Stefan Breuer – Horkheimer oder Adorno: Differenzen im Paradigmakern der kritischen Theorie * Leseprobe aus ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung

Horkheimer oder Adorno: Differenzen im Paradigmakern der kritischen Theorie

Stefan Breuer

Daß die kritische Theorie keine Einheit ist, ist seit langem bekannt: auf die Unterschiede zwischen der frühen kritischen Theorie und den Arbeiten Horkheimers und Adornos seit der ’Dialektik der Aufklärung‘ hat zuletzt Jürgen Habermas in seiner ’Theorie des kommunikativen Handelns‘ noch einmal nachdrücklich hingewiesen (Habermas 1981, Bd. I, 461 ff.); andere Interpreten haben die Spaltung herausgestellt, die sich im Institut für Sozialforschung anläßlich der Faschismuskontroverse ergab (Dubiel/Söllner 1981, 8; Brunkhorst 1983, 40 ff.). Kaum thematisiert wurde bisher jedoch, daß es nicht nur Unterschiede zwischen dem frühen und dem späten Werk der kritischen Theorie gibt, sondern unterschiedliche Versionen des ’Paradigmakerns‘ selbst, die auf divergierende Theorieabsichten der beiden Hauptexponenten zurückzuführen sind: Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Damit soll weder behauptet werden, daß diese Divergenzen bewußt ausgetragen wurden, noch daß sie das gemeinsame Werk in Frage stellen: die ’Dialektik der Aufklärung‘ ist das Ergebnis einer theoretischen Allianz, die eine weitgehende Übereinstimmung der Grundüberzeugungen voraussetzt. Dennoch gehen die Diskurse Horkheimers und Adornos in dieser Übereinstimmung nicht auf; sie überschneiden sich nur in einem Teilbereich, während sie im übrigen abweichende, mitunter konträr entgegengesetzte Erkenntnisziele verfolgen. Ich möchte dies im folgenden in einem Vergleich beider Diskurse demonstrieren, der durch die Akzentuierung der Differenzen möglicherweise etwas einseitig ausfällt, dafür aber vielleicht einige Seiten der kritischen Theorie genauer ausleuchtet, als es bisher geschehen ist.

I.

1. Das Konzept der kritischen Theorie, das Horkheimer in seiner Antrittsvorlesung von 1931 formuliert, erscheint auf den ersten Blick als bemerkenswerter Fortschritt sowohl gegenüber dem orthodoxen historischen Materialismus als auch gegenüber den philosophischen Versuchen zur Wiederbelebung der Dialektik, die Anfang der zwanziger Jahre von Lukács und Korsch unternommen wurden. [ 1 ]

Horkheimer wendet sich in dieser Rede gegen den Empirismus und eine sich in Einzelfragen zersplitternde Tatsachenforschung. Er wendet sich aber auch mit mindestens ebenso starkem Nachdruck gegen eine Hypostasierung der Philosophie, wie sie im ’westlichen Marxismus‘ damals gängig war. Hatte noch Lukács erklärt, daß die Forschung die sachliche Unrichtigkeit sämtlicher Einzelaussagen von Marx nachweisen könnte, ohne daß damit doch die Richtigkeit der dialektischen Methode berührt würde, so weist Horkheimer eine derartige Immunisierungsstrategie entschieden zurück. Alle diese Totalitäten, durch welche die große Totalität – das Subjekt-Objekt – bestimmt sei, sind nach seiner Ansicht “höchst sinnleere Abstraktionen und keineswegs etwa Seelen des Wirklichen” (Horkheimer 1971, 90), jedenfalls solange, wie sie als unmittelbare Gewißheit und nicht als Aufgaben der Forschung verstanden würden. Gegenüber Lukács, der die hegelsche Kategorie der Totalität in eine von der Sache abgelöste Methode verwandelt und damit gleichsam wie eine Wertbeziehung à la Rickert traktiert, erneuert Horkheimer die Forderung des jungen Marx nach einer entmystifizierenden, vom historischempirischen Material geleiteten kritischen Theorie, die die Wirklichkeit nicht als existierende Vernunft verklärt. Anstatt die Totalität als etwas zu fassen, das durch die Wahl einer besonderen Methode jederzeit einsichtig gemacht werden könne, komme es darauf an, philosophische Theorie und einzelwissenschaftliche Praxis so zu verbinden, daß sie sich wechselseitig durchdringen und befruchten können. Als entscheidende Aufgabe des Instituts sieht Horkheimer es daher an, “aufgrund aktueller philosophischer Fragestellungen Untersuchungen zu organisieren, zu denen Philosophen, Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeitsgemeinschaft sich vereinigen”, um das bloße Nebeneinander von philosophischer Konstruktion und Empirie zu überwinden (SS, 41).

Hier wie auch an anderen Stellen geht Horkheimer also durchaus auf Distanz zu dem in ’Geschichte und Klassenbewußtsein‘ dominierenden Totalitätskonzept: der Materialismus, so verkündet er wenig später in ’Materialismus und Metaphysik’, kenne kein Wissen vom Absoluten, die Totalität gelte ihm als unerreichbar, zwischen Begriff und Sein bestehe eine unaufhebbare Spannung (KT I, 48). Gleichwohl wäre es voreilig, von dieser Distanzierung auf eine grundsätzliche Inkompatibilität der von Horkheimer und Lukács verfolgten Ziele zu schließen. Denn ungeachtet seiner Forderung nach empirischer Analyse und interdisziplinärer Forschung hält auch Horkheimer an dem von Lukács für den historischen Materialismus formulierten Ziel fest, die verdinglichten und entfremdeten Formen der gegenwärtigen Gesellschaft auf ihren menschlichen Grund zurückzuführen und “die Menschen als Produzenten ihrer gesamten Lebensformen” zu erweisen (KT II, 192). Horkheimer teilt zwar nicht Lukàcs‘ Überzeugung, daß es einen gesellschaftlich ausgezeichneten Ort gebe, von dem aus die ’wirkliche Wirklichkeit‘ gleichsam unmittelbar zu erkennen sei – den ’Standpunkt des Proletariats‘ –, doch hält er es immerhin für möglich, daß mit Hilfe der vereinten Anstrengungen von Sozialphilosophie und Einzelwissenschaften jene Gegenwartserkenntnis, die nach Lukács dem Proletariat sozusagen konstitutionell zu eigen ist, von der kritischen Wissenschaft produziert werden könne. “Die Theorie der Gesellschaft, nach der sich das vernünftige Handeln richtet, ist .. keine einfache Summation abstrakter begrifflicher Elemente, sondern der Versuch, mit Hilfe aller Einzelwissenschaften ein Bild des gesellschaftlichen Lebensprozesses nachzuzeichnen, das zur tiefgreifenden Erkenntnis des kritischen Weltzustands und der Ansatzmöglichkeiten für eine vernünftigere Ordnung führen kann” (KT I, 168).

Diese Formulierung läßt erkennen, daß Horkheimer bei aller Distanzierung vom ’westlichen Marxismus‘ letztlich das gleiche Projekt verfolgt wie jener: mit Hilfe der philosophischen Reflexion den ins Stocken geratenen revolutionären Prozeß wieder in Bewegung zu bringen und die Bewußtwerdung des revolutionären Subjekts zu fördern. Horkheimers zentrales Ziel ist keineswegs, wie er im Vorwort zum ersten Heft der ’Zeitschrift für Sozialforschung‘ verkündet, eine “Theorie des historischen Verlaufs der gegenwärtigen Epoche” schlechthin zu entwickeln, sondern eine Theorie, die ihre Methoden und Ergebnisse so organisiert, daß die Menschheit “ihre anarchische Form überwindet und sich als reales Subjekt konstituiert, das heißt durch geschichtliche Tat” (KT I, 78). Das Programm eines interdisziplinären Materialismus, das in der Antrittsrede entfaltet wird, läuft denn auch folgerichtig nicht auf eine gleichberechtigte und wechselseitige Korrekturen ermöglichende Zusammenarbeit zwischen kritischer Theorie und Einzelwissenschaften hinaus, sondern auf eine klare Hierarchie, in der die letzteren instrumentelle Funktionen für eine Sozialphilosophie haben, die “ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen” (SS, 41) ganz offensichtlich aus anderen Quellen bezieht. Trotz aller Beteuerungen, daß das Verhältnis keineswegs so gesehen werden dürfe, “als ob die Philosophie die entscheidenden Probleme behandle und dabei von Erfahrungswissenschaft unangreifbare Theorien, eigene Wirklichkeitsbegriffe, die Totalität umspannende Systeme konstruiere” (SS, 40), ist es genau dies, was Horkheimer verkündet. Der Vorsatz, den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen, psychischen und kulturellen. Entwicklungen zu erforschen, heißt es nur wenige Zeilen später, sei “nichts als eine den zur Verfügung stehenden Methoden wie dem Stand un seres Wissens angepaßtere (!) Formulierung der alten Frage nach dem Zusammenhang von besonderer Existenz und allgemeiner Vernunft, von Realität und Idee, von Leben und Geist, nur eben auf die neue Problemkonstellation bezogen” (SS, 43).

2. Was Horkheimer hier zu erwähnen vergißt, ist, daß er aus der philosophischen Tradition nicht nur die Frage, sondern auch die Antworten bezieht, und daß er dabei einer bestimmten Philosophie – dem deutschen Idealismus – zutiefst verpflichtet ist. Gewiß, es ist sehr viel von Materialismus die Rede in den Essays der dreißiger Jahre, von gesellschaftlicher Arbeit, materiellen Bedürfnissen, dem Streben nach Lust etc.; auch wird die Natur keineswegs wie bei Lukács vollständig in eine gesellschaftliche Kategorie aufgelöst, sondern als etwas irreduzibel Stoffliches anerkannt (KT I, 201; KT II, 159). Die weltgeschichtliche Rolle der Arbeit aber wird in exakt der gleