Daniel Bratanovic: Wir sind hier nicht in Chicago, Max

Daniel Bratanovic

Wir sind hier nicht in Chicago, Max

Bandenherrschaft. Über Brauchbarkeit und Grenzen der Fragment gebliebenen Racket-Theorie Horkheimers

 

Brechts Parabelstück »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« sah sich lange dem Vorwurf ausgesetzt, es werde der Komplexität des historischen Gegenstands nicht gerecht. Den Siegeszug der Nazis gleichnishaft als eine im Chicago der 20er oder 30er Jahre angesiedelte »Gangsterhistorie« darzustellen, schien der Kritik unzulässig vereinfachend, ja verharmlosend. Doch der Einfall, kriminelle Bande und faschistische Bewegung aufeinander abzubilden, indem eine Parallelität der Biographien Hitlers und Al Capones hergestellt wird, ist nicht bloß ein wie auch immer geeignetes Mittel der Theaterpädagogik, sondern hat – ob bewusst oder nicht – sein Substrat in kritischer Theorie, die in Zusammenhängen denkt und also komplex ist. Beide – Bande wie Bewegung – repräsentieren ihr gemäß das gleiche Strukturprinzip in einer in Partikularismen zerfallenden postliberalen Ära.

Etwa um die Zeit, als Brecht im finnischen Exil den »Ui« schrieb, das war Anfang 1941, entstand in kalifornischer Verbannung ein Fragment gebliebener Aufsatz mit dem Titel »Die Rackets und der Geist«. Der Anspruch, den sein Verfasser Max Horkheimer darin formuliert, ist nicht die Untersuchung eines akzidentiellen Phänomens der kapitalistischen Gesellschaft: die Clique, die per gewaltförmiger Regelverletzung des Normalbetriebs ihren Schnitt macht – er zielt vielmehr auf Totalität. Der erste Satz der kleinen Schrift lautet: »Die Grundform der Herrschaft ist das Racket.« Horkheimer nennt Rackets alle Gruppen, die zum Wohle der eigenen Mitglieder einmal errungene Vorteile zum Nachteil der übrigen Gesellschaft monopolisieren. Zu ihrem Wesen gehöre, dass sie »kein Erbarmen« mit dem Leben außerhalb der eigenen Struktur, sondern »einzig das Gesetz der Selbsterhaltung« kennen. Das Racket bietet Schutz und fordert zugleich bedingungslose Loyalität: Verlangt wird »die völlige Brechung der Persönlichkeit«.

Thorsten Fuchshuber beabsichtigt mit seiner Studie eine Rekonstruktion und Interpretation dieser vor allem auf Horkheimer zurückgehenden Racket-Theorie. Horkheimer, schreibt Fuchshuber, habe zum Ziel, »die gesamte Gesellschaftsgeschichte im Begriff der Rackets als von ihnen bestimmte Gewaltgeschichte zu entlarven, und sieht deshalb scheinbar von allen historischen Formbestimmungen ab«. Das ist viel, womöglich zu viel, und scheint angesichts solcher angedeuteten abstrakten Überzeitlichkeit mit materialistischer Gesellschaftstheorie nicht vereinbar. Tatsächlich allerdings entwickelt Horkheimer seinen Begriff von der allgegenwärtigen – quer durch die Klassen gehenden – Herrschaft der Rackets auf der Grundlage monopolkapitalistischer Bedingungen und bedient sich dabei eines Terminus der US-amerikanischen Soziologie beziehungsweise Kriminologie.

Racket, ursprünglich ein Slangwort mit unbekannter Etymologie, von dem es aber spöttisch heißt, es sei der einzige allgemein anerkannte Beitrag Chicagos zur englischen Sprache, bezeichnet eine kriminelle Bande beziehungsweise bestimmte, vorwiegend bandenmäßig betriebene kriminelle Praktiken. Unter »Racketeering« verstand man zunächst den Vorgang der Schutzgelderpressung, rasch indessen weitete sich der Bedeutungsrahmen und fand Anwendung auf die Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit nach Beginn der Weltwirtschaftskrise 1929, dem Ende der Prohibition 1933 und den Anfängen der New-Deal-Ära. Gordon L. Hostetter, damals Vorsitzender eines Chicagoer Unternehmerverbandes, stritt unter Verwendung des Racket-Begriffs gegen kleine Unternehmer aus Handwerksbranchen, die sich mit illegalen Preisabsprachen gegen die günstiger produzierende Großindustrie wehrten und dafür mit lokalen Gewerkschaften kooperierten, die an Preisverfall und Jobvernichtung kein Interesse haben konnten.

