Ansgar Martins: Das Verdrängte der Philosophie

Ansgar Martins

Das Verdrängte der Philosophie

Zur Erinnerung an Klaus Heinrichs kritische Religionswissenschaft

Der 1927 geborene Religionswissenschaftler Klaus Heinrich ist am Montag im Alter von 93 Jahren verstorben. Mit 21 war er einer der studentischen Mitbegründer der Freien Universität Berlin, von 1971 bis 1995 lehrte er dort als Professor. Er habilitierte sich mit einem »Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen«, sein weiteres Werk formulierte ein großes »Ja, aber« gegenüber der europäischen Religionsgeschichte.

Den Gegenstand der Religionswissenschaft bestimmte Heinrich als »das Verdrängte der Philosophie«. Von seinen Hörern aufgefordert, eine Vorlesung über Religionskritik zu halten, entgegnete er, diese Kritik sei von dem »Moment der Reflexion in den Religionen selbst« gar nicht zu trennen. Stattdessen hielt er 1972 eine Vorlesung über »Religionsphilosophie« als »materiale Philosophie, die das kollektiv und individuell Verdrängte der Heilslehre Philosophie zur Sprache bringt«.

Im Unterschied zur Systematik der Philosophie sollte jene Religionsphilosophie zunächst die bizarre Eigenlogik der schlecht verarbeiteten kollektiven Ängste und Gewaltverhältnisse nachvollziehen, die am Grund von Mythen und Religionen liegen. Heinrich wollte die dünne Schicht der Zivilisiertheit abkratzen, um den »Selbstvernichtungstrieb der Gattung« (Freud) und die gesellschaftlichen Verstrickungen zu entlarven, die in antiken Mythen die Gestalt des Schicksals annehmen und heute psychologisch als »Wiederholungszwang« erscheinen. Um diesem verdrängten Schrecken aber überhaupt erst entgegentreten zu können, sei auch an das »Fürchtet Euch nicht« der großen Religionen anzuknüpfen.

Das Ziel dieser Konfrontation war die Selbstaufklärung der »Gattung Mensch«, um »der Gesellschaft ein Bewusstsein ihrer selbst zu geben«. Heinrich betonte, dabei gehe es nicht um Erleuchtung und nicht um Emanzipation, sondern um »Erhellung«. Dazu griff er vor allem auf die Mittel der Psychoanalyse zurück. Hintergründig war auch die sozialistische Theologie Paul Tillichs präsent, ebenso Horkheimers und Adornos kritische Mythen- und Opfertheorie, deren Bilderverbot er allerdings nicht teilen konnte. Vielmehr unterstrich er die Notwendigkeit, einen »zureichenden Begriff von Aufklärung« zu entwickeln.

Heinrichs Stoffe waren vor allem die Schriftsteller der klassischen Antike, er äußerte sich aber auch über die jüdischen Propheten und das Christentum sachgenau, konnte weit in die Literaturgeschichte oder zur Architektur ausschweifen und behielt immer die Philosophie im Blick. Nicht nur die Heroen Herakles und Ödipus, sondern selbst die scheinbar abstrakten Geltungsansprüche der Logik entzifferte er als versteinerte Konflikte.

Bei der Lektüre von Heinrichs Schriften ist immer Vorsicht geboten. Wer in der scheinbar unendlichen Kontingenz religiöser Figuren und Vorstellungswelten nach Gültigem und Allgemeinem sucht, bewegt sich auf gefährlichem Terrain. Auf Schritt und Tritt drohen Fehler ähnlich C. G. Jungs, der ein »Kollektives Unbewusstes« zur Götterwelt erhob und nach ewigen Urgestalten, sogenannten »Archetypen« suchte, die sich angeblich in allen Weltreligionen ausdrücken. Der Preis war die Entleerung der Religionsgeschichte. Jung fand eben überall bloß seine Archetypen, er schuf Mythen, statt sie zu entzaubern.

Vor der Phantastik Jungs rettete Heinrich sich inhaltlich, indem er die Sehnsucht nach »Ursprungsmythen«, nach dem vermeintlich Echten, Ersten und Ganzen kritisierte – methodisch durch eine eigenwillige Anknüpfung an die psychoanalytische Trieblehre. Menschen verstand er als Triebwesen, den biblischen Gott gar als imaginären »Triebgrund der Wirklichkeit«. Das Thema der »altisraelischen« Tradition sei die Frage, ob und wie weit jener »Triebgrund« zum »Bündnispartner« der Menschen werden könne. Auf ähnliche Weise spitzte Heinrich die griechische bzw. römische Religion zu, die in seiner Deutung die Fragen nach der »Bündnisfähigkeit« des Schicksals bzw. der Natur bearbeiteten. Den monotheistischen Bund mit Gott, der das blinde mythische Schicksal bricht, schätzte Heinrich jedoch höher: als Grundstein der Zivilisation.

