Gerhard Scheit – Das Ich und das Es

Das Ich und das Es

Gerhard Scheit

Die Antinomie, die bei Marx in der Kritik der politischen Ökonomie wiederkehrt, wird schließlich noch einmal und auf ganz andere Weise in der Psychoanalyse vergegenwärtigt. Sigmund Freud sprach von zwei großen Kränkungen der »naiven Eigenliebe«, die von der Menschheit im Laufe der Zeiten erduldet werden mußten. Dem kopernikanischen Weltbild und der Darwinschen Evolutionstheorie füge die Psychoanalyse nun eine dritte Kränkung hinzu – die empfindlichste, »welche dem Ich nachweisen will, daß es nicht einmal Herr ist im eigenen Hause, sondern auf kärgliche Nachrichten angewiesen bleibt von dem, was unbewußt in seinem Seelenleben vorgeht« (FGW 11: 295). Dennoch sollen die therapeutischen Bemühungen der Psychoanalyse dazu dienen, nicht nur bedeutend mehr Nachrichten über die unbewußten Vorgänge zu vermitteln, sie sollen sogar, wenn irgend möglich, das Ich zum Herrn im eigenen Haus – oder wenigstens in einigen seiner Zimmer – machen: »Ihre Absicht ist ja, das Ich zu stärken, … sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern und seine Organisation auszubauen, so daß es sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo Es war soll Ich werden. Es ist Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee.« (FGW 15: 86)

Der Psychoanalyse gelingt es, die Antinomie von Freiheit und Determination dort aufzurollen, wo sie durch das Tabu kindlicher Sexualität verdeckt geblieben war: im Innersten des Individuums. Das Determinierende ist das Vergangene, das nicht mehr zu Ändernde – die Beziehung zu Vater und Mutter; die Analyse jedoch soll dem Ich der Gegenwart Raum schaffen, Freiheit recht eigentlich möglich machen – indem es diesen Determinismus durchschauen lernt. Zu diesem Zweck läßt sie die Freiheit links liegen und trachtet jede »Neurosenwahl« auf eine »Determination« zurückzuführen (FGW 8: 442 ff.). Sie weiß, daß sie »ja die krankhaften Reaktionen nicht unmöglich machen« kann, aber ihr Ziel ist es: »dem Ich des Kranken die Freiheit schaffen, sich so oder anders zu entscheiden« (FGW 13: 280). In der Distanz, die durch die Methoden der Analyse und Therapie gegeben ist, steckt demnach – so fremd der Gedanke in Zusammenhang mit Freud auch klingen mag – eine metaphysische Spannung, die allerdings immer dann zusammenbricht, wenn das ›freie‹ Ich die Determination akzeptiert.

Diese Determination besteht nun nicht im Trieb schlechthin, als unmittelbar Naturgegebenem. Vielmehr läßt, was als solches bezeichnet wird, von seiner gesellschaftlichen Form sich durchaus nicht scheiden; so wenig es mit ihr versöhnt ist, so schwierig, zwischen beiden zu differenzieren. Festzulegen, was biologische Basis und gesellschaftlicher Überbau wäre, bleibt unmöglich wie die Auflösung der Antinomie von Freiheit und Naturgesetz. (Freud wählt nicht umsonst Begriffe wie Es, Trieb oder Libido: im Unterschied etwa zu Instinkt erlauben sie größtmögliche Unbestimmtheit; figurieren eher als Hinweis auf eine Art Energie, die erst in bestimmen Konstellationen, und nicht durch ein genau vorgegebenes Ziel, bestimmbar wird.)

Ursprünglich war Freud vom Gegensatz zwischen Bewußtsein und Unbewußtem ausgegangen, wobei die Kunst der Analyse darin entwickelt wurde, dieses Unbewußte überhaupt dem Bewußtsein zugänglich zu machen, tritt es doch zunächst nur auf bestimmten Erscheinungsebenen wie der des Traumes oder des Witzes hervor – und ist hier allein mittels Rekonstruktion bestimmter Erscheinungsweisen wie Verschiebung, Verdichtung oder Fehlleistung zu fixieren. Unmittelbar läßt sich nicht fassen, was verschoben, verdichtet, durch Fehlleistung zum Ausdruck kommt. Das Spekulative der Analyse erweist sich als unaufhebbar.

