Alexander Stein – Pogrompolitik in Permanenz * Leseprobe zur Alexander Stein, Adolf Hitler …

Pogrompolitik in Permanenz

Alexander Stein

Wenn hier und da noch angenommen wurde, daß die mit monomanischer Besessenheit vorgebrachten Haßreden und Vernichtungsprogramme der Hitler, Rosenberg, Goebbels usw. nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus auf dem Papier bleiben würden, so hat die Wirklichkeit des Dritten Reiches das Trügerische dieser Auffassungen erwiesen. Gewiß gab es bei der Durchführung dieser Programme Augenblicke, wo infolge der Machtkämpfe der einander befehdenden Cliquen und Richtungen oder aus Rücksicht auf außenpolitische Aktionen der eine oder der andere Teil des terroristischen Kurses kaschiert und in den Hintergrund gerückt wurde. Im Großen und Ganzen jedoch hielten die maßgebenden Leiter der nationalsozialistischen Politik an den von ihnen proklamierten Vernichtungszielen fest. In dem Maße, wie die wirtschaftlichen und finanziellen Schwierigkeiten im Inneren sich verstärkten und die politischen Spannungen in der Bevölkerungsmasse anwuchsen, trat sogar immer deutlicher das Bestreben hervor, die Verfolgungen gegen die Marxisten, Juden, Katholiken usw. als Ablenkungsmittel für das Regime zu benutzen.

Besonders deutlich zeigte sich dieser Kurs der nationalsozialistischen Politik im Spätsommer und Herbst 1935. Der Mitte September in Nürnberg abgehaltene nationalsozialistische Parteitag stand hauptsächlich im Zeichen der judenfeindlichen Politik. Vor dem plötzlich nach Nürnberg einberufenen Reichstag verkündete Hitler eine Reihe von Gesetzen, die einen weiteren Schritt zur staatsbürgerlichen Entrechtung der großen Mehrheit der Bevölkerung und zur völligen Ächtung und Verfemung der Juden darstellen. Reichstagspräsident Göring erklärte bei der Darlegung dieser Gesetze:

“Deutschland legt ein Bekenntnis zu den Segnungen des nordischgermanischen Geistes ab und sucht den Anschluß an die Geschlechterreihe aus grauer Vorzeit.” [ 1 ]

Die hier gegen die Juden erlassenen Gesetze entsprechen den Forderungen der sogenannten “Deutschen Judenordnung”, die Gottfried zur Beek in der ersten Ausgabe der “Geheimnisse der Weisen von Zion” 1919 veröffentlicht hatte. Damals wurden diese Forderungen selbst von politisch rechtsstehenden Personen als Erzeugnis eines Wahnsinnigen angesehen. Beek unterließ es denn auch, sein Elaborat in den späteren Ausgaben der “Protokolle” zu veröffentlichen. Nichts kennzeichnet den tiefen Verfall Deutschlands so deutlich wie die Tatsache, daß ein großer Teil der Beekschen “Judenordnung” von Hitler und seiner Partei in die Wirklichkeit umgesetzt worden ist.

Die dadurch entstandene Situation ist in erschütternder Weise dargestellt worden in dem Demissionsbrief des Völkerbundskommissars James G. MacDonald vom 27. Dezember 1935, in dem der Völkerbund aufgefordert wird, zugunsten der verfolgten jüdischen Minderheit in Deutschland entschlossen einzugreifen:

“Wenn die innere Politik Hunderttausende menschlicher Wesen mit Demoralisierung und Exil bedroht, dann müssen Erwägungen der diplomatischen Korrektheit zurücktreten hinter Erwägungen der einfachen Menschlichkeit.” [ 2 ] [ 3 ]

Utopisch ist die Vorstellung, daß diese judenfeindliche Politik, ebenso wie die gesamte Terrorpolitik des Nationalsozialismus, nach der “Normalisierung” des Systems sich wandeln könnte. Eine solche Wandlung ist unmöglich. Judenhaß und Terror sind so eng mit dem pathologischen Charakter des ganzen Systems und der “Weltanschauung” der führenden Männer verbunden, daß sie sich selbst preisgeben würden, wenn sie ihren Standpunkt in dieser Frage änderten. Sagt doch selbst der Verfasser des Parteiprogramms, Feder, in seinem Programmkommentar :

Antisemitismus ist gewissermaßen der gefühlsmäßige Unterbau unserer Bewegung. Jeder Nationalsozialist ist Antisemit.” [ 4 ]

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Es handelt sich aber nicht allein um den “gefühlsmäßigen Unterbau”, sondern um das politische Gesicht des neuen Antisemitismus. Es ist ein kämpferischer, bestialischer Antisemitismus, der bei den echtrussischen Pogromisten der letzten Zarenperiode in die Schule gegangen ist. Sein würdigster Vertreter ist Julius Streicher, der den “totalen” Pogromkurs in Deutschland proklamiert hat.