Im Unterschied zu manchen Absolventen religionswissenschaftlicher Studiengänge ging es Heinrich also nicht darum, eine konformistische Harmonie der Religionen zu behaupten. Sein Ziel war eben, Widersprüche und Dilemmata sichtbar zu machen: »wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt« heißt der treffende Titel einer seit Kurzem erhältlichen schmalen Textsammlung.

Heinrichs Werkausgabe erschien und erscheint übrigens bei linken Kleinverlagen. Der Verlag Stroemfeld/Roter Stern in Frankfurt am Main begann 1981 mit der Publikation seiner berühmten »Dahlemer Vorlesungen«. Nach der Stroemfeld-Insolvenz 2018 übernahm 2020 der Freiburger ça ira -Verlag die Publikation seiner Werke. Dort erscheinen auch die Werke Alfred Sohn-Rethels und Friedrich Pollocks – zwei Protagonisten der Kritischen Theorie, die wie Heinrich heute nur noch Liebhabern bekannt sein dürften.

Seine relative Unbekanntheit bei prinzipiell exzellentem Ruf wäre eine eigene Analyse wert. Religionsforscher äußern sich auf Nachfrage beinahe stets anerkennend, aber die Disziplin ist damals wie heute schlicht anders verfasst – man arbeitet historisch, ethnologisch, jedenfalls empirisch und kaum philosophisch. Wie also Heinrich vermitteln? Zur Einführung in sein Denken eignet sich neben der ausgezeichneten Textauswahl »Vernunft und Mythos« (1983) und dem von Manfred Bauschulte herausgegebenen Interview-Band »Über das Ende der neolithischen Revolution« (2012) auch das schon erwähnte, unlängst bei ça ira erschienene Buch »wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt« (2020).

Der titelgebende Text konfrontiert das Christentum mit dem oft verdrängten Antijudaismus des Johannesevangeliums. Heinrich zeigt auf, wie im Evangelientext und in Luthers Übersetzung jüdische Ansprüche unterlaufen und zu dem Anspruch Christi, er sei die Wahrheit, zurechtgebogen werden. Heinrich hielt es dagegen mit dem biblischen Buch über den Propheten Jona, denn es stelle die Wahrheit nicht christlich-figürlich »vor uns hin«, sondern diskutiere sie »in Form eines Streitgesprächs zwischen Prophet und Gott«, wodurch sich erneut das Problem des Gottesbundes eröffne.

Auch hier ist Heinrichs Begriff der »Verdrängung« zentral. Im Zusammenhang mit der christlichen Verdrängung des Judentums thematisiert er die Verdrängung des christlichen Antijudaismus und will durch beides auch den »Verdrängungsschüben unserer jüngsten Vergangenheit«, der nationalsozialistischen, entgegentreten.

Der zweite Text im Band thematisiert die westlich-antiwestliche Faszination für vermeintlich »östliche« Meditation als Fitnessideologie. Es handle sich um »Entlastungsversuche« geplagter moderner Individuen, auch sie entpuppten sich letztendlich als »Verdrängungsformeln«. Im dritten Text seziert Heinrich das deutsche Ideal der »Gemütlichkeit« und kann zeigen, wie sich dahinter wider Erwarten eine brutale Vision von »Volksgemeinschaft« verbirgt.

Leser bleiben idealerweise verstört und ernüchtert zurück. Heinrichs kritische Religionsphilosophie zieht zwar aus dem »Fürchtet Euch nicht« der Religionen ihre Kraft und formuliert Aufklärung als Ziel. Aber die ist nicht ohne ideologiekritische Enttäuschung zu haben. Ein Ideal Heinrichs seit seinem »Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen« (1964) waren die karikierenden Streiche Til Eulenspiegels, der eine verkehrte Welt entlarvt, indem er sie verkehrt darstellt. »Ob es uns gelingt, das Heilsversprechen als eins der Selbstzerstörung, die Symptome der Selbstzerstörung in ebenso viele Hilferufe zu übersetzen, ist nicht gewiß«, schrieb Heinrich in seinem Text über pseudo-»östliche« Weltfluchtversuche, um scheinbar kleinlaut anzufügen: »Sicherlich ist es weder mit Beschwörung noch mit Aburteilung getan, nicht mit Gegenveranstaltungen, Gegenzauber.«

(Langfassung des Nachrufs aus Die Welt, 28.11.20)