Alexander Stein – Antisemitismus und Reaktion. Die Nazis als Schüler der “Weisen von Zion”

Antisemitismus und Reaktion

Die Nazis als Schüler der “Weisen von Zion” [ 1 ]

Alexander Stein

Der Freispruch, den das Berner Oberlandesgericht gegen die beiden angeklagten Verbreiter der “Protokolle der Weisen von Zion” am 1. November gefällt hat, ist von der Nazipresse als ein wahres Gottesgeschenk empfunden worden. Alle Kommentare waren auf den Satz abgestimmt, dass der Nationalsozialismus einen großen Sieg davongetragen habe.

Was hat sich aber in Wirklichkeit zugetragen? Die beiden Schweizer “Frontisten”, die im Mai 1935 vom Berner Amtsgericht nach mehreren Wochen Prozessdauer wegen Verbreitung der “Protokolle” zu Geldstrafen und zur Tragung der gesamten Prozesskosten verurteilt wurden, sind jetzt in der Berufungsinstanz freigesprochen worden, weil das Obergericht – im Gegensatz zur Vorinstanz – der Auffassung war, dass die “Protokolle” nicht unter die Wirkung des Artikels 14 des bernischen Schundliteraturgesetzes fallen, auf Grund dessen die Verurteilung erfolgt war. Der stellvertretende Generalprokurator Loder erklärte, “rein gefühlsmäßig müsse man die “Protokolle” als Schundliteratur erklären. Es handele sich hier um eine verleumderische Hetzschrift, die die jüdische Bevölkerung dem Hasse und der Verachtung der Mitmenschen preiszugeben suche.”

Er halte dafür, dass Abwehrmaßnahmen zu treffen seien. Eine andere Frage sei aber, ob trotzdem diese Schrift unter das bernersche Schundliteraturgesetz falle. Nach seiner Auffassung diese dieses Gesetz in erster Linie zum Schutz der Jugend vor Schund und Schmutz. Den “Protokollen” dagegen komme in gewissem Sinne der Charakter einer politischen Schrift zu. Er könne sie daher nicht als unter das Schundliteraturgesetz fallend ansehen. In diesem lediglich formalen Sinne beantrage er einen Freispruch mangels objektiven Tatbestandes. Das Gericht schloss sich diesem Antrag des Staatsanwaltes an, ohne auch nur den Versuch zu machen, an den Ergebnissen des ersten Prozesses zu rütteln, der durch Aufdeckung des “Protokoll”-Schwindels wochenlang die Aufmerksamkeit der Weltpresse fesselte.

Angesichts der scharfen Kritik, die die sonderbare Auslegung des Artikels 14 des Schundliteraturgesetzes in der führenden schweizerischen Presse fand, wurden nachträglich von offizieller Seite aus der Urteilsbegründung folgende Einzelheiten mitgeteilt: “Das Gericht der zweiten Instanz hat erklärt, dass jedenfalls nicht der geringste Beweis für die Authentizität der “Protokolle der Weisen von Zion” erbracht worden ist und dass ferner mindestens die Hälfte der sogenannten “Protokolle” ein Plagiat darstellt. Die “Protokolle der Weisen von Zion” und die beiden anderen inkriminierten Schriften sind politische Pamphlete gegen die Juden. Diese Art von Antisemitismus, die im Dritten Reich zur Staatspolitik erhoben worden ist, sollte von einer bestimmten Sorte von Menschen auch in die Schweiz eingeführt werden, wenn das Schweizer Volk sich nicht rechtzeitig seiner stolzen Überlieferung im Sinne des Artikels 4 der Schweizer Verfassung, der die Gleichberechtigung aller Bürger einschließlich der Juden beinhaltet, bewusst geworden wäre. Die genannten Pamphlete sind eine auf tiefster Stufe stehende Literatur, aber nicht im Sinne des Gesetzes vom 10. September 1916 über die unsittliche Literatur, durch die die Jugend gefährdet werden könnte.”

Diese Kundgebung ist selbstverständlich von der gesamten kommandierten Presse glatt unterschlagen worden, denn sie passt nicht in den Rahmen jener Politik, die eine notorische Fälscherschrift, ein Produkt russischer und französischer Polizeispitzel, zum Ausgangspunkt ihres Verleumdungs- und Ausrottungsfeldzuges gegen die Juden gemacht hat. Das deutsche Volk soll nicht erfahren, dass das Berner Obergericht sich die Erkenntnisse des Berner Prozesses vom Mai 1935, die dem “Protokoll”-Schwindel endgültig den Garaus machten, voll und ganz zu eigen gemacht hat. Es darf nicht erfahren, dass selbst der Verteidiger der angeklagten Frontisten, Ruef, ausdrücklich vor Gericht erklärte, er behaupte keineswegs, die “Protokolle” seien echt! Es muss vielmehr in dem Wahne erhalten bleiben, dass alles Unheil der Welt auf die in den “Protokollen” niedergelegte “Weltverschwörung” des Judentums zurückzuführen sei und dass deshalb die Hitler, Rosenberg, Streicher usw. ein gottgefälliges Werk verrichteten, wenn sie die Welt von der “jüdisch-marxistischen Pest” zu befreien suchen.

Im Urteil des Reichsgerichts gegen den Mörder Walter Rathenaus (im Jahre 1922) sind die “Protokolle der Weisen von Zion” als “Bibel der Rathenau-Mörder” bezeichnet worden. In den Jahren, die der Machtergreifung Hitlers vorausgingen, haben sie mit dazu beigetragen, jene Wahnvorstellungen und Hassgefühle in den Massen zu erzeugen, ohne die der “Sieg” des Nationalsozialismus undenkbar gewesen wäre. Nach der Machtergreifung des Nationalsozialismus kann die “Bibel der Rathenau-Mörder” mit Fug und Recht als Bibel der nationalsozialistischen Gewaltpolitiker bezeichnet werden. Zusammen mit den umfangreichen “Kommentaren” der “Protokoll”-Bearbeiter werden die gefälschten “Protokolle” nicht nur zur Rechtfertigung des Feldzuges gegen die Juden und den “jüdischen Bolschewismus” herangezogen, sondern auch die Mittel der inneren Zersetzung in den nordafrikanischen Kolonialgebieten, in Vorderasien und am Balkan, wo die von Erfurt aus geleitete antisemitische Propaganda den weitausgreifenden Eroberungszielen des neudeutschen Imperialismus dient.

Aber auch in einer anderen Hinsicht können die “Protokolle” als Bibel des Nationalsozialismus bezeichnet werden. Vergleicht man die in ihnen enthaltenen staatspolitischen Grundsätze mit einer markanten Äußerungen in Hitlers “Mein Kampf”, Rosenbergs “ Mythus” usw. sowie mit der gesamten Praxis des Dritten Reiches, so erkennt man, dass die fälschlich den Juden zugeschriebenen amoralischen Grundsätze der “Protokolle” nichts anderes sind, als die in Wirklichkeit umgesetzten Grundsätze der nationalsozialistischen Eroberer.

Viel zu wenig Leute wissen, dass die “Protokolle” nur eine plumpe Umfälschung eines geistreichen Pamphlets des Franzosen Joly gegen Napoleon III. darstellen und entsprechend auch den faschistischen Gewaltstaat und die machiavellistischen Methoden seiner Politik treffen. Denn alles, was in ihnen über die Aushöhlung der Demokratie, über die Eroberung der Macht, über die Handhabung der sozialen Demagogie, über die Knebelung der Presse, über Meinungsfabrikation, Jugenderziehung, Denunziantentum, Spitzelei und Schreckensherrschaft (als Satire gegen den Bonapartismus) gesagt wird, passt haargenau auf die Wirklichkeit des Dritten Reiches, die mit barbarischer Grausamkeit in Szene gesetzt wurde von “Führern”, die die “Protokolle” auswendig gelernt und sie als Lehrbuch des Staatsstreichs, als Leitfaden der faschistischen Weltverschwörung angewendet haben. Trotzdem – oder gerade deshalb – benutzt das Regime die “Protokolle”, um das, was Wesen und Inhalt seiner eigenen Politik darstellt, den Juden in die Schuhe zu schieben und mit Hilfe dieser Demagogie Ablenkung zu schaffen.

Wie ist dieser Seuche entgegenzuwirken? Vor allen Dingen dadurch, dass man Aufklärung schafft über den Ursprung und was Wesen der gefälschten “Protokolle”, und den mit ihnen verbundenen Tatsachenkomplex nicht als eine interne “jüdische Angelegenheit” betrachtet, sondern als ein wichtiges Glied in der Kette der nationalsozialistischen Innen- und Außenpolitik. Wir haben in den Jahren der Weimarer Republik in dieser Beziehung manches versäumt, jetzt gilt es, in verstärktem Maße die Zusammenhänge zwischen dem pathologischen Antisemitismus der regierenden Nazis und ihrer räu berischen Innen- und Außenpolitik aufzudecken.

Aus: Sozialistische Aktion, Nr. 80, Dezember 1937.

Anmerkung

[ 1 ] Der Artikel erschien anonym und ist im Stein-Nachlaß (IISG Amsterdam, Alexander Stein Papers Nr. 136) nicht markiert. Aufgrund der großen Ähnlichkeit von Wortwahl und Satzbau einzelner Passagen mit dem Text “Adolf Hitler: Schüler der lsquo;Weisen von Zion‘” sowie unter Klarnamen oder Pseudonym veröffentlichten Beiträgen im “Neuen Vorwärts” vermuten die Herausgeber die Urheberschaft Steins.

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