall interessant, aber für die Darstellung der Situation der Bedrohten ephemer wäre? Unter der Hand ist die Frage, wie Rassismus & Antisemitismus mit Staat & Kapital zusammenhängen, nur noch ein Thema unter ferner liefen geworden. Bevor wir es merken, diskutieren wir nur mehr über unsere eigene Moral und political correctness. Was nützt es den rassistisch Ausgegrenzten, wenn sie in den Mittelpunkt der Texte gerückt werden, damit deren Autorinnen und Autoren stolz ihre Moral vorzeigen können; solche Moral ist eben in der Straßenbahn gefordert oder wo immer der rassistische Mob gerade aktiv wird. Wo sie sich aber selbstbespiegelt, statt über ihre Bedingungen zu reflektieren, wird sie zur Ideologie. Was nützt es den rassistisch und antisemitisch Ausgegrenzten, wenn ihre Lage beschrieben wird, ohne über die Voraussetzungen dieser Ausgrenzung Klarheit zu schaffen: und damit sind nicht das Kapital als “ökonomische Basis” und der Staat als “ideeller Gesamtkapitalist” oder ähnliches gemeint, sondern die Individuen, die sich als Subjekt der kapitalisierten Gesellschaft mit dem Staat identifizieren, indem sie Rassisten & Antisemiten sind; bis zu welchem Grad sie es sind, ist darum nicht unabhängig von jener Identifikation zu betrachten. Eine möglichst genaue Beschreibung der Ereignisse wäre also eine, die sich nicht von der Kritik dieser Identifikation entfernt.

III. “Vermenschlichung des Staats”

Ilse Bindseil etwa rückt dem Subjekt reflexiv zu Leibe, wenn sie deutlich macht, wie der Staat aus ihm sprich t, sobald es sich von “Wirtschaftsflüchtlingen” ‘heimgesucht’ glaubt: Diese Flüchtlinge kommen, “obwohl sie doch genau wissen, daß sie hier nur geächtet, gejagt und aufgemischt werden: Ist es nicht unerträglich, mitansehen zu müssen, wie Menschen sich an den Kapitalzweck klammern? Ist es nicht ein Schlag ins Gesicht unserer Zivilisation? Unser sämtliches Bemühen, der kapitalistischen Reproduktion ein menschliches Antlitz zu geben, stellen sie rüde in Frage.” (Streitschriften, Freiburg 1993) Die Haider-Partei wirbt ständig mit diesem menschlichen Antlitz - “einfach menschlich” stand auf den meisten ihrer Plakate wie mit einem Stempel gedruckt; und die Lage ist eben bereits so zugespitzt, daß schon ein Kopftuch genügt, dieses imaginäre Antlitz in Frage zu stellen. Darum läuft die ganze Argumentation mit “SOS-Mitmensch” und “Demokratischer Offensive” leer, soweit sie sich nicht mit der “Vermenschlichung des Staats” und “direkten Demokratie”, wie Haider sie fordert, auseinandersetzt.

Während aber einerseits die “Ausländer” den Staatsbürgern die massenhafte ‘Entwurzelung’, Enteignung und Defunktionalisierung durch kapitalistische Verhältnisse vor Augen führen und das menschliche Antlitz des Staates gefährden, verkörpern andererseits “die Juden” demselben nationalen Bewußtsein - sei’s nun ein deutsch-nationales oder ein österreich-nationales - eben genau jene Macht, die ‘entwurzelt’, enteignet und defunktionalisiert. So ist der Ausländerhaß im Innersten notwendig mit Antisemitismus verbunden, wie eben auch das Lob der NS-Beschäftigungspolitik die Zustimmung zur Judenvernichtung stillschweigend voraussetzt.

Die permanenten Attacken auf “die Politiker” und die EU-Bürokratie, die Reduktion aller ökonomischen Probleme einschließlich Arbeitslosigkeit auf die Steuerlast oder die Kosten des EU-Beitritts, die von der “arbeitenden Bevölkerung” getragen werden, entspricht präzise einer antisemitischen Projektion, die im Inneren der FPÖ und im Bewußtsein ihrer Anhänger lauert: die Kosten sind nur der Ausdruck der hohen Zinsen, und die EU-Politiker nur die Handlanger der Spekulanten auf den Finanzmärkten. Anders als im Falle des ‘gewöhnlichen’ Rassismus gegen “Ausländer” wird hier allerdings kaum ausgesprochen, wer konkret gemeint ist. Manchmal wird von “Freimaurern” geraunt. So beschuldigte Haider mehrfach Vranitzky, “außerösterreichische Aufträge” zu erfüllen: “Vranitzky ist ein Bilderberger - ich weiß, daß die Freimaurer da vieles anschaffen.” (Kurier, 21.6.1995) Im Gegensatz zu den “Wirtschaftsflüchtlingen”, die man offen attackieren darf, bleibt dort, wo es um die ‘internationalen Drahtzieher’ geht, um “gewisse Kräfte im Ausland”, vieles im Dunkeln und Zweideutigen. Ohne ein antisemitisches Wort zu sagen, fördert Haider überall den Antisemitismus - das ist seine gespenstische Kunst. Sie funktioniert nur, weil er seinen Anhängern so unglaublich nahe ist. Wie mit einem Augenzwinkern verständigt man sich über das Unsagbare, die Intimität aber ist selbst ein Effekt der gemeinsam gehüteten Vergangenheit: Vernichtungskrieg und Massenmord an den Juden.

Da Haider bisher nur auf regionaler, nicht aber auf nationaler Ebene die ‘Macht ergriffen’ hat, konnte er dabei selbst die ‘reine Unschuld’ des besseren, des ‘menschlicheren’ Staats (menschlicher im obengenannten rassistischen Sinn) spielen und als solche die ‘Schuldigen’ verfolgen, jene also, die sich auf Regierungsebene immer wieder als ‘fremdbestimmt’ und ‘unmenschlich’ erweisen, weil sie nicht-nationalen Imperativen Rechnung tragen müssen. Gerade diese ‘jungfräuliche’ nationale Attitüde ließ ihn bisher als Prototyp eines neuen Nationalismus im zukünftigen geeinten Europa erscheinen - eines Nationalismus ohne Nation. Und der Rückzug nach Kärnten, den er eben angetreten hat, indem er den Posten des Parteiobmanns aufgab, liegt ganz auf dieser Linie.

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