Thomas Jurczyk
(CERES, Ruhr-Universität Bochum)

Besprechung von Klaus Heinrichs wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt

 

Klaus Heinrich gehört sicherlich zu den bekanntesten, aber im universitären religionswissenschaftlichen Alltag trotzdem, wenn auch respektvoll, übergangenen Persönlichkeiten der deutschsprachigen Religionswissenschaft. Die Gründe hierfür liegen neben der schweren Zugänglichkeit (sowie fragmentarischen Verfügbarkeit) seines Werkes vor allem in dem aktuell vorherrschenden Trend einer zunehmenden Versozialwissenschaftlichung der (deutschsprachigen) Religionswissenschaft, der mit einer Fokussierung auf quantitativ-statistische sowie auf minutiöse Nachvollziehbarkeit ausgelegte qualitative Methoden einhergeht. Mit dieser Orientierung, die einen vermeintlich objektiveren, unpolitischeren Zugang bietet und auf die Vermeidung von wissenschaftlich nur schwer beantwortbaren religionsphilosophischen Fragen bedacht ist, geht eine wachsende Ignoranz sowie partiell offensive Ablehnung gegenüber Ansätzen einher, die diesen Prinzipien vermeintlich zuwiderlaufen. Um Kritik aus den eigenen Reihen vorzubeugen, sei mir ein kurzer Einwurf erlaubt: Ich sehe mich und meine Arbeit ebenfalls als Teil dieser sozialwissenschaftlich-empirischen Bewegung, an der ich sicherlich nicht nur Negatives festzustellen vermag.

Gleichzeitig oder vielleicht besser: gerade deswegen ist es aber umso wichtiger, die eigenen akademischen Positionen mit relational zur aktuellen Fachausrichtung gesehen eher unkonventionellen Ansätzen in eine Diskussion zu bringen. Ansonsten besteht die Gefahr, allmählich in einen von Klaus Heinrich im dritten Beitrag des vorzustellenden Bandes so treffend beschriebenen (gedanklichen) Zustand der Gemütlichkeit zu verfallen, der im Angesicht auftauchenden Widerspruchs zu universitärer Bandenbildung führen und damit »Un-Gemütlichkeiten« in Form von sowohl professionellen als auch persönlichen Verwerfungen hervorrufen kann.

Um solchen Entwicklungen vorzubeugen, ist es umso erfreulicher, dass der ça ira-Verlag aus Freiburg und Wien sich dazu entschieden hat, die Reihe »Klaus Heinrich – Reden und kleine Schriften« fortzuführen. Als erster Band in dieser in Anbetracht der bereits existierenden Veröffentlichungen aus dem Hause ça ira nicht-ganz-so-neuen Reihe ist nun das Sammelbändchen mit dem Titel »wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt« erschienen, das die drei bereits in anderen Kontexten publizierten Studien »Wie eine Religion der anderen die Wahrheit wegnimmt«, »Sprung ins Zentrum/Hausverlassen/Revolutionärer Quietismus. Zu aktuellen Formen der Faszination fernöstlicher Meditation und Askese« sowie »Ein deutsches Stichwort: Gemütlichkeit« enthält.

Aus religionswissenschaftlicher Perspektive sind insbesondere die ersten beiden Beiträge hervorzuheben, auf die ich mich entsprechend konzentrieren werde. Dabei liegt der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen darauf, die Studien in ihrer Eigenart und Bedeutung für die Religionswissenschaft insgesamt hervorzuheben, und weniger auf ihrer Ergänzung durch Beiträge aus der nur schwer überblickbaren Massen an Fachliteratur zu den Evangelien, auf die Heinrich ebenfalls hinweist, oder zu Einflüssen fernöstlicher Meditation und Askese auf zeitgenössische religiöse Entwicklungen in westlichen Ländern.

»wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt«

Die erste Studie »Wie ein Religion der anderen wie Wahrheit wegnimmt. Notizen über das Unbehagen bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums« befasst sich mit den zwei zentralen Themen der Wahrheit sowie des Unbehagens, wobei letzteres aus dem vielfach diskutierten Anti-Judaismus des Johannes Evangeliums herrührt. Klaus Heinrich diskutiert diese beiden Themen, die durchaus in einer engen Verbindung zueinander stehen, indem er das Johannes Evangelium im Kontext der Lutherkommentare sowie ausgewählter Schriften aus dem Alten Testament (Jona) bespricht. Den ersten Schwerpunkt bildet die Problematik des Wahrheitsbegriffes (griech. aletheia), über den Luther so treffend gesagt hat »Wiltu von warheit reden/ so bistu verloren.«[1]

Klaus Heinrich bringt in diesem Kontext zwei zentrale griechische Begriffe im Neuen Testament, nämlich aletheia (Wahrheit) sowie charis (Gnade), mit den alttestamentarischen hebräischen Begriffen emeth (Wahrheit, Treue) sowie hesed (Huld) in ein Gespräch und kommt dabei zu dem überzeugenden Schluss, dass die Frage nach dem, was Wahrheit ist, im Kontext des Johannes Evangeliums weder für Exegeten wie Luther noch für beteiligte Charaktere wie Pilatus zu beantworten sei, aber in dieser ontologischen Form auch nicht gestellt werde. Das Ausgreifen des Johannes Evangeliums auf Geschehnisse, die im Alten Testaments überliefert werden, deute vielmehr darauf hin, dass die dort bedeutenden Begriffe von Treue, Bündnis und Verrat, wie sie im Hebräischen emeth Begriff mitschwingen, auch in die Diskussion des griechischen Wahrheitsbegriffes im Johannes Evangelium einbezogen werden müssen. Diese von Klaus Heinrich hervorgehobene Korrespondenzen zwischen hebräischer und griechischer Terminologie beziehungsweise alt- und neutestamentarischer Heilsgeschichte führen letztlich dazu, die Frage nach dem, was Wahrheit sei, durch die Frage, wer in der Wahrheit stehe[2], zu ersetzen. Die Antwort auf letztere Frage findet sich im Johannes Evangelium in der personalisierten Reduktion der Wahrheitsfragen auf Jesus Christus, da die Treue zur Wahrheit und damit das »In-der-Wahrheit-Stehen« gerade im Glauben an Jesus Christus als den Sohn Gottes, durch den der Vater zugänglich ist[3], erkenntlich wird.

Diese Personalisierung der Wahrheitstreue steht nun laut Klaus Heinrich in einem engen Zusammenhang mit dem im Untertitel des Beitrags genannten »Unbehagen« während der Lektüre des Johannes Evangeliums, da dieses nicht etwa versucht, das Alte Testament und damit den alttestamentarischen Gott durch Jesus Christus zu ersetzen, sondern den christlichen Wahrheitsbund auch in vorchristliche Zeit ausdehnt. Damit wird der Keil zwischen Christusgläubigen und -leugnern und somit Wahrheit und Verrat bereits in der Person des Moses zu verankern versucht, dem laut Interpretation Luthers am Berg Sinai (Ex 33,22ff.) eben nicht der jüdische Gott JHWH, sondern Gott als Christus begegnet sei. Diesen Versuch, der jüdischen Religion durch Okkupation ihrer eigenen Vergangenheit die christlichen Wahrheitsvorstellungen aufzuzwingen und ihre Anhänger damit rechtmäßig nach eigenen Kriterien von Wahrheit und Lüge einordnen und richten zu dürfen, erachtet Heinrich aus der Rückschau anhaltender Judenverfolgungen unter anderem durch Christen heraus als fataler als das Anliegen eines Markion, der sich dieser aus christlicher Perspektive vermeintlich »alten« Schriften und Vorstellungen einfach entledigen wollte.