Fächert Freud später die Dualität von Bewußtsein und Unbewußtem auch weiter auf und entwirft das topische Modell aus Es, Ich und Über-Ich, und sucht damit, im Unbewußten selbst zwischen Natur und Gesellschaft, Trieb und Repression zu unterscheiden, ändert das nichts mehr an der bereits in der Traumdeutung manifesten Antinomik. Und der Begriff des Es, den Freud (vermittelt über Georg Groddeck) von Nietzsche übernommen hat, bleibt unscharf wie der des Triebs; Natürliches und Gesellschaftliches gehen derart ineinander über, daß eine klare Trennung von Natur und Gesellschaft überhaupt nicht möglich ist.

Vom »völligen Mangel einer irgendwie orientierenden Trieblehre« ist die Rede (FGW 10: 143); die Lehre von den Trieben sei ebenso das »wichtigste wie das dunkelste Element der psychologischen Forschung« geblieben (FGW 13: 35). Wenn Freud an anderer Stelle von den Trieben als dem bedeutsamsten, aber auch unfertigsten Stück der psychoanalytischen Theorie spricht (FGW 5: 67), dann schwingt noch die Hoffnung mit, die Theorie irgendwann naturwissenschaftlich vollenden zu können. Soweit er jedoch den Trieb bewußt als »Grenzbegriff des Somatischen gegen das Seelische« konzipiert, als »psychischen Repräsentanten organischer Mächte« (FGW 8: 311), wird auch etwas von der unaufhebbaren Ambiguität des Begriffs eingestanden, ja eine Art heimliche Dialektik angedeutet – eine negative, die sich des Nichtidentischen in der Identität bewußt ist.

Die Divergenz von befreiender Abstraktion und repressiver Konkretisierung, die den Kant der drei Kritiken vom Kant der anthropologischen Schriften, den Theoretiker der Freiheit von dem der Determination abhebt, kehrt auch bei Freud wieder. Dort, wo der Psychologe den Trieb als unmittelbar nicht Faßbares anerkennt, ist er auch zur Kritik der geschlechtlichen Teleologie imstande und weiß, daß gerade »das ausschließliche sexuelle Interesse des Mannes für das Weib ein der Aufklärung bedürftiges Problem und keine Selbstverständlichkeit« ist (FGW 5: 44). Zu erfassen, was normale oder natürliche Sexualität sein soll, stellt sich als Ding der Unmöglichkeit dar. So geht Freud, um sein naturwissenschaftliches Gewissen zu beruhigen von »anatomischem Hermaphroditismus« und von »einer ursprünglich bisexuellen Veranlagung« aus. Philosophisch betrachtet ist es der Versuch, das Ding an sich, den Trieb, von falschen Bestimmungen zu reinigen, der Bestimmbarkeit überhaupt zu entziehen. Damit erst konnte Freud das Potential ganz entfalten, das sich bereits in Kants Bestimmung der Geschlechtergemeinschaft vorfindet: »Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswidrigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften«. Mag auch der »Zweck, Kinder zu erzeugen und zu erziehen, … ein Zweck der Natur sein, zu welchem sie die Neigung der Geschlechter zueinander einpflanzte«, in der Frage der Geschlechtergemeinschaft gehe es um Gebrauch und Besitz von Geschlechtsorganen und Geschlechtseigenschaften. Bei Freud nun wird die Kantsche Abstraktion als Anerkennung ihrer verschiedensten Ausprägungen greifbar: »Was wir die sexuellen Perversionen heißen, die Überschreitungen der Sexualfunktion nach Körpergebiet und Sexualobjekt, davon muß man ohne Entrüstung reden können… Ein Stückchen weit, bald hier, bald dort, überschreitet jeder von uns die fürs Normale gezogenen engen Grenzen in seinem eigenen Sexualleben. Die Perversionen sind weder Bestialitäten noch Entartungen im pathetischen Sinne des Wortes.« (ebd.: 210)

Das Bestreben, wahre natürliche Bedürfnisse der Menschen von unwahren entfremdeten oder perversen zu unterscheiden, ist so aussichtslos wie repressiv. Zwischen dem, was von den Naturgesetzen vorgegeben und dem, was gesellschaftlich produziert, das heißt von den Naturgesetzen der Gesellschaft hervorgebracht ist, läßt sich keine absolute Trennlinie ziehen. Wer es dennoch tut, nimmt für sich selbst den Standpunkt Gottes oder des Staates ein, und eröffnet eine Diktatur über die Bedürfnisse. Wer diesen Standpunkt aber verneint, hat auch sonst darauf zu verzichten, den Menschen in irgendeiner Weise positiv zu bestimmen, also festzulegen, was ein Mensch ist, was den Menschen zum Menschen macht – sei‘s der aufrechte Gang, der Geist, das religiöse Bedürfnis oder eben der freie Wille. Günther Anders, Theodor W. Adorno und Ulrich Sonnemann haben diesen Verzicht, der für das Denken der größte Gewinn sein kann, explizit als »negative Anthropologie« formuliert (AGS 6: 130; Anders 1984: 129 f.; Sonnemann 1981). Soll sie jedoch nicht zur Ausrede werden für den, der sich jeden Urteils enthalten will, dann kann diese Negativität eigentlich nur im Begriff der Freiheit an sich bestehen, dessen positive Herleitung aus irgendwelchen unmittelbaren Gegebenheiten verweigert werden muß.

Wenn nun die Psychoanalyse die Begriffe entwickelt, um dem Ich noch in seiner äußersten Bedrängung und unter größtem Leidensdruck die Freiheit zu schaffen, sich so oder anders zu entscheiden, also die Freiheit, die es an sich hat, für sich aber verloren hat und für immer zu verlieren droht, ist sie hinterher zwar imstande, wiederum Gründe zu suchen, warum die Entscheidung so oder anders ausfiel – daß sie aber wirklich so oder anders ausgefallen ist, wäre darum nicht begreiflich oder auch nur begreiflicher zu machen. Und versteigt sich Psychoanalyse, im positivistischen Wahn befangen, dazu, eben dieses nicht Ableitbare abzuleiten, bestreitet sie eigentlich, daß es überhaupt die Freiheit geben kann, die sie doch schaffen möchte, und ist dann nur Vorstufe jener Hirnforschung, die den freien Willen damit erledigt glaubt, daß sie Aktivitäten der Nervenzellen mißt.

Die Antinomie wurde an keinem Punkt so deutlich wie an dem der Erklärung, die Freud für den Antisemitismus suchte. Seine Ableitungen aus Kastrationsangst und Penisneid treffen mit unglaublicher Präzision eine Schicht des Judenhasses, von der die Schulweisheit der linken Antisemitismuskritiker sich lieber nichts träumen läßt (FGW 7: 270 f.; 8: 165). Aber alle Erklärung versagte angesichts dessen, was in Deutschland und Österreich sich hervortat: 1927 schrieb darum Freud an Arnold Zweig: »In der Frage des Antisemitismus habe ich wenig Lust, Erklärungen zu suchen, verspüre eine starke Neigung, mich meinen Affekten zu überlassen, und fühle mich in der ganzen unwissenschaftlichen Einstellung bestärkt, daß die Menschen so durchschnittlich und im großen ganzen doch elendes Gesindel sind.« (Freud/Zweig 1980: 11) Die misanthropische Anwandlung konnte jedoch die Erfahrung nicht auslöschen, daß bei diesem elenden Gesindel eben noch substantiell zu unterscheiden wäre, und diese Substanz ist nichts als der Begriff der Freiheit, die der Einzelne hat – erst recht in seinem Verhältnis zu dem, was nach Freud als das fatale Ergebnis massenpsychologischer Identifikation begriffen werden muß: dem »Volk«. »Hätte ich aus den Erfahrungen vor Verdun die richtigen Schlüsse gezogen«, schrieb Freud zwei Jahre nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, »so hätte ich wissen müssen, daß man unter dem Volk nicht leben kann. Wir dachten alle, es sei der Krieg und nicht die Menschen, aber die anderen Völker haben auch Krieg gehabt und sich doch anders benommen.« (Ebd.: 121)