Martin Gehlen

Jüdisches Leben: Geschichte der Entrechtung

 

Zu den Gewissheiten im kollektiven Gedächtnis des Nahen Ostens gehört, dass in diesem Teil der Welt Juden, Christen und Muslime über Jahrhunderte in der Regel friedlich und tolerant zusammenlebten. Erst mit der Gründung des Staates Israel 1948 und dem Sechstagekrieg 1967 – so das gängige Narrativ – zerbrach dieses Einvernehmen, als die arabischen Herrscher gegen den neuen jüdischen Staat in den Krieg zogen und die muslimischen Nationen ihre jüdischen Mitbürger systematisch zu vertreiben begannen.

Diesem Bild eines harmonischen, durch den Nahost-Konflikt schlagartig zerstörten multikulturellen Kosmos des Orients widersprechen zwei neu in Deutschland erschienene Bücher, die sich mit dem Schicksal der Juden in der arabischen Welt beschäftigen. Beide Autoren, der französisch-marokkanische Historiker Georges Bensoussan und der belgische Historiker Nathan Weinstein, arbeiten anhand von zahlreichen Quellen heraus, dass die Entrechtung von Juden und ihre Gewalterfahrungen unter muslimischer Herrschaft bereits weit vor 1948 existierten und teilweise eine jahrhundertelange Vorgeschichte haben. Repressionen gehörten immer schon zum Alltag, auch wenn die in der »arabisch-islamischen Welt aufgetretenen Episoden volkstümlichen Hasses weit entfernt sind von dem Ausmaß der in den christlichen Ländern begangenen Massaker«, wie Weinstein in »Der zerrissene Faden. Wie die arabische Welt ihre Juden verlor. 1947-1967« schreibt.

Nach der Gründung Israels dann explodierten diese seit langem virulenten Aversionen und endeten in dem Massenexodus fast aller 900 000 Juden – ein bis heute weitgehend ignoriertes und verdrängtes Kapitel in der nahöstlichen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Im Irak und in Ägypten lebten Juden seit mehr als zweieinhalbtausend Jahren. Noch Ende der 1930er Jahre war ein Drittel der Bewohner Bagdads jüdisch, ein höherer Anteil als zur gleichen Zeit in Städten wie New York oder Warschau. Auch waren die meisten Vertriebenen keine Anhänger der zionistischen Idee. 600.000 arabische Juden, die fast alle ihren Besitz verloren, fanden Aufnahme in Israel. Die übrigen 300 000 gingen nach Europa oder Amerika.

Heute leben noch etwa 4500 Juden in der arabischen Welt, die meisten in Tunesien und Marokko. Aus Ägypten, Syrien, Irak, Libyen und Algerien wurden sie mit massiver Staatsgewalt davongejagt. Andere, wie ihre Schicksalsgenossen in Tunesien und Marokko, wurden systematisch schikaniert, bis sie ihre Heimat aufgaben.

Beide Historiker zeichnen von der Geschichte und Situation der einzelnen jüdischen Minderheiten ein detailliertes Bild – angefangen bei den nordafrikanischen Staaten des Maghreb, über Syrien, Libanon, Ägypten, Irak und Jemen bis hin zum Iran, der Türkei und Afghanistan. Mit einer Fülle von Texten aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert belegt Bensoussan, in welchem Elend viele Juden in den übervölkerten und von Epidemien heimgesuchten Ghettos, den so genannten Mellahs, leben mussten. Andere Berichte über »die Heftigkeit der antijüdischen Stimmung« unter den Muslimen stammen von westlichen Zeitzeugen wie Militärangehörige und Kolonialverwalter, Polizisten und Ärzte sowie Lehrer, Pfarrer, Journalisten und Reisende. »Die Allgegenwart der Furcht beherrscht die Geschichte aller jüdischen Gemeinden auf arabischem Boden«, resümiert Bensoussan in »Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage«.

Weinstock arbeitet heraus, dass für die kollektive Mentalität der muslimischen Bevölkerung vor allem die abfällige Haltung gegenüber den so genannten Dhimmis prägend war, die als minderwertige »Schutzbefohlene« galten. Diese »unergründliche Verachtung« ist in seinen Augen »das Zentrum des Problems« und »die tiefste Triebfeder« für »diesen Status der Demütigung, der Entwürdigung und der Erniedrigung der nicht-muslimischen Minderheiten«. Durch den Import des westlichen Antisemitismus sei dieser Graben weiter vertieft worden, so Nathan Weinstock.

»Das berühmte idyllische Leben der Juden in den arabischen Ländern ist ein Mythos“, bilanzierte nach dem Ende der Tragödie der tunesisch-französische Schriftsteller Albert Memmi. »Die Wahrheit ist, dass wir in erster Linie eine Minderheit in einem feindlichen Umfeld waren. Niemals, und ich meine wirklich niemals, haben die Juden in arabischen Ländern anders als erniedrigte Menschen gelebt.« Trotzdem, so diagnostiziert der Historiker Georges Bensoussan, haben Juden des Orients diese dunkle historische Realität immer wieder geleugnet und zeichnen, teilweise bis heute, ein nostalgisches Bild – ein Zwiespalt, den auch Albert Memmi von sich kennt. »In unseren Erinnerungen, unserer Phantasie war es ein völlig wunderbares Leben«, schrieb er, »wohingegen unsere eigenen Tagebücher der damaligen Zeit das Gegenteil bezeugen.«

Nathan Weinstock: Der zerrissene Faden. Dt. v. Joel Naber. Verlag ça ira, 2019. 480 S., 23 Euro.
Georges Bensoussan: Die Juden der arabischen Welt. Dt. v. Jürgen Schröder. Hentrich & Hentrich. 192 S., 19,90 Euro.

Aus: Frankfurter Rundschau, 5. September 2019