Hitler geht mit ihm vollkommen konform. Seine Auffassungen decken sich in ihren Grundzügen mit denen Streichers. Die infernalische Judenhetze des “Stürmer” entspricht auch den persönlichen Intentionen Hitlers, der seinen Freund Streicher nach jeder Richtung hin deckt und sogar Wert darauf legt, seine enge Freundschaft mit ihm auch öffentlich zu zeigen. – Am 11. Februar 1935, während der Feier des 50. Geburtstages Streichers in Nürnberg, sagte er in seiner Rede, daß er in Streicher einen Gefährten habe, von dem er wisse, daß er keine Sekunde wanken und in jeder Lage unbeirrbar hinter ihm stehen werde.[ [ 5 ] ] Und im September 1935 hat er den offiziellen Auftrag erteilt, Julius Streicher “in Anerkennung seiner Verdienste und im Vertrauen auf seine gewissenhafte Mitarbeit an der deutschen Rechtserneuerung” zum Mitglied der Akademie für Deutsches Recht zu ernennen.

Es wird in Hitlerdeutschland nur selten offen gemordet und geplündert, wie seinerzeit während der antijüdischen Pogrome in Rußland. Die Morde vollziehen sich meist abseits von der Öffentlichkeit, in den Folterkammern der SA und der Geheimen Staatspolizei, in den Todeszellen der Zuchthäuser, in den Bunkern der Konzentrationslager, bei Erschießungen “auf der Flucht” und bei angeblichen “Selbstmorden” der Gefangenen. Die Plünderungen werden nicht öffentlich vollzogen, sondern schrittweise, Stück um Stück, auf dem Wege der “Enteignungen”, Erpressungen, zwangsweisen Geschäftsverkäufe, Berufseinschränkungen usw. Die Opfer werden nicht mit einem Schlage “erledigt”, sondern in qualvollen Etappen über unzählige Erniedrigungen, Beschimpfungen und Verfolgungen physisch und seelisch zugrunde gerichtet. Das Endergebnis ist in Deutschland schlimmer als seinerzeit in Rußland, weil der permanente kalte Pogrom zum Regierungssystem erklärt worden ist und die deutschen Juden offensichtlich als Geiseln betrachtet werden, deren sich die nationalsozialistische Regierung bei ihren innen- und außenpolitischen Aktionen bedient.

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Von nationalsozialistischer Seite werden besondere Anstrengungen gemacht, den aus Rußland eingeführten Pogromantisemitismus auf dem Wege über die rechtsstehende russische Emigration wieder nach Sowjetrußland zurückzuverpflanzen. Neben den Bemühungen, die von Rosenbergs “Außenpolitischem Amt der NSDAP” ausgehen, von Deutschland, Polen, Jugoslawien und Mandschukuo aus reaktionäre Umtriebe in der Sowjetunion hervorzurufen, geht eine systematische antisemitische Wühl- und Hetzarbeit, die namentlich von der halbmilitärisch aufgezogenen “Russisch-Nationalen Befreiungsbewegung”, kurz “ROND” genannt, betrieben wird. Seit September 1935 wird sogar vom Berliner “Judenkenner” ein besonderes Wochenblatt in russischer Sprache für die antisemitische Propaganda herausgegeben. Diese von Berlin ausgehende Wühlarbeit weckt selbst in der russischen Emigration zunehmenden Widerspruch. So veröffentlichte der politisch sehr gemäßigte Wiener Slawist Fürst N. S. Trubezkoj in den “Eurasischen Heften” (1935, N°. 5) einen scharfen Protest gegen den von reichsdeutscher Seite eifrig genährten russischen Antisemitismus:

“Ein bedeutender Teil der russischen Emigranten in Deutschland und in den Ländern des deutschen Kulturkreises schwärmt von der Einführung des Hitlerregimes in Rußland… Die Mehrzahl der Russen und Ukrainer, die in dieses politische Spiel hineingezogen werden, ahnen gar nicht, daß sie ein bloßes Werkzeug des deutschen Imperialismus sind, der nur das eine braucht: die ukrainische Schwarzerde.”

