Stefan Dornuf – Kritische Theorie und blinder Fleck * Rezension zu: Alfred Sohn-Rethel, Von der Analytik des Wirtschaftens zur Theorie der Volkswirtschaft. Frühe Schriften

Stefan Dornuf

Kritische Theorie und blinder Fleck

Der Nationalökonom Alfred Sohn-Rethel ist neu zu entdecken

Auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, diesmal der von 1929/30, und vor dem Hintergrund der Davoser Hochschulwochen, wo eben erst der legendäre Zusammenstoß zwischen den Philosophen Martin Heidegger und Ernst Cassirer stattgefunden hatte, zeichnete der frisch gebackene Doktor der Philosophie Alfred Sohn-Rethel ein düsteres Stimmungsbild: ’Die Stütze der bürgerlichen Kultur überhaupt, die Autonomie des Geistes, ist gebrochen.’ Das Schicksal der solcherart Betroffenen sei der Individualismus, so Alfred Sohn-Rethel, jedoch ’das Schicksal des Individualismus der Zerfall der Persönlichkeit’. Für den Einzelnen erscheine die gesellschaftliche ’Genesis als das blinde Fatum’, man stehe am ’Abgrund des Entsetzens’, an der ’Schwelle der Ratlosigkeit’.

Martin Heideggers ’Lösung’ des Problems indes, sein Anschluß an die neue Gebundenheit der ’Volksgemeinschaft’ im Jahr 1933, konnte für den halbjüdischen Pflegesohn eines der führenden Stahlindustriellen der Weimarer Republik, der noch dazu von dem Austromarxisten Emil Lederer promoviert worden war, keinerlei Verbindlichkeit besitzen. Schon die Dissertation des bedeutenden Nationalökonomen und Soziologen Sohn-Rethel, die jetzt in einer neuen Ausgabe seiner frühen Schriften abgedruckt ist, hatte die subjektive Wertlehre der Grenznutzenschule – Menger, Jevons, Walras, Pareto – attackiert, also jene ’unpolitische Ökonomie’ (Richard Löwenthal), deren ideologische Funktion für den Verfasser darin bestand, zwar den Übergang von der freien Marktwirtschaft zur Monopolisierung in Rechnung zu stellen, ohne dabei aber den Kapitalismus an sich zu kompromittieren.

Die neue Sammlung von Schriften des großen Außenseiters der ’Kritischen Theorie’, die erste seit zwei Dekaden, darf als höchst verdienstvoll gelten. Hilft sie doch mit, die immer noch vorhandenen blinden Flecken in der Chronik des Frankfurter ’Instituts für Sozialforschung’ zu tilgen. Daß Alfred Sohn-Rethel (1899-1990), dessen Hauptwerk ’Geistige und körperliche Arbeit’ 1970 eine Sensation im Wissenschaftsbetrieb bedeutete, heute erneut einer halben Vergessenheit anheimgefallen ist, liegt nicht zuletzt daran, daß er die Zentralproblematik von Horkheimer, Adorno und Marcuse, nämlich die Entstehung einer rein instrumentellen Vernunft im Rahmen einer Dialektik der Aufklärung, unüberbietbar radikalisierte.

Denn letztlich beantwortete Sohn-Rethels äußerlich schmales, aber ungemein dichtes Œuvre die berühmte Scherzfrage von Nestroy: ’Die Phönizier haben das Geld erfunden – aber warum so wenig?’, indem es eine strenge Entsprechung von Basis und Überbau, Warenform und Denkform postulierte, bei der sowohl Kants Transzendentalsubjekt als auch die exakten Naturwissenschaften, allen voran die Physik, ihre historische Unschuld einbüßten: Die allererste Münzprägung in Ionien, im 7. vorchristlichen Jahrhundert, wurde als Geburtsstunde des ’punktuellen Individualbewußtseins des ego cogito’ diagnostiziert – mit Wertediskussionen, Ethikkommissionen und dergleichen als bloßen Wurmfortsätzen eines ansonsten unbegriffen bleibenden ’okzidentalen Rationalismus’ (Max Weber).

Die enormen Verständnisschwierigkeiten, auf die Sohn-Rethel mit seiner kühnen und damals, in den zwanziger Jahren, noch keineswegs ausgereiften These stieß, werden jetzt, in diesem vorzüglich edierten Buch, erstmals dokumentiert: in Gestalt der Protokolle der Heidelberger soziologischen Seminarsitzungen von Alfred Weber und Karl Mannheim vom Februar 1929, die von Georg Lukács’ ’Geschichte und Klassenbewußtsein’ (1923) ihren Ausgang nahmen. Ob etwa Weber die wichtige Frage aufwirft, ob das (hegelianische bzw. marxistische) Totalitätsdenken lediglich auf den Kapitalismus geeicht sei oder aber für alle Geschichtsbetrachtung gelte, oder ob Mannheim den Widerspruch zwischen Freiheit und Determinismus klassenspezifisch aufzulösen sucht – das hohe Niveau der theoretischen Auseinandersetzungen imponiert noch heute, und Alfred Sohn-Rethel schlägt sich wacker. Man darf daher auf den zweiten Band der willkommenen Werkausgabe, der seine Faschismus-Analysen nebst Unveröffentlichtem präsentieren wird, gespannt sein.

Aus: Süddeutsche Zeitung vom 14.12.2012

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