Marco Ebert

Rezension zu Ilse Bindseil, »Es denkt«

 

I.

Ilse Bindseils 1995 im ça ira-Verlag veröffentlichte und 2019 wiederaufgelegte Schrift »Es denkt« lässt sich als eine Kritik an jenen feministischen Wissenschaftskritikerinnen lesen, die im Konzept einer neuen »weiblichen Subjektivität« einen Ausweg aus den sozialen Widersprüchen sahen und damit die Möglichkeit der Versöhnung von Gesellschaft und eigenem Körper verbanden. In gleicher Weise trifft sie aber auch all jene linken Gesellschaftskritiker, die unverdrossen vom souveränen bürgerlichen Subjekt schwadronierten, als hätte es Auschwitz und Kulturindustrie nie gegeben. Akribisch zeigt die Autorin die Konsequenzen auf, die sich aus der Ideologie eines der Gesellschaft gegenüber immunen Denkens ergeben. Das ist zuvorderst ein zweites Inbeschlagnehmen des Körpers durch die Gesellschaft. Neben seiner ohnehin stattfindenden Vernutzung durch die Arbeit wird das, was danach von ihm übrigbleibt, ein weiteres Mal der Gesellschaft zugeführt: diesmal als ihr angeblich Widerständiges oder transzendentales Moment, das im Denkenden als Potenzial angelegt sei. Wo schließlich der durch die gesellschaftliche Gewalt zugerichtete Körper als Denkfabrik und Keimzelle des Neuen oder als die verkörperte Unschuld gilt und wo dieser sich schließlich selbst als möglicher Heilsbringer einsetzt, geschieht Affirmation in Reinform. Nicht allein der geschundene Körper wird affirmiert, sondern – noch wesentlich fataler – die gesellschaftliche Gewalt, die ihn in dieser Form hervorgebracht hat, erfährt eine positive Sinnstiftung. Und hierfür muss diese Gewalt weder begriffen noch beschrieben werden, es geschieht quasi hinter dem Rücken der Ideologen. Gegen eine solche Sinnstiftung der kapitalistischen Vergesellschaftung, die die Menschen tatsächlich zum bloßen Auswurfprodukt eines zutiefst irrationalen Prozesses gemacht hat, wehrt sich die Marxistin Bindseil. Sie interessiert nicht, wie das Richtige auszusehen hat, sondern wie ein »Nein« zum Falschen weiterhin möglich ist und unter welchen Bedingungen dieses formuliert werden muss.

Das »Es denkt« – verstanden als Absage an ein scheinhaft-autonomes »Ich denke« – hat weitreichende Konsequenzen für eine kritische Theorie der Gesellschaft und die Möglichkeit ihrer praktischen Veränderung. Bindseils Vorgehen ist auch in dem Sinne Gesellschaftskritik, als sie das Scheitern der großen liberalen wie auch linken Utopien in das Denken einbezieht. Dieses Scheitern ist der Theorie nicht entrückt und kein bloß äußerlich zu reflektierendes Phänomen, sondern zieht sich durch die Begriffe, die Bedingungen und Kategorien des Denkens selbst. Ein bruchloses Anknüpfen an ein transzendentales Subjekt in der Theorie wird angesichts seines faktischen Sturzes zur bloßen Ideologie.

 

II.

Der Ausgangspunkt des Essays ist die Bestimmung des Verhältnisses von Körper und Geist in der Vergesellschaftung der Menschen. »Der Körper wird – via Arbeitskraft – in die Gesellschaft eingebaut. Die Gesellschaft dagegen wird – via Geist – in den Körper eingebaut« (S.20), lautet die Leitthese der Autorin. Der Körper, genauer seine Muskeln, sein Hirn und Nerv, werde zur Arbeitskraft verflüssigt. Er erhält also eine sekundäre Form, in der er allgemein und austauschbar geworden ist zum Zwecke seiner Anwendung bei der Produktion von Waren. Der Geist wiederum stelle keine weitere Verflüssigung dar, sondern eine Kristallisation der Arbeitskraft. Er ist ihr Wiederfestwerden in Form der Gesellschaft. Geist sei nichts, was aus einem Einzelnen komme, sondern bereits immer schon vergesellschaftetes, gemeinschaftliches Produkt arbeitsteiliger Prozesse. Er kann weder Autonomie noch Einzigartigkeit beanspruchen, ist er doch das blanke Gegenteil: die »Repräsentanz der Gesellschaft in meinem Körper« (S.46). Zwar gibt es kein Denken ohne Körper, aber das Denken kommt eben nicht aus den Tiefen eines besonderen Körpers, sondern ist vielmehr umgekehrt der »funktionsprüfende Leerlauf der Gesellschaft« (S.56). Diese bediene sich lediglich des Körpers, um durch ihn geprüft und gedacht zu werden. Wenn ein Mensch einen Text lektoriert, schöpft er genauso wenig die Sprache neu, wie der Tischler bei der Aufstellung seines Bauplans den Tisch neu erfindet oder die in den Plan eingeflossenen physikalischen Gesetze entdeckt. Auch der Gesellschaftskritiker kann nicht anders als durch die Gesellschaft hindurch über sie nachzudenken. Es gibt kein Denken außerhalb der Gesellschaft. Seine Begriffe sind immer geronnene gesellschaftliche Arbeit, sie tragen Gesellschaft in sich, sind Vermittlung, und die Leugnung der gesellschaftlichen Herkunft macht keine Kritik triftiger.