Mittelständischer Kleinhandel und mittelständisches Kleinhandwerk organisierte sich »racketförmig«, und das heißt unter Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols, gegen den technologischen Wandel in der Produktion und die damit verbundene Kapitalkonzentration, die ihnen ihre Kapitalgrundlage zu entziehen drohte: Für die Einhaltung der Preisabsprachen innerhalb bestimmter Territorien sorgten kriminelle Banden, die dabei nicht eben zimperlich vorgingen. Diese Gangs, die sich nach der Aufhebung der Prohibition nach neuen Geschäftsfeldern umzusehen hatten, drangen auch direkt in die Gewerkschaften ein, in der Absicht, sich der gut gefüllten Kassen zu bemächtigen. Umgekehrt boten die Banden auch den Unternehmern ihre Dienste an und traten als Streikbrecher auf, was nicht selten in direktem Sinne bedeuten konnte, den Streikenden die Knochen zu brechen.

Horkheimer nun fasste solche Vorgänge nicht als unerfreuliche Abweichung oder abscheuliche Störung ansonsten wohlgeordneter und reibungsloser Betriebsabläufe, sondern wähnte sie als notwendige Konsequenz, die Rackets als Strukturprinzip veränderter Verhältnisse, die die Grundlagen der Klassengesellschaft zur Kenntlichkeit entstellten: Mit dem Monopol »kehrt Herrschaft zu ihrem eigenen Wesen zurück, das gerade dort rein fortbestanden hatte, wo die Inhumanität die Schlupflöcher fand, die eine humanere Form der Herrschaft übrig ließ: bei den armseligen Rackets und Ringvereinen der Großstädte«, oder anders gesagt: »die gesellschaftliche Herrschaft geht aus ihrem eigenen ökonomischen Prinzip heraus in die Gangsterherrschaft über«.

Das will übergreifend und generell verstanden sein, bezieht sich an dieser Stelle jedoch auf die Nazis: »Die Nationalsozialisten fallen aus der Entwicklung nicht heraus, wie die Rede, sie seien Gangster es unterstellt.« Sie sind es, aber nicht insofern sie, gleichsam Fremde, von einem Irgendwo draußen kommend in eine intakte Gesellschaft eingebrochen wären. So hatte auch Brecht, da schließt sich der Kreis, mit seinem Stück die Sache verstanden wissen wollen.

Das Racket als Chiffre. Horkheimer wollte mit seinem Konzept den Staatszerfall von Gesellschaften, die Zerstörung von Souveränität, die »Transformation der bürgerlichen in unvermittelte Herrschaft« begreifen und der Kritik zugänglich machen. Für das umfangreiche Forschungsprojekt sollten die Kollegen des exilierten Instituts für Sozialforschung in die Pflicht genommen werden. Die meisten waren nicht überzeugt, zögerten, das Projekt schlief ein. Horkheimer kam nach Ende des Zweiten Weltkriegs auch angesichts einer veränderten Weltlage kaum mehr darauf zu sprechen.

Als Passepartout zur Erschließung monopolkapitalistischer Verhältnisse taugte der Ansatz nur bedingt. Zu sehr wurden damit die gegebenen Unterschiede zwischen den verschiedenen Typen »post­liberaler« Herrschaft – etwa: Faschismus hie, New Deal dort – eingeebnet. Was in der Parabel zulässig ist, ist es in der Theo­rie noch lange nicht. Und wo der Institutsmitarbeiter Otto Kirchheimer das Verhältnis von Staat und Rackets und damit genauer den Zerfall von Souveränität im Sinne eines staatlichen Allgemeinheitsanspruchs gegen partikulare Gruppeninteressen diskutieren wollte, blieb Horkheimer zurückhaltend. Das Racket als Zentralbegriff einer Gesellschafts­theorie wurde so einerseits überdehnt, andererseits inkonsequent entfaltet.

Fuchshubers Arbeit ist verdienstvoll. Gründlich, ja minutiös rekonstruiert der Autor Horkheimers nie abgeschlossenes, inkohärentes Theorem. Vielleicht zu minutiös. Die Lektüre lohnt und erhellt, dennoch enthält das Buch Schwächen. Es mangelt an Stringenz und Pointe, mancherlei franst aus, vieles wirkt redundant, ganze Stellen tauchen wiederholt auf. Was Fuchshuber zur »Aktualität der Racket-Theorie« ausführt, bleibt unbefriedigend. Die Schilderung der Verhältnisse in Russland in der Ära Putin mag gar nicht einmal falsch sein, doch alles, was dazu ausgeführt wird, geschieht unter Absehen der zwischenstaatlichen Verhältnisse. Obwohl der Autor darauf hinweist, dass die »Außenpolitik auf die innere Verfasstheit einer Gesellschaft zurückwirkt«, obwohl er kritisiert, dass bei Horkheimer »die Konstitutionsbedingungen der Souveränität, insbesondere als Rivalität der Staaten untereinander, jedoch unerhellt bleiben«, löst er diesen Anspruch selbst nicht ein. Das gilt auch für Nazideutschland. Der Zweite Weltkrieg, lange geplant und vorbereitet, die Ergebnisse des Ersten zu korrigieren, findet keine Berücksichtigung. Das ist von erstaunlicher Ignoranz.

Thorsten Fuchshuber: Rackets. Kritische ­Theorie der Bandenherrschaft. Ça-Ira-Verlag, Freiburg 2019, 674 Seiten, 29 Euro

Junge Welt, 11.03.2020