Joachim Bruhn – Antisemitismus und Volksstaat * Rezension zur Enderwitz Antisemitismus und Volksstaat

Joachim Bruhn

Antisemitismus und Volksstaat

Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung

Noch die avanciertesten marxistischen Faschismustheorien ignorierten den Antisemitismus als das Thema probandum der Erklärung des Nationalsozialismus: weder bei Ernst Bloch oder Alfred Sohn-Rethel, weder bei August Thalheimer noch gar bei Georgi Dimitroff findet sich irgendein Hinweis, der über die klassisch sozialdemokratische Position hinausginge. Bebel herrscht allerorten; der Antisemitismus gilt als ohnmächtiger Reflex proletarisierter Mittelklassen oder gar, schlimmstenfalls, als politisierungsfähiger »Sozialismus der dummen Kerle«. Und noch die fortgeschrittensten Theorien aus dem Umkreis der Kritischen Theorie teilen mit dem proletarischen Dogma die, wenn auch ökonomiekritische, Fixierung auf Gesellschaft: weder bei Theodor W. Adorno noch bei Detlev Claussen gerät der »geschäftsführende Ausschuß« der kapitalistischen Klasse, der Staat, ins Blickfeld. Hier setzt Ulrich Enderwitz’ Essay Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung an. Denn ist es nicht gerade dieser Staat, der, im Zuge seiner Entwicklung vom liberalen Nachtwächterstaat über den starken Staat und seiner weiteren Mutation vom Volksstaat zum Volksgemeinschaftsstaat genötigt wird, den Antisemitismus zum kardinalen Punkt seines gesellschaftlichen Integrationsprojektes zu erklären? Ein Staat, der seine Kapitalisierungsfunktion nur erfüllen kann, wenn er die bürgerliche Klasse vom Kapital dissoziiert, sie zu Staatsbürgern diszipliniert und transformiert, ein Staat, der die Verpflichtung der bürgerlichen Klasse auf eine minimale Rücksichtnahme gegen die Subsistenzbedürfnisse der Arbeiter nur erzwingen karin, wenn er dem naturwüchsig egoistischen Konkurrenzbürger mit »dem Juden« als der asozialen Wahrheit seiner selbst droht? Wenn er ihr also ihre soziale Existenz in den gräßlichsten Farben als die höchste Gefährdung ihrer kapitalen Vergesellschaftung ausmalt? Und der dies nur tun kann, indem er zugleich als Verkörperung des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters auftritt, als nationalsozialer Volksstaat, in letzter Konsequenz also als nationalsozialistischer Volksgemeinschaftsstaat? Enderwitz demonstriert, daß der blinde Fleck der marxistischen Theorie in Sachen Antisemitismus unmittelbar ihren Halluzinationen vom »sozialistischen« oder gar »proletarischen Staat« geschuldet ist: Keine revolutionäre Praxis wird dem Antisemitismus gerecht werden können, die nicht Kapital- und Staatskritik in einem wäre und so der Intention der Kritik der politischen Ökonomie entspräche.

Aus: Literatur Konkret 1991

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