Die Gesellschaft meint, wo sie von Körpern spricht, stets die sekundäre, zum Arbeitskraftreservoir zugerichtete Form. Der Primärkörper bleibt für sie uninteressant und vor allem unbegreiflich. Sobald ein Begriff gefunden ist, meint er qua definitionem etwas Allgemeines, also eben gerade die Abstraktion vom einzelnen »vorgesellschaftlichen« Primärkörper. Gesellschaft, die vom Besonderen ausginge, wäre dann eine Vielzahl von Gesellschaften (für jeden Körper eine eigene), nebeneinander existierend, also eben gerade keine Abstraktion und Vermittlung und daher auch keine Gesellschaft mehr.

Nach Bindseil könne es weder eine Identität von Körper und Geist noch eine Gesellschaft, die sich vollständig aus sich selbst erzeugt, geben. Die Identität scheitere daran, dass das verkörperte Selbst eben doch nicht das Selbst des Individuums ist, sondern Produkt gesellschaftlicher Vermittlung von Natur und als solches vom Einzelnen nicht nach Belieben dirigiert werden kann (S.23). Der Bruch zwischen vergesellschafteter Natur (Körper) und Geist als gesellschaftlichem Agenten besteht notwendig fort. Die Gesellschaft werde nämlich immer wieder an den Körper, d.h. ihre eigene natürliche Grundlage, verwiesen. Der aus dem Formwechsel ausgestoßene Rest geht nicht in der Gesellschaft auf. Vielmehr ist Letztere darauf angewiesen, dass der Körper beständig reproduziert wird, um den Formwechsel von Neuem durchführen zu können. Der Formwechsel des Körpers zur Arbeitskraft, jene gesellschaftliche Grundbewegung der Integration von Natur, markiert zugleich die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Natur. Er ist »Geburtsschaden und Strukturmangel als Ursache und fortdauerndes Schicksal einer immer nur naturwüchsigen Gesellschaft« (S.101). Der Körper ist somit Quell wie auch Grenze der Gesellschaft und der Schlüsselbegriff in Bindseils Überlegungen.

Der Restkörper, der in der Gesellschaft ungeliebt mitgeschleift wird, bleibt die Einspruchsinstanz, die lästige Erinnerung an ein Außerhalb der gesellschaftlichen Totalität. Denn mit aller Gewalt drängt die Gesellschaft die Körper zur Abstraktion, in ihre Sekundärform (wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen). Ein einmal verflüssigter Körper bleibt aber nicht dauerhaft in dieser Form, er vollzieht einen letzten Formwechsel. Die Arbeitskraft gerinnt in Form von Waren. Das ist ihre einzige Bestimmung, ihr alleiniger Zweck, nur dafür wird sie den Körpern abgepresst, tauschbar gemacht und potenziert. Die Ware gibt die Arbeitskraft nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form frei, aus lebendiger ist tote Arbeitskraft geworden. Den ersten Formwechsel, vom Körper zur Arbeitskraft, nennt Bindseil die Negation des Körpers. Er wird verbraucht. Arbeitskraft und Restkörper sind die Produkte dieser Negation. Weil Gesellschaft, um sich selbst zu reproduzieren, die Menschen permanent in ihre für sie einzig relevante, das heißt in ihre sekundäre Form treibt, leben wir in der »ständig prägnanten Gegenwart verlorener Körper« (S.95). Dabei ist unter den bestehenden sozialen Verhältnissen der Körper selbst abhängig von seiner eigenen Negation, denn er kann sich nur erhalten, wenn er sich aufgibt und zur Arbeitskraft verflüssigen lässt, also gesellschaftlich wird. Die Gesellschaft duldet kein Leben und auch kein Leben neben sich.