Die Wiederbelebung des russischen Antisemitismus bildet aber nur einen Teil der antijüdischen Weltpropaganda, die von Deutschland aus betrieben wird. Während die nationalsozialistische “Auslandsarbeit” in Ländern mit deutschen Bevölkerungsteilen meist darauf hinzielt, irredentistische oder autonomistische Bewegungen großzuziehen, versucht sie in anderen Ländern auf dem Wege über die antisemitische Propaganda Fuß zu fassen. Besonders intensiv sind diese Bemühungen in den französischen Kolonien Nordafrikas, in Algier, Tunis und Marokko. Daneben läuft die antisemitische Hetz-Propaganda auf dem Balkan und im Nahen Orient, vor allem in Arabien, Ägypten und Palästina, wo die Stellung Englands auf diese Weise unterhöhlt und Nationalitätenkämpfe entfacht werden sollen.

Zur Organisation der internationalen antisemitischen Bewegung sind in Deutschland weitverzweigte Verbände geschaffen worden, deren Fäden im “Außenpolitischen Amt der NSDAP” zusammenlaufen. Im September 1934 wurde ein “Weltbund der Völkischen” (Alliance Raciste Universelle) gegründet, dessen deutsche Abteilung in Berlin de facto die Oberleitung ausübt. Daneben gibt es eine “Arisch-Christliche Allianz”, die eine Zeitlang ihren Sitz in Paris und jetzt in Erfurt hat. Außer diesen offenen internationalen Vereinigungen, die sehr wenig über ihre Tätigkeit veröffentlichen, gibt es noch eine engere und streng geheim gehaltene internationale antisemitische Organisation unter dem Namen “Pan-Arische-Brüderschaft”, die die Aufgabe hat, die internationale antisemitische Bewegung den außenpolitischen Zielen des deutschen Nationalsozialismus dienstbar zu machen.

Die Zentrale dieser internationalen antisemitischen Arbeit ist in Erfurt, wo unter der Leitung des Oberstleutnants a. D. Fleischhauer (der im Berner Prozeß um die “Protokolle” als Sachverständiger auftrat) die gesamte Bewegung zusammengehalten und kontrolliert wird. Die Erfurter Zentralstelle verfügt über sehr große Mittel und unterstützt die antisemitische Presse in allen Ländern nicht nur finanziell, sondern auch durch ihre in drei Sprachen erscheinende Korrespondenz “Welt-Dienst” – “Service mondiale” – “World-Service”, die im Bodung-Verlag, Erfurt, herausgegeben wird. Von hier aus wird auch in sehr großen Mengen antisemitische Agitationsliteratur, insbesondere die “Protokolle der Weisen von Zion”, in den verschiedensten Sprachen versandt. [ 6 ]

Der Vertreter der klägerischen Partei im Berner Prozeß, Brunschwig, hat am Schluß der Verhandlung zutreffend erklärt:

“Die lsquo;Weisen von Zion‘ existieren nicht; aber dafür gibt es die antisemitischen lsquo;Weisen von Erfurt‘. An der Spitze dieser lsquo;Weisen‘ steht kein anderer als der antisemitische Gutachter dieses Prozesses, Ulrich Fleischhauer. Dieser führt, wie er selbst schreibt, planmäßig einen lsquo;übernationalen, interkonfessionellen Zusammenschluß‘ in der ganzen Welt herbei. Das ist die wahre Weltverschwörung und die eigentliche Weltgefahr.” [ 7 ]

Anmerkungen

[ 1 ] sinngemäß: Göring, Hermann, Reichstagssitzung vom 15.9.1935, in: Kerrl, Hanns (Hrsg.), Reichstagung in Nürnberg, Bd. 3: 1935. Der Parteitag der Freiheit, Berlin: Weller 1936, S. 360f.

[ 2 ] Zitiert nach dem Wortlaut des Demissionsbriefes im “Neuen Tagebuch” 1936, Heft l.

[ 3 ] MacDonald, James, Demissionsbrief, in: Das neue Tage-Buch 4 (1/1936), S. 17.

[ 4 ] Gottfried Feder, Das Programm der NSDAP, München: Franz Eher-Verlag, S. 20.

[ 5 ] Vgl. Domarus, Hitler, Bd. 1/2, S. 480-481.

[ 6 ] Einzelheiten über die internationale antisemitische Propaganda hat B. Nikolajewsky, einer der Zeugen im Berner Prozeß, in seinem Artikel “Der neuzeitliche Antisemitismus und die Protokolle der Weisen von Zion” in der “Zeitschrift für Sozialismus” (Verlagsanstalt “Graphia”, Karlsbad, Juli/Augustheft 1935) veröffentlicht. Wichtiges Material findet sich auch in den Büchern “Das braune Netz” (Editions du Carrefour, Paris 1935) und “Der gelbe Fleck” (Ebenda, 1936).

[ 7 ] Staatsarchiv des Kantons Bern, BB 15.1.1557.

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