Gerhard Scheit – Über den Seufzer der bedrängten Kreatur

Über den Seufzer der bedrängten Kreatur

Gerhard Scheit

Politische Urteilskraft hat es immer mit der Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit zu tun: Entweder sie geht davon aus, daß die Menschen sich durchaus frei entscheiden können – oder, daß jede ihrer Entscheidungen vollständig determiniert ist. Nichts, kein Engagement für die formale Demokratie und keines für die sozial Benachteiligten, enthebt davon, diese Kontradiktion im Urteilen selber offenzulegen.

Im politischen Konflikt ist allerdings jederzeit und unbedingt für die Freiheit einzutreten. Gegen sie auf dem Determinismus zu beharren, verheert das politische Bewußtsein, das zeigt sich heute vielleicht mehr denn je an der rabiaten Abwehr der Religions- und Ideologiekritik. Denn wer den Islam oder die deutsche Ideologie radikal kritisiert, wird mittlerweile als Rassist beschimpft, der es auf die Muslime und die Deutschen, oder besser: auf deren Erbanlagen, abgesehen habe. Hinter der Rancune, die solches unterschiebt, steht selbst ein Denken oder vielmehr ein Mitleid bzw. Selbstmitleid, das Subjektivität und Entscheidung des einzelnen durchstreicht und Religion wie Ideologie nur als unmittelbaren Niederschlag der sozialen und ökonomischen Misere verstehen kann oder will und damit tel quel akzeptiert oder als Widerstandshaltung sogar gutheißt; das überhaupt Vermittlungen nicht anerkannt und darin gerade die falsche Unmittelbarkeit, die der wirkliche Rassismus auf die Spitze treibt, ins Ökonomische übersetzt: Die Religion der Muslime sei im Elend der Dritten Welt der spontane “Seufzer der bedrängten Kreatur” und Suicide attack darum eine Verzweiflungstat: “Protestation gegen das wirkliche Elend” (Marx).

So wird die bedrängte Kreatur zum Pawlowschen Hund erniedrigt. Angewandt auf die schlimmste aller Ideologien, die der Entfaltung des Islam zur schlimmsten aller Religionen den Boden bereitete, hat man mithin das Endergebnis deutscher Vergangenheitsbewältigung: Nationalsozialismus als Seufzer der bedrängten Arbeitslosen und Auschwitz eine kollektive Verzweiflungstat.

Marx hingegen wußte, daß alles darauf ankommt, die Bedrängung selbst zu analysieren, und der von ihm daher entwickelten Kritik der politischen Ökonomie geht es um nichts anderes als die Form der Bedrängung. Sie erst gibt zu erkennen, worüber beim jungen Marx noch spekuliert werden kann: was gemeint ist, wenn in Zusammenhang mit Religion von “Volk” und “Kreatur” gesprochen wird – nicht die Situation des einzelnen Menschen oder einer bestimmten Klasse oder gar einer Nation, sondern die Situation der Menschheit.

Der Idealismus der Willensfreiheit erlaubt es hingegen, die Individuen als Individuen, damit als das, was sie sein könnten, und nicht nur als Kreaturen ihres sozialen Milieus oder ihrer ökonomischen Basis wahrzunehmen. Umso mehr aber wäre er selbst jener Antinomie politischer Urteilskraft zu konfrontieren, sonst wird Freiheit zum Dogma, das entweder mit Hegel suggeriert, es gebe bereits eine freie Gesellschaft unter den Bedingungen von Staat und Kapital, oder aber mit Kant versichert, die äußeren Bedingungen seien von jeher gleichgültig angesichts der inneren Freiheit des einzelnen. Die Frage nach den sozialen und ökonomischen Ursachen der Taten ist ja nicht an sich falsch, sondern lediglich falsch gestellt, insofern sie Totalität zu umgehen sucht. Denn es gibt streng genommen immer nur eine einzige “Ursache”: das unwahre Ganze, das freilich als Summe aller Ursachen sich nicht beschreiben läßt und doch – Inbegriff aller Vermittlungen – als erzwungene Einheit der Gesellschaft der alleinige Fluchtpunkt sein muß, soweit überhaupt und nur ganz allgemein von Religion als “Opium des Volks” und “Seufzer der bedrängten Kreatur” oder von Ideologie als falschem Bewußtsein die Rede sein kann. Wird es indessen durch eine einzelne oder mehrere einzelne Ursachen ersetzt (und sei‘s das Mißverständnis von Marx und Engels namens “ökonomischer Basis”), hat man es bereits mit einer Abspaltung zu tun, die sich einer eigenen Logik folgend irgendwann auch zur pathischen Projektion verselbständigt. Dann heißt es eben, die Versailler Verträge seien am Nationalsozialismus schuld und Israels Politik verursache die Selbstmordattentate; in letzter Konsequenz stehen hinter allem natürlich “die Juden”. Vom falschen Bewußtsein ist damit nur noch politischer Wahnsinn, vom Opium des Volks antisemitischer Blutrausch zu erwarten.

Die Kritik geht von den Extremen aus – und diese Extreme berühren sich an unerwarteten Stellen. Hält sie auf der einen Seite allein die falsche Form der Gesellschaft als einzige “Ursache” fest – Totalität von Kapitalverhältnis und Staatswesen, die (wie das wahre Verständnis von Marx zeigt) lediglich in abstraktester Kausalität: in ihren gesellschaftlichen Naturgesetzen, faßbar ist, aber nicht darin, daß sie überhaupt besteht –, muß ihr auf der anderen Seite das einzelne Individuum dafür, was es konkret und inhaltlich tut oder nicht tut, als unbedingt verantwortlich gelten. Sein Denken und Handeln soll durchsichtig und unerklärlich zugleich sein – wie eben jene totale Form. Ideologische und psychische Mechanismen, die es etwa an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit einer bestimmten Religion verpflichten, sind zwar (mit Marx und Freud und Kritischer Theorie) in größtmöglicher Präzision herauszuarbeiten, aber daß dann das je einzelne wirklich so oder anders denkt und handelt, muß unbegreiflich bleiben wie die Tatsache, daß ein gesellschaftliches Ganzes existiert, durch dessen Struktur jene Mechanismen hervorgetrieben werden. Dieser Hiatus inmitten kausaler Zusammenhänge ist unbeirrt zu exponieren, soll Kritik der Gesellschaft nicht deren bloßer Widerspiegelung weichen. Kritik stammt vom griechischen krino: Trennen, Entscheiden.

Die nationalsozialistische Volksgemeinschaft und die islamistischen Selbstmord-Banden verwirklichen – jede auf ihre Weise – die “Freiheit des Opfers”, wie Heidegger die totale Zurücknahme der Freiheit nannte. Wieweit der jeweilige Volksgenosse oder Djihadkämpfer diesem “Idealtypus” ganz entspricht oder davon abweicht und zur Tat gezwungen werden muß, weil er in Volk und Djihad noch nicht aufgegangen ist, kann nur im einzelnen geklärt werden. Zunächst aber wäre vom Idealtypus auszugehen, worin das repressive Kollektiv Gestalt annimmt – immer unter der Voraussetzung, daß es ihn erst wirklich gibt, wenn das Individuum ihn zur eigenen Sache macht und dann auch dafür haftet. Das Urteil darüber muß die negative Freiheit festhalten, die im Augenblick der Entscheidung zur Unfreiheit liegt. Anders wäre auch die einmal mögliche Freiheit, die der Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft entspringen könnte, schon verraten.

Der Topos der Kritischen Theorie, daß mit der Entwicklung der gesamten Gesellschaft auch die Ohnmacht der Individuen zunimmt, die sie doch ausmachen – Adorno spricht sogar, in Analogie zu einem Marx‘schen Begriff, von der anwachsenden “organischen Zusammensetzung des Menschen” –, erscheint mitunter aber wie der Versuch, jener Antinomie auszuweichen, sie selbst noch in einen Prozeß aufzulösen, der allerdings kaum je an sein Ende kommen kann. Denn dieses Ende wäre der vollständige Verlust von Freiheit, die Menschen verwandelten sich in Automaten. Wahr daran ist, daß die gesellschaftlichen Naturgesetze sich weiter entfalten, verfeinern und von äußeren Zwängen mehr und mehr, wenn auch niemals ganz, zu inneren Bedürfnissen transformiert werden. Von dieser Entwicklung, die durch jene totale Form, Totalisierung der Warenproduktion, vorangetrieben wird, sind Gesellschaften nicht ausgenommen, die als unterentwickelt gelten: aus den äußeren Zwängen bilden sich auch hier innere Bedürfnisse, aber es können gleichzeitig die äußeren Zwänge sich noch verschärfen, und dafür stehen islamische Theokratie und Bandenherrschaft, die in der Logi k des Selbstmordattentats kulminieren – ob sie nun Sprengstoffgürtel für Einzeltäter bereitstellen, Raketenabschußrampen in Wohngebieten unterbringen oder mit der Atombombe die gesamte Bevölkerung des eigenen Landes zum freiwilligen oder unfreiwilligen Märtyrer machen. Dem einzelnen soll zum innersten Bedürfnis werden, im Namen des Kollektivs, das ihn unterwirft, sein Leben zu opfern, um möglichst viele Menschen zu töten.

Solche Verschiebungen in der Konstitution politischen Bewußtseins beseitigen demnach nicht die konkrete “Kausalität durch Freiheit” (Kant), also jene gesellschaftlichen Prozesse, die durch “freie” Entscheidung unter den Bedingungen der Unfreiheit in Gang gesetzt werden, hemmen und begrenzen sie jedoch überall, wo sie nicht auf Vernichtung um der Vernichtung willen hinausläuft, sondern im Gegenteil den praktischen Widerstand der einzelnen Individuen gegen die repressiven Mächte und die Verelendung der Menschen unter Beweis stellen würde; läßt also bloße Vernichtung immer wahrscheinlicher und wirkliche Revolution immer unvorstellbarer werden. Aber die Bedingung der Möglichkeit solcher Entscheidung und damit revolutionärer Aktion bleibt davon unberührt. Von ihr aus zu denken – und das unternimmt letztlich Kritische Theorie, ob sie nun auf Restitution von unreglementierter Erfahrung dringt oder überhaupt ihre eigenen Voraussetzungen reflektiert –, gibt umgekehrt erst den Prozeß der wachsenden organischen Zusammensetzung des Individuums selber als ein gesellschaftliches Naturgesetz zu erkennen, das im einzelnen wie im Ganzen zu durchbrechen wäre.

Was das Individuum tut – gleichviel ob außerhalb oder innerhalb einer politisch formierten Masse – kann demnach aus keiner ökonomischen Basis und keinem sozialen Milieu unmittelbar abgeleitet werden. Sucht die Ableitung aber Vermittlungsschritte, dann hat sie, wenn sie konsequent genug ist, den Weg über die Totalität zu nehmen. Dabei wird sie gleichsam überdehnt – ein Zustand, der sie erst zur Erkenntnis des Ganzen befähigt: Sie mündet in eben jene abstrakteste Kausalität von Wertgesetz und Über-Ich-Identifikation, wie sie allein der Kritik der politischen Ökonomie und der Massenpsychologie zugänglich ist und von Kritischer Theorie unter verschiedensten Annahmen dargelegt wurde. Ableiten läßt sich aus ihr vielleicht, was möglich ist: wozu die Menschen – im Guten wie im Bösen – imstande sind, aber nicht, daß sie es auch tun. In diesem Begreifen der Unbegreiflichkeit liegt die einzige Aussicht für Ideologiekritik und politische Analyse, nicht nur dem Individuum die Freiheit, sondern durch sie hindurch der ganzen Gesellschaft die Möglichkeit radikaler Veränderung – also das dringend Gebotene – doch noch zuzutrauen.

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