Arbeitskraft, die nichts anderes als Umwandlungsenergie aus dem vollzogenen Formwechsel des Körpers darstellt, muss, sobald sie sich in Warenkörpern verfestigt hat, von neuem erzeugt werden. Hieraus ergibt sich eine Abhängigkeit der Arbeitskraft vom Körper und die Notwendigkeit zu dessen ständiger Reproduktion. Vergesellschaftung ist damit kein einmal vollzogener und abgeschlossener Akt, sondern ein beständiger Prozess, in dem der Körper Produktion und Reproduktion durchlaufend in die Gesellschaft eingebunden wird und der Geist kommandiert und jene Bahnen vorgibt, in denen der verflüssigte Körper fließen und seinem Zweck zugeführt werden kann.

Dass nach Bindseil der Geist nicht dem Individuum oder einem Subjekt entspringt, sondern in Ersterem bloß haust und dass von Letzterem als Einheit von Geist und Körper nicht mehr gesprochen werden kann, ist die eigentliche Kränkung, die man bei der Lektüre empfinden mag und die Widerstand hervorruft. Dieser Widerspruch ist selbst noch gesellschaftlich produziert. Historisch sei das Subjekt nichts anderes »als die natürlichste oder effektivste Repräsentation der verselbstständigten Arbeitskraft des einzelnen, als der wirksamste Motor zu ihrer Ausbeutung, als das beste Mittel zur Verhängung des mit der Entfaltung der Arbeitskraft verbundenen Körperschicksals« (S.62). Der Zusammenhang der Menschen (der der Produktionsgemeinschaften, Familien oder Sippen) wurde aufgesprengt in eine Vielzahl von Einzelkörpern, weil ihnen so am effizientesten ihre Arbeitskraft abgepresst werden kann, und erst in dieser Sekundärform werden sie wieder zu einem Ganzen der Gesellschaft zusammengefügt und aufeinander bezogen. Der Glaube der Menschen an ein individuell-schöpferisches Selbst, dort wo sie nur austauschbare Träger von Arbeitskraft sind, mag dazu beitragen, den Wahnsinn der Realität zu bewältigen. Dass in diesem Moment die Gesellschaft die Menschen ein weiteres Mal überwältigt, entgeht ihnen dabei.

An die Stelle jener Phantasmagorien des Geistes setzt Bindseil das gesellschaftliche Individuum und die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Selbstreflexion. Das bedeutet, sich Klarheit darüber zu verschaffen, was Gesellschaft ist und was nicht. Es meint besonders den Geist als vollständig gesellschaftlich zu akzeptieren und gleichzeitig diesen von dem Körper zurückzuziehen. Anstatt den Körper ein weiteres Mal der Gesellschaft zu unterwerfen, wäre gerade die Erinnerung an die Grenzen des Gesellschaftlichen wachzuhalten. Diese Grenze liegt in jenem nicht mehr zu verwertenden Rest, der beim Formwechsel des Körpers in Arbeitskraft übrigbleibt und zugleich die Grundlage der Gesellschaft bildet. Obschon hier streng nur das wiedergegeben wird, was die Gesellschaft ist und was sie dem Einzelnen angetan hat, weist es durch das Aufzeigen dieser alles entscheidenden Grenze, nämlich die einer äußeren Natur als Grundlage der Gesellschaft, über diese hinaus. So kommt ein transzendentales Moment in die Reflexion, ohne dass sich der Denkende in irgendwelchen Luftschlössern verliert oder längst vergangenen Zusammenhängen anhängt. Reflexion ist hier eine Rücknahme des Denkens oder besser der Ansprüche des Denkens auf den Körper. »[I]st der Körperrest nicht theoriefähig, so die Gesellschaft nicht naturfähig«, schreibt die Autorin an anderer Stelle (S.101). Und wo die Gesellschaft nicht naturfähig ist, bleibt Hoffnung, ließe sich ergänzen.

 

III.

Bemerkenswert ist Bindseils Essay, weil sie darin eine Rücknahme des Denkens fordert, ohne dabei einem Anti-Intellektualismus das Wort zu reden oder in Affirmation zu verfallen. Die Rücknahme erfolgt so präzise, nämlich entlang der Grenze der Gesellschaft, ihrem letzten Hindernis vor dem Sprung in die Totalität – das ist die Unfähigkeit, sich aus sich selbst als reine Abstraktion zu reproduzieren –, dass hierdurch der gequälte Körper überhaupt erst wieder als solcher sichtbar werden kann. Der Körper erhält Konturen, weil er plötzlich mehr als seine gesellschaftliche Bewegung ist, wenngleich diese ihn weiterhin voll bestimmt. Die Gesellschaft duldet kein Leben und kein Leben neben sich, mit der Ausnahme des Restkörpers, der zwar das Produkt einer Auslöschung, aber gleichzeitig auch der immer wieder zu reproduzierende Lebensquell der Gesellschaft ist. Dies ist der Widerspruch einer zugleich restlos synthetischen wie auch immer naturwüchsigen Gesellschaft. Das »Leben«, das dieser Quelle entspringt, ist jedoch von Gewalt gezeichnet. Auch deswegen kann aus ihm selbst nicht das Reich der Freiheit hervorgehen.

Doch was bleibt noch, wenn Subjektivität, wenn das »Ich denke« und die Gewissheit der Transzendenz dieses vermeintlich eigenen Denkens zertrümmert sind? Wie kann ein Einzelner noch handeln, wenn er dies nicht im Namen einer äußeren Instanz – sei es Gott, die Natur oder das Subjekt – tut, sondern im Bewusstsein seiner eigenen gesellschaftlichen Unterwerfung? Würde dies nicht einen Absturz in Apathie verlangen, und zwar in Zeiten anhaltender gesellschaftlicher Konflikte? Reiht sich Bindseil letztlich doch nur in jene Riege postmoderner Theoretiker ein, die das Ende des Subjekts als friedensstiftende Maßnahme begrüßen? Wahrscheinlich nicht. Was Bindseil voraussetzt, ist eine bewusste Trennung von Theorie und Praxis – gegen den herrschenden Zeitgeist. Eine solche Trennung würde eine Theorie bedeuten, die sich nicht jederzeit auf das Besondere herunterbrechen ließe und dort synthetisiert wird, sondern auf der Ebene des Allgemeinen, der Begriffe verbliebe. Diese Theorie wäre kein Rückfall in das Phantasma einer reinen Abstraktion. Sie würde vielmehr die Verbindung zur Praxis halten, indem sie sich ihrer selbst als Theorie bewusst wird und so gar nicht auskommt ohne ein Verständnis von der Praxis und den eigenen Beziehungen zu ihr. Das Negierte bleibt Teil des Selbst. Die historischen Transformationen der Begriffe, ihre Grenzen und der wandelbare Inhalt wären das Objekt der theoretischen Reflexion, die endlich auch als fortlaufendes Produkt gesellschaftlicher Kämpfe erkannt würde. Praxis hingegen wäre wieder ein spontan vollzogener Akt. Braucht es wirklich den Umweg über das autonome Subjekt, um als Einzelner einzuschreiten, wo Flüchtlingsheime brennen oder Faschisten marschieren? Wenn diese Frage bejaht wird, lägen die Probleme ganz woanders und ließen sich durch theoretisierende Konzepte nur schlecht verdecken, nicht aber begreifen. Oder anders ausgedrückt: Was sagt es über unsere Gesellschaft, wenn das Nein zur barbarischen Gewalt erst abgewogen werden muss?

Es gehört zur Selbsterhaltung der Akademie, sich als unverzichtbar zu vermarkten, und so werden die dort produzierten Theorien als Schlüssel zur gesellschaftsverändernden Praxis verkauft. Gerade diese Form der Warenwerbung, denn kaum etwas anderes ist das, hat die Menschen im Glauben erzogen, dass es keine Praxis gebe, die nicht durch Theorie bestimmt wäre. Analog zum Unternehmer, der diverse Risikoanalysen einholt, ehe er eine neue Investition tätigt, soll kein praktischer Schritt unternommen werden, ohne dass dieser von der Theorie abgesichert wurde. Diese Sicherheit ist nicht nur genau wie die des Unternehmers trügerisch, sie bedeutet zudem auch eine erneute, vorauseilende Unterwerfung der handelnden Körper unter die Reproduktionsbedingungen der Gesellschaft. Allerdings zieht dagegen die Idee einer handelnden Moral als spontaner Akt neue Probleme nach sich, die nicht einfach ausgeblendet werden dürfen und das Objekt der gesellschaftlichen Selbstreflexionen sein müssen. Denn auch die Spontaneität kann nicht als ein außer-gesellschaftlicher Raum erachtet werden. Umgekehrt ist ein dem Handeln vorgeschaltetes Denken noch kein Garant für Reflexion. Statt theoretischer Durchdringung ist es häufig bloß blinde Verdopplung der Misere und dissoziiert das Begreifen. Bindseil will ihre Absage an das Subjekt und an eine den repressiven Verhältnissen äußere Autorität nicht als Abschied vom Klassenkampf verstanden wissen. Gerade für diesen könnte ein Rückzug der determinierenden Theorie von den Körpern einer ersten Befreiung gleichkommen. Es gehe darum, fasst Bindseil in einer früheren Kritik an der Vorstellung von Subjektivität zusammen, der »Ideologisierung des Alltags« Widerstand zu leisten und wohl auch darauf zu vertrauen, dass sich dann neue Räume und Möglichkeiten für eine gesellschaftsverändernde Praxis ergeben.

 

Aus: Jahrbuch Sexualitäten 2021