Dieses Argument scheint mir insbesondere aus der Sicht und Interpretation späterer Christen wie Luther überzeugend, übergeht aber die Frage, inwieweit gerade die frühen Christen nicht zumindest in Teilen selbst aus einer jüdischen Tradition stammten, was die von Heinrich aufgeworfenen Fragen in diesem Falle nicht mehr ausschließlich im Kontext eines inter-religiösen (»Wie eine religion der anderen…«), sondern zumindest in Teilen auch intra-religiösen Konflikts erscheinen ließe. In diesem Zusammenhang wären dann auch Aushandlungsprozesse über die Bedeutung sowie Auslegung des Alten Testaments bzw. der Hebräischen Bibel noch einmal anders zu bewerten, da es sich hierbei eben nicht um die Okkupation einer fremden, sondern die Umdeutung der eigenen Tradition handeln würde.

Insgesamt besticht der Beitrag über »das Unbehagen bei der Lektüre des Johannes-Evangeliums« durch die hervorragend gelungene Zusammenführung und religionsphilosophische Besprechung äußerst komplexer und teils jahrhundertealter Diskussionskontexte, die durch kritische Betrachtungen, die Einbindung in das Gesamtwerk Klaus Heinrichs und insbesondere die Hervorhebung persönlicher »Verwicklungen« bereichernd ergänzt werden.

»Sprung ins Zentrum/Hausverlassen/Revolutionärer Quietismus«

Der im Jahr 1979 erstmalig erschienene Beitrag »Sprung ins Zentrum/Hausverlassen/Revolutionärer Quietismus. Zu aktuellen Formen der Faszination fernöstlicher Meditation und Askese« bildet den zweiten Beitrag des Sammelbandes und setzt sich mit der Adaption östlicher Meditations- und Askesepraktiken in westlichen Gesellschaften auseinander, wobei insbesondere die Frage nach deren Heilsversprechen im Zentrum steht. Trotz der zeitgeschichtlich orientierten Auseinandersetzung mit östlicher Meditation und Askese im Zusammenhang mit der Nachkriegsgeneration können die von Klaus Heinrich in dieser Studie vorgenommenen Erklärungsversuch dank der anhaltenden Popularität zumeist buddhistischer Meditationsangebote und Yoga-Kurse auch für ein besseres Verständnis aktueller Phänomene herangezogen werden.

Klaus Heinrich unterscheidet zwischen verschiedenen westlichen Zugängen zur Meditation: So existieren neben dem metaphysischen, sprachlosen Zugang ebenfalls dekorativ-lebensreformerische sowie beredte, die Realität verändern wollende Ansätze, die wiederum ihren anfangs revolutionären Zustand gegen den Status etablierter Organisationen eintauschen können.[4] Der Autor bestimmt dabei den westlichen Zugang zu Meditation und Askese als »rauschhafte Vereinigung«[5] des Subjekts mit dem Triebgrund der Wirklichkeit und damit als quasi mystische Suche nach »Identität (…) ohne Subjekt-Objekt-Struktur.«[6] Diese freilich für die historischen buddhistisch-hinduistischen Praktiken nicht zwingend zutreffende Motivation führt dann richtigerweise zu dem Paradoxon des bewusst aus der Versenkung wieder auftauchenden Subjekts, das den Weg der Versenkung beziehungsweise der Einswerdung mit dem Urgrund eben nicht konsequent bis zum Ende gegangen ist, um in der Sphäre des Nicht-Sagbaren aufzugehen (oder wie der Brahman in der von Heinrich zitierten Erzählung auf dem Scheiterhaufen zu verbrennen), sondern den Prozess anscheinend aufgrund der »heilsamen« Wirkungen für die eigene Existenz in der Wirklichkeit durchführt. Laut Klaus Heinrich kann dieses Auf und Ab des »Sichversenkens und Sicherhebens«[7] im Idealfall zu einer neuen Erkenntnis der Konsistenz der Wirklichkeit führen, deren Vermittlung der Autor als »große Kulturleistungen östlicher Zivilisationen« hervorzuheben versteht.[8] Trotz aller berechtigter Polemik verfällt Klaus Heinrich an dieser Stelle leider einer Stereotypenbildung, indem er gerade diesen Erkenntnisanspruch »unseren Adepten«[9] abspricht, deren eigentliche Motivation seiner Meinung nach vielmehr in der »lustvoll-süchtigen[n] Verflüchtigung« und dem anschließenden Verfall in einen »Katzenjammer« in Anbetracht der Wirklichkeit läge.[10]

Trotzdem diese Polemik sicherlich auf zutreffenden Beobachtungen und Bewertungen basiert, erachte ich die bereits angesprochene Stereotypisierung in Form von Klischeebildern einer »ernsthaften östlichen Meditation/Askese mit Erkenntnisanspruch« und ihrer (misslungenen) Rezeption durch jammernde »Westler«, die den eigentlichen Kern dieser Praktiken nicht zu verstehen bereit oder schlicht nicht fähig sind, als problematisch. Sie erinnert entfernt an Max Webers Klassifikation der Askese zwischen »West und Ost«, die zwar heuristisch nützlich und zur Zeichnung grober Linien geeignet sein mag, aber der Komplexität der Phänomene und vor allem der an ihnen beteiligten Personen so nicht gerecht wird. Vielleicht könnte an dieser Stelle der ebenfalls von Weber stammende »Idealtyp« dabei helfen, die von Klaus Heinrich vorgeschlagenen Charakterisierungen großer und auch intern äußerst diverser Kulturräume in ihrer Durchschlagskraft auf die Wirklichkeit hin abzuschwächen, indem deutlich gemacht würde, dass es eben nicht um »jeden (westlichen) Adepten«, sondern um eine überzeichnete Figur eines eben solchen geht.

Klaus Heinrich beschließt seinen Beitrag über die Faszination der östlichen Askese und Meditation mit einer Warnung vor der Gefahr, die ein konsequente Verfolgung der hier als Hauptmotivation hervorgehobenen Vereinigung mit dem Triebgrund insbesondere für »okzidentale« Gesellschaften mit sich bringe, indem sie an die Stelle des etablierten Bündnisses zwischen Triebsubjekten und dem Triebgrund eine Identität setzen würde, die selbstzerstörerische Auswirkungen hätte. Um diesem »Heilsversprechen als eins der Selbstzerstörung«[11] zu widerstehen und es vielmehr in eine stetige Auseinandersetzung mit dem Verdrängten zu übersetzen, schlägt Klaus Heinrich abschließend überzeugend vor, diese Konflikte in aufklärerischer Tradition »durchzuarbeiten, nicht auszuagieren.«[12]

Conclusio

Den beiden hier vorgestellten und diskutierten Beiträgen ist neben ihrer stilistischen Brillanz und Freiheit vor allem gemeinsam, dass sie es überzeugend schaffen, die historische sowie zeitgenössische Bedeutung religiöser Phänomene wie Adaption, Polemik, Gewalt, Askese, Meditation und Mystik für die Auseinandersetzung des Menschen mit sich selbst und der Gesellschaft, in der er lebt, zu betonen. Dabei wird stets deutlich, dass es sich nicht um Prozesse handelt, die auf ein Ende im Sinne einer Auflösung der ihnen jeweils eigenen Spannungen zulaufen, sondern die vielmehr kontinuierliche Verarbeitung und Auseinandersetzung erfordern. Diese auf Überzeitlichkeit ausgerichteten Appelle, die sich an die Gattung Mensch als Ganzes wenden, zeichnen das Werk von Klaus Heinrich neben aller offensichtlichen Gelehrtheit und akademischen Relevanz für die Religionswissenschaft und Religionsphilosophie im Besonderen aus, weshalb es umso wichtiger und anerkennenswerter ist, dass sich der ça ira-Verlag dazu entschieden hat, die Reihe »Klaus Heinrich – Reden und kleine Schriften« fortzuführen, in der der hier besprochene Band hoffentlich nur den Anfang bildet.

 

[1] Zitiert nach Heinrich 2020 S.21.

[2] Joh 8,44 und Heinrich 2020 S.18.

[3] Siehe auch Joh 14,6.

[4] Heinrich 2020 S.51f.

[5] Heinrich 2020 S.54.

[6] Ebd.

[7] Heinrich 2020 S.55.

[8] Heinrich 2020 S.55f.

[9] Heinrich 2020 S.56.

[10] Heinrich 2020 S.56.

[11] Heinrich 2020 S.59.

[12] Ebd.