Diethard Behrens – Eine kommunistische Linke jenseits des Leninismus? * Einleitung zu Pannekoek et. al., Marxistischer Antileninismus

Eine kommunistische Linke jenseits des Leninismus?

Diethard Behrens

Mit der Abkehr Osteuropas vom sowjetischen Modell schienen sich auch diejenigen, die in den vergangen Jahren glaubten, mit den Bolschewiki sich identifizieren zu müssen, in ihrer überwältigenden Mehrheit end­gültig von ihren jugendlichen Irrtümern befreit zu haben. Die anderen, die schon damals die Ineinssetzung von Sowjetmacht und Sozialismus kritisierten, haben mit ihren revolutionären Ambitionen inzwischen auch die Option auf einen humanen Sozialismus ad acta gelegt.

Die Gorbatschowschen Reformen hatten im Westen zunächst allge­mei­ne Euphorie ausgelöst. Während die Presse in Erwartung der Rück­kehr der Sowjetunion in den Kreis der zivilisierten kapitalistischen Nationen frohlockte, knüpften sich bei den Resten der Linken allerlei Reformhoffnungen an Gorbatschow – auch für die versteinerten Verhält­nisse im Westen.

Diese Erwartungen scheinen inzwischen blamiert. Die Ohnmacht und Sprachlosigkeit der Linken angesichts der Veränderungen hängt nicht zu­letzt mit jenem prekären Verhältnis zusammen, das sie an die Ge­schichte der Sowjetunion band. Hatten sich doch fast alle positiv auf die Tradition der Oktoberrevolution bezogen, auch wenn dies meist mit dem Wunschtraum einherging, den “Gaul Geschichte” – von dem Majakowski sagt, daß er hinke – höchstselbst, als Revolutionär, am Zügel zu führen. Die verbreitete Fixierung an ein Bild der Oktoberrevolution als, wenn auch nur momenthafte, Geschichtsmächtigkeit der revolutionären Massen und ihrer Avantgarde, ging in der Praxis aber einher mit einer Haltung, die in jedem “Angriff auf die Sowjetunion” den “Stoß ins Herz der Revolution” (Weinert/Eisler) witterte und in jeder Leninismuskritik das Einschwenken ins bürgerliche Lager.

Bis heute stellt das Verhältnis zur Sowjetunion für die Linke eine Beziehungsfalle dar, der sie scheinbar nicht zu entkommen vermag. Der Traum von der Verwirklichung des Sozialismus, der mit dem Mythos Sowjetunion verbunden war, schien nur zwei Positionen zuzulassen: Das Bekenntnis zur Revolution und in der Konsequenz die bedingungslose Identifikation mit dem “Vaterland des Sozialismus”, dessen wirkliche Politik den mit diesem Begriff verbundenen Inhalten nur wenig entsprach, oder die Abgrenzung im Namen des Sozialismus; die damit unterstellte antirevolutionäre Haltung und Affirmation bestehender Verhältnisse schien jedoch weniger die Folge als vielmehr die Voraussetzung jenes “so nicht” zu sein. Für die im Ersten Weltkrieg korrumpierten soziali­sti­schen Parteien eignete sich die “bolschewistische” Revolution als iden­titätsstiftendes Gegenbild. Auch eine Kritik der bolschewistischen Politik aus dem Geist eines entschieden revolutionären Sozialismus, wie sie Rosa Luxemburg formulierte, geriet in den Sog dieser Beziehungs­falle.

Linke Positionen, die sich vom Konformismus der Sozialdemokratie abgestoßen fühlten, fanden in den zwanziger und dreißiger Jahren nur in den kommunistischen Parteien einen Platz, ebenso wie all jenen, die den Bolschewisierungs- und Stalinisierungsprozessen der kommuni­sti­schen Parteien entgehen wollten, nur die Wahl blieb, minoritäre Grüpp­chen zu bilden (wie August Thalheimer, Karl Korsch, Amadeo Bordiga u.a.) oder sich spätestens in der Emigration auf die Seite des freien Westens zu schlagen (wie Franz Borkenau, Arthur Koestler und Manès Sperber).

Als die Studentenbewegung in der BRD sich als Neue Linke kon­sti­tu­­­ier­te, hatte sie eine Ahnung davon, daß ihre politischen Wirkungs­möglichkeiten davon abhingen, wieweit es ihr gelänge, der Beziehungs­­falle zu entkommen und die sozialistische Revolution gegen jene neu auf die Tagesordnung zu setzen, die sie immer schon vertagt und schließ­lich ganz verabschiedet hatten, um den Aufbau der Industrie und die Rettung des Vaterlands zu vollbringen. Sie kam deshalb nicht umhin, immer wieder die Rolle der Sowjetunion zu diskutieren, die Revolution von 1917 und die Rolle des Stalinismus – vor allem, um der auch in der Linken virulenten Totalitarismustheorie kritisch begegnen zu können. Die Schwierigkeiten mit der Sowjetunion kristallisierten sich um die prekäre Beziehung zwischen dem Mythos Oktoberrevolution, der auch für die Mehrheit der Neuen Linken seine Faszination als Identifika­tionsangebot nicht verloren hatte, und den augenfälligen Konsequenzen stalinistischer und sowjetisch-imperialer Politik.

Als einfache Lösung der damit aufgeworfenen Fragen grassierte die These vom Verrat an den Idealen der großen sozialistischen russischen Revolution, und dies gleich in verschiedenen Varianten, die sich allein durch den Wechsel der Zuschreibungen unterschieden, wer nun eigentlich diese Ideale noch verkörpere. Verbreitet war auch die These vom Sozial­imperialismus der Sowjetunion, deren moralischer Abgrenzungsstatus die allzu große Enttäuschung über den Werdegang der kommunistischen Parteien kaum verhehlen konnte. Darüber hinaus ging ihr in bezug auf einen Vergleich der Imperialismen das Kriterium des Sozialen verloren. Seit 1967/68 gibt es in der Neuen Linken die Kritik an der Bürokrati­sierung und Versachlichung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Sowjetunion, also eine Kritik, die die staatliche und industrielle Herr­schafts­­form in den Mittelpunkt zu rücken sucht. Eine ernsthafte Beschäf­tigung mit der historischen Analyse russischer Verhältnisse hat erst in neuester Zeit eingesetzt.

Die für die Neue Linke wichtige Nachkriegserfahrung ist durch die Erkenntnis einer nationalsozialistischen Kontinuität unterhalb der großen Politik gekennzeichnet, durch die Kontinuität antikommunistischer Attitü­den, die Erkenntnis des weltweiten Neokolonialismus, durch die Erfah­rung einer handlungsunfähigen Linken angesichts der Fixierung der alten KP auf die Sowjetunion fixiert, und durch die Erfahrung, daß die Linke selbst aus der SPD zunehmend herausgedrängt und gesellschaftlich randständig wurde, was sich an der Geschichte des SDS ablesen läßt.

Für den älteren Marxismus wie für den SDS und die Studenten­bewegung blieb die Revolution von 1917 das Paradebeispiel einer soziali­stischen Revolution. Die entscheidende Kritik kam aus dem Frankfurter SDS-Zirkel um Hans-Jürgen Krahl. Krahl faßt den damaligen Stand der Diskussion und der Marx-Rezeption zusammen, wenn er in seinem Kommentar zum tschechischen Reformkommunismus konstatiert, “daß der Kommunismus nach Marx und Engels auf die ,Produktion der Ver­kehrs­­form selbst‘ zielt, in der das wertsubstantielle Produktionsverhältnis abstrakter Arbeit, das die privatarbeitenden Produzenten gegeneinander isoliert, auf dem Wege revolutionär erkämpfter Vergesellschaftung zu­grunde geht, um die Möglichkeit der ,assoziierten Produktionsweise‘ der unmittelbaren Produzenten und schließlich des zwanglosen ,Vereins freier Menschen‘ zu eröffnen.” [ 1 ]

Vor diesem Hintergrund war die Identifikation von Sowjet­uni­­on und Sozialismus eine Unmöglichkeit. Diejenigen, die sich als Spre­cher einer Emanzipationsbewegung verstanden, konnten im zen­tra­­­li­­sti­schen Organi­sa­­tionsmodell nur einen destruktiven Forma­lis­mus sehen. Diejenigen, die als Schüler von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Waren­produktion mit Entfremdung und industri­elle Entwicklung mit reeller Subsumtion unter das Kapitalverhältnis zu verbinden gelernt hatten, hatten ihre Unbefangenheit gegenüber den Parolen vom “Aufbau des Sozialismus” gründlich verloren. Die­je­ni­gen, denen auch nur ansatzweise die Problematik des Zusammen­hangs von Kapitalismus und bürgerlichem Nationalstaat gegenwärtig war, sahen sich gezwungen, an dem Postulat einer internationalen revolutionären Bewegung festzuhalten.

Aber diese leninismuskritischen Einsichten spielten in der Aus­­­einan­der­­ setzung mit den überall entstehenden marxistisch-lenini­­stischen Par­teien eine immer geringere Rolle. Für die Kritiker des leninistischen Organisationsmodells wurde Spontaneität schon bald zum Markenartikel (Revolutionärer Kampf, Proletarische Front Bremen, Arbeitersache Mün­chen). Als man mit den Parolen “Eine Mark für alle!” und “Macht kaputt, was Euch kaputt macht!” nicht schnell genug erfolgreich war, ging man zur “Politik in erster Person” über. Der Internationalismus blieb Feier­abend­beschäftigung gerade da, wo die Neuzusammensetzung der inter­nationalen Arbeiterklasse (Karl Heinz Roth) die “Betriebsarbeiter” vor schwer lösbare Probleme stellte. Der Abschied von der real existierenden Arbeiterklasse führte auf dem Umweg über die “Nicht-Arbeit” in einen Subjektivismus, der bald wieder für bestimmte Varianten von Konser­vativismus und Nationalismus anfällig wurde. Darin trafen sie sich dann mit jenen, die inzwischen den Gang durch die kommunistischen Parteien hinter sich hatten. Sie hatten damals vom Leninismus nicht nur das Organisationsmodell übernommen und die revolutionäre Disziplin, son­dern auch die Staatsfixierung. Je nachdem, wie wenig sie sich in der stalinistischen Entwicklung der UdSSR wiedererkennen konnten, war der nationale Träger der Revolution als Identifikationspunkt ausge­wechselt worden: Albanien und China statt Rußland.

Man beschwor die Dialektik von Repression und Revolution, äußerte moralischen Protest gegen den Machtstaat und operierte mit einem ver­selb­­ständigten Verständnis von Praxis, die als aktionistische ihren ehemals ironischen Charakter als Demonstrationsform längst verloren hatte und zu einer Form gerann, über deren Funktion – ganz wie bei der Politik der KP der zwanziger Jahre – nicht mehr nachgedacht wurde. Als allge­mei­nes Kennzeichen diese Gruppierungen konnte dann gelten: die Iden­tität von Moral und Politik oder ein moralisierender Politizismus – und dies oft trotz einer ökonomistischen Marx-Rezeption. Ein Großteil der Anhängerschaft dieser Gruppierungen wurde dann im Anschluß an den Sieg Vietnams und des Pol Pot-Regimes ganz wie schon die gläubigen Kommunisten nach 1930 und 1945 von den Ereignissen überrollt und von Ernüchterung eingeholt.

Die Rezeption des traditionalen Kommunismus war aber oftmals durch eine spezifische Sichtweise mit dem Problem der Reaktion auf den Faschismus verbunden. Zumindest teilweise wurde die Legitimation von Georg Lukàcs akzeptiert, daß damals insofern eine Zwangslage geherrscht habe, als man angesichts des heraufziehenden Faschismus, trotz aller Detailkritik, nur für den Kommunismus sich habe entscheiden können. Der dieser polaren Konstruktion unterlegte politische und histori­sche Determinismus spielte für die Marxisten-Leninisten generell und auch für ihre Mao-stalinistischen Spielarten eine große Rolle. Historische Situationen wurden auf einfache Entscheidungslagen reduziert. Dieser Mechanismus der Zwangsparteinahme verdeckte aber nur das Problem, das darin bestand, wie eigentlich “das Revolutionäre” an der Oktober­­revolution zu begreifen und wie diese vom westlichen Kapitalismus abweichende Form der Industriegesellschaft zu beurteilen sei: als Schritt oder Rückschritt auf dem Weg zum Sozialismus, als Staatskapitalismus (was darunter auch immer verstanden wird), als eigenständige Variante kapitalistischer Entwicklung oder bloß als totalitärer Staat.

Im folgenden soll hier der Stand der Debatten um Sowjetstaat und Sozialismus kurz skizziert werden, wie er in den 70er Jahren den Horizont einer linken Kritik abgesteckt hat. Es soll hier die These vertreten werden, daß es auch für das Verständnis der aktuellen Vorgänge in der Sowjetunion unumgänglich ist, an diesen Stand wieder anzuknüpfen – gerade dort, wo er sich in Ansätzen aus der beschriebenen Beziehungsfalle heraus­gearbeitet hat.

Schon in den zwanziger Jahren hatte sich eine Debatte um Plan- und Marktwirtschaft entwickelt. Friedrich Pollock etwa zeigte deutlich Be­gei­sterung für die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion (Friedrich Pollock, Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion, Leipzig 1929). Plan und Markt werden säuberlich getrennt dann dem Sozialismus und dem Kapitalismus zugeordnet. In der sowjetischen Dis­kussion finden sich ähnliche Vorstellungen etwa bei Preobrazenskij und später bei den Trotzkisten. Andere, z.B. Bucharin, waren vorsichtiger. Die schematische Gegenüberstellung von Plan und Markt verstellt den realistischen Zugriff auf sozialökonomische Probleme. Insofern aber ist die Vorstellung von Plan und Markt als einander gegenseitig ausschlie­ßend unsinnig, als es im “sozialistischen Planstaat” immer die verschie­densten Varianten von Märkten gab und gibt und als Planifikationen von Anfang an die Geschichte kapitalistischer “Marktökonomien” geprägt haben, ja Markt und Plan geradezu eine spezifische notwendige Einheit kapitalistischer Ökonomie bilden.

Vor allem innerhalb der sowjetischen Ökonomiediskussion spielten die Theorien von der Übergangsgesellschaft (Bucharin u.a.) eine ent­schei­­dende Rolle. Deren Voraussetzung, daß es sich bei der Sowjetunion um eine Gesellschaft im Übergang zum Sozialismus handele, blieb un-hin­ter­fragt. Übergangsgesellschaften sollten auf die Transformation kapi­­ta­­­listischer in sozialistische bezogen sein. In Wahrheit handelte es sich bei den angeführten Ländern um unterentwickelte Länder der ersten und dritten Welt, die man bestenfalls als Schwellenländer bezeichnen kann, und die Transformation war lediglich Mittel einer spezifischen National­kapitalbildung, die die Chancen am Weltmarkt vorübergehend vergrößern half. [ 2 ]

Einflußreich für die Theorieentwicklung in der Neuen Linken war Charles Bettelheims Analyse einer sozialistischen Warenproduktion. Bettelheim verweist bei der Diskussion von Übergangsgesellschaften auf einen grundsätzlichen Widerspruch: auf das Paradox sozialistischer Waren­produktion. In einer sozialistischen Perspektive ging es dabei um eine Aufhebung der Warenproduktion als Ausdruck kapitalistischer Ver­hält­nisse. Diese Utopie stellte sich vor, daß die Entscheidungen über Formen und Inhalte der Produktion, über die Verteilung der Arbeiten und der Produkte in einem basisdemokratischen Prozeß, nämlich durch die “assoziierten Produzenten”, getroffen werden ohne Vermittlung durch Geld und Märkte. In der sowjetischen Planwirtschaft wurde nun aller­dings nicht zufällig an Geld, Preisen und Recheneinheiten festgehalten, Bettelheim zufolge nämlich deshalb, weil es generell durch die Struktur von Produktionsprozessen, wie sie uns gegenwärtig zur Verfügung stehen, erzwungen wird. Als Folge des Widerspruchs zwischen dem “soziali­sti­schen” planerischen Moment und der “Warenproduktion” finden sich in der Sowjetunion alle möglichen Formen von Märkten und Kapitalbildung, die kaum begriffen und beeinflußt werden können.

Der Widerspruch, der dem Begriff einer sozialistischen Waren­produk­tion innewohnt, wurde auch in den Frankfurter Diskussionen von Hans-Jürgen Krahl, Alfred Schmidt, Helmut Reichelt und Hans-Georg Back­haus aufgegriffen. In ihrer Zuspitzung auf das Geldproblem als Schlüssel zum Verständnis der Marxschen Kapitaltheorie wurde die Frage, was eigentlich eine sozialistische Umwälzung der Verkehrsformen bedeuten könne, radikalisiert. So wendet sich Krahl gegen den Versuch von Ota Šik, “die genuin marxistische Lehre vom Absterben der Ware und des Geldes in der ökonomischen Transformationsperiode als eine mit dem Odium des Stalinismus behaftete unverbindliche ideelle Abstrak­tion zu diskreditieren; für Marx hingegen ist mit der durch den Austausch von Kapital und Lohnarbeit gesellschaftlich verallgemeinerten Warenproduk­tion analytisch untrennbar der Sachverhalt von Entfremdung und Verding­li­­chung verbunden, der Umstand, daß eine im Prinzip historisierte indu­stri­elle Prod uktion sich der bewußten Kontrolle durch die Produzenten mit scheinbarer Naturgewalt entzieht. Im Begriff und Dasein der Geld­form der Ware kristallisiert sich die naturwüchsige Kontingenz eines im Prinzip von den Menschen bewußt machbaren Geschichtsprozesses.” [ 3 ]

Das heißt nicht, daß man mit der Geldform schon das Kapital­verhält­nis begriffen hat, und es heißt auch nicht, daß die realsozialistischen Ökonomien deshalb, weil sie Warenproduktion und Geldwirtschaft betrei­ben, mit den westlich-kapitalistischen schlichtweg zu identifizieren sind. Gerade weil die Tradition der Neuen Linken in ihrer Auseinandersetzung mit Marx entweder den diffusen Gebrauch der Warenkategorie in der Kriti­schen Theorie mitschleppte, oder sich, wo sie sich um Präzision be­mühte, in geldtheoretische Probleme verlor, gelang es nicht, einen Begriff des kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhangs zu ent­wickeln.

Nicht zuletzt deshalb wird beim Versuch einer Analyse der ökonomi­schen Realitäten der sowjetischen Entwicklung, ebenso wie in bezug auf jeden anderen Gegenstand, auch von kritischen Linken auf ein Sam­mel­­­surium aus neoricardianischen und anderen ökonomischen Ansätzen zurück­gegriffen, wenn nicht gar die ökonomische Dimension der gesell­schaftlichen Verhältnisse zugunsten einer politizistischen Betrach­tungs­­weise ganz vernachlässigt wird.

Das prekäre Verhältnis einer politischen Betrachtungsweise ökonomi­scher Probleme zeigt sich auch bei den Vertretern der Bürokratie- und Versachlichungsthese, die einmal die sowjetische Bürokratie als wesentliches Moment einer forcierten Industrialisierung begreifen, andererseits die Versachlichung als Form bürokratischer Funktionsweise und der Industrie herausstellen (Walter Süß, Winfried Thaa). Bürokratie, in dieser Weise aufgefaßt, trifft unterschiedslos auf kapitalistische und “sozialistische” Verhältnisse zu. Unzureichend bedacht wird, daß der Bürokratisierungsprozeß bei Weber als Vollendung des kapitalistischen Strukturtypus gedacht ist. Aber dadurch kann die gesellschaftliche Funktion der Bürokratie als Ausdruck immer schon unterstellter Rationalisierungsprozesse nicht hinreichend geklärt werden.

Rudi Dutschke gab mit seinem Versuch, Lenin vom Kopf auf die Füße zu stellen, eine Erklärung des russischen Sonderweges, die diesen, anknüpfend an die These der asiatischen Produktionsweise bei Marx und die Untersuchungen von Karl August Wittfogel, als eine “halbasiatische Produktionsweise” kennzeichnet. Dieser Ansatz hätte jedoch zu klären, wieso sich trotz des Einflusses des europäischen Absolutismus und der Kapitalisierung Rußlands unter den letzten Zaren gerade die Tradition “halbasiatischer” Staatsförmigkeit als ausschlaggebende Tendenz in der Entwicklung des Sowjetstaats durchgesetzt haben soll. In der Tradition von Rosa Luxemburg ist die Jakobinismusthese formuliert worden, die auf einem Strukturvergleich der russischen mit der französischen Revo­lu­tion basiert. (Derartige historische Vergleiche finden sich in den zwanzi­ger Jahren häufig.) Sie verweist auf sozialökonomisch ähnliche Problem­stellungen und zeigt, daß die Politikmodelle analoge, d.h. gewisser­maßen radikalbürgerliche waren. Die These zielt zentral auf Analogien von Elementen aus der Jakobinischen Phase der französischen Revolution mit dem Kriegskommunismus und verknüpft staatliche Requirierungspo­litik, agrarische Versorgung und Armeeausstattung wie die dazugehöri­gen Produktionen mit einem Politikmodell zentralwirtschaftlicher Per­­spek­­­ti­ve auf der einen, atomisierter Basis auf der anderen Seite. Redu­ziert man die jakobinische Phase der UdSSR auf dieses Politikmodell, oder, ökonomisch betrachtet, auf den Kriegskommunismus, dann er­geben sich keine weiteren Probleme. Versucht man es aber als spezifische ge­sell­schaft­liche Formation zu begreifen, und genau das unterstellt der im Begriff des Jakobinismus enthaltene Vergleich, dann hätte man zu zeigen, in welche Form bürgerliche Politik und Ökonomie gerinnt und was ihre Funktion in bestimmten historischen Konstellationen auszeichnet.

Wenn in der Studentenbewegung und danach der Praxisbezug auch schon aufgrund der relativen Isoliertheit der Bewegung sich als drängend herauszustellen schien, was u.a. zum Rekurs auf positive Revolu­tions­­modelle zwang, und dieser falsche Praxisbezug zugleich auch zum Bündnis mit dem historisch Erfolgreichen führte, so war darin nicht nur eine folgenschwere funktionalistische Orientierung angelegt, sondern zugleich auch eine Verwechslung der empirischen Faktizität mit der histo­rischen Praxis.

Exekutieren diese Orientierungen nicht das, was mit dem Jakobinismusproblem verbunden ist: die polare Konstruktion von Volk und Führungseinheit, die Notwendigkeit von Plan und Verteilung? Sind eigentlich gesellschaftliche Produktionsverhältnisse begriffen, wenn sie nur als Verteilungsverhältnisse von Arbeit, Produktions- und Konsumtionsmitteln diskutiert werden? Aus der Perspektive der Organisation dieser Verteilung ergibt sich notwendig das Auseinanderfallen von Volk und Staatselite. In der Geschichte der Linken ist das Modell des Jakobinismus entweder affirmiert oder dämonisiert worden. Nicht diskutiert wurde, für welche Gesellschaften eine solche Staats- und Wirtschaftsform Attraktivität besitzt und unter welchen Bedingungen.

Sozialismus bedeutet als Anspruch immer schon die Überwindung der in der französischen Revolution vorgegebenen bürgerlichen gesellschaftlichen Formen. Daß die Sowjetunion diesem Anspruch nicht gerecht werden konnte, wußte man eigentlich von Anfang an. Heute wird ja überall in Zweifel gezogen, ob sozialistische Produktionsverhältnisse eigentlich noch eine politische Option sein können. Dies zu bejahen bedeu­tet, an einer Utopie gesellschaftlicher Verhältnisse festzuhalten, in denen individuelle Moral als Opfer überflüssig ist.

Nur wenn man davon loskommt, sei es positiv, sei es negativ, die Sowjetunion und die sozialistische Revolution zu identifizieren und fähig wird, der Oktoberrevolution ihren historischen Ort im Kontext durchaus kapitalistisch geprägter Entwicklungsprozesse zuzuweisen, hat man die Chance, Veränderungen gesellschaftlicher Verhältnisse in Richtung auf das, was einmal mit Sozialismus gemeint war, wieder neu ins Auge zu fassen. Sonst bleibt nur der dritte Weg zwischen einer mal durch mehr Markt, mal durch mehr Staat und durch mal mehr, mal weniger Mitbestimmung, allemal jedoch durch ökonomische Sachzwänge, bürgerliche Verkehrsformen und nationalstaatlich imperiale Machtstrukturen geprägten Varianten der immergleichen Gesellschaft.

Am sowjetischen Modell ist schon früh Kritik geübt worden. Sieht man von der bekannten Kritik Rosa Luxemburgs ab, so ist es vor allem die holländisch-deutsche Linke, die sie erhebt. Als sich der radikale Flügel der holländischen Sozialdemokratie 1907 abspaltete, war das Prinzip radikaler Aufklärung statt massenhafter Organisation als wichtiges strategisches Element des Marxismus proklamiert worden. [ 4 ] Anton Pannekork, Herman Gorter und Henriette Roland-Holst forcierten sehr bald die Auseinandersetzung mit Kautsky und später mit Lenin. Schon 1915 mit den Bremer Linken und der Gruppe “Lichtstrahlen” vereinigt, firmier­­te diese holländisch-deutsche Gruppe dann als “Internationale Sozialisten Deutschlands” (ISD) und ab 1918 als “Internationale Kommu­nisten Deutschlands” (IKD). An den Debatten um die Gründung der KPD be­­­tei­­­­ligt, verließ sie diese mit dem linken Flügel und gründete die “Kommu­nistische Arbeiter-Partei Deutschlands” (KAPD). Nach deren Spaltung blieb sie während der Weimarer Republik eine kleine selbständige Gruppe. In Holland vereinigte sie sich während der deutschen Besatzung mit den Trotzkisten, von denen sie sich nach dem Kriege wieder trennte.

Es war nicht so sehr ihre organisatorische Tätigkeit, die ihr Bedeutung verlieh, sondern eher eine teils propagandistische, teil theoretische Wirkung, die vor allem Gorter und Pannekoek zu verdanken ist. Zwei Thesen waren für ihre Arbeit bestimmend: Zum einen meinten sie subjek­tivistisch, daß es, zur Initiierung spontaner Massenaktionen, allein auf Avantgardepositionen ankäme. Zum anderen propagierten sie einen strikten Rätekommunismus und forderten für die Betriebsorganisationen die Macht über die Produktion.

Die erste These argumentiert von einer Hochschätzung der Subjektivität aus, des proletarischen Selbstbewußtseins, wie es bei Pannekoek und Gorter heißt. Sie wird erst verständlich vor dem Hintergrund eines philosophischen Kantianer-Marxismus, der dies Selbstbewußtsein als ethisches Postulat beinhaltet. Die zweite These ist durchaus immer noch aktuell, auch wenn sie in der einfachen Form, die sie bei den Rätekommunisten erhielt, sicher nicht mehr denkbar ist, weil die Erfahrungen mit den produzentendemokratischen Ansätzen in bezug auf die Lösung gesamtgesellschaftlicher Aufgaben die Problematik der politischen und sozialen Rahmenbedingungen deutlicher haben hervortreten lassen.

Zentraler Auseinandersetzungspunkt der rätekommunistischen Theo­re­tiker war die Kritik der Politik der kommunistischen Parteien nicht nur in ihrer stalinistischen Form, sondern auch ihrer theoretischen Grundlagen: die Theorie Lenins. Pannekoeks Schrift “Lenin als Philosoph” (1938) verwies auf den bürgerlichen Materialismus als grundlegendes Element und Basis seiner philosophischen Anschauungen. Daß sich aus dieser Konzeption materialistischer Weltanschauung auch für das Politik­verständnis Lenins Konsequenzen ergeben, war ihm evident. Der bürger­liche Materialismus impliziere ein naturalistisches Verständnis von Natur­gesetzen und damit werde ein entsprechendes Verständnis absolut notwendiger sozialer Gesetzmäßigkeiten nahegelegt. Pannekoek kritisierte hieran, daß damit das Bewußtsein verloren gehe, Naturgesetze als Regeln zur Erkenntnis bestimmter natürlicher Phänomene zu begreifen. Solches gelte auch für soziale Abläufe. Die Pannekoeksche Lenin­-Kritik gehört zwar nicht zu den ersten, wohl aber zu den wichtigsten Dokumenten einer solchen Kritik.

Paul Mattick, seinerseits von den Rätekommunisten beeinflußt und wichtigster Organisator rätekommunistischer Arbeitergruppierungen in den USA, folgte ökonomietheoretisch jedoch Henryk Grossmann. Dessen rationalistische Marx-Rezeption versuchte er mit dem rätekommunistischen Ideal zu versöhnen. Die Nachkriegsentwicklung in den USA, von einer scheinbar ungebrochenen Prosperität getragen, die damit eine Änderung der Arbeiterstrategien erforderlich machte, veranlaßte Mattick, einerseits die Vorstellung einer mixed economy als mögliches Trans­formationsmodell zu entwickeln, andererseits aber auf einen Marxismus als Minensuche zu setzen, der in mikrologischer Arbeit die winzigen Bruchstellen der Gesellschaft als Ansatzpunkte einer emanzipativen Politik auszumachen sucht.

Wenn auch die Breitenwirkung ausblieb und sich der politische Ansatz oft subjektivistisch präsentierte, zielte die Politik der Rätekommunisten doch auf eine nicht-leninistische kommunistische Praxis. Im Ansatz über den Bolschewismus hinaus (siehe die “Thesen über den Bolschewismus” von 1934), wenn auch in der Beschreibung der historischen Situation Rußlands dem Klischee der “Westler” verhaftet, schimmert die Möglichkeit einer anderen Entwicklung der Geschichte durch, als der, die sich ereignete.

Aus: Anton Pannekoek, Paul Mattick u.a.,
Marxistischer Anti-Leninismus, Freiburg: ça ira, 2. Auflage 2008, S. 7 – 17

Anmerkungen:

[ 1 ] Hans-Jürgen Krahl, Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt 1971, S. 267

[ 2 ] Vgl. André Gunder Frank, Die gegenwärtige Krise und die Perspektiven des Weltsystems, in: Jochen Blaschke (Hg), Perspektiven des Weltsystems. Materialien zu Immanuel Wal­lerstein, “Das moderne Weltsystem”, Frankfurt/New York 1983, S. 230-255

[ 3 ] Ebd., S. 268

[ 4 ] Gottfried Mergner (Hg.), Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands, Reinbek 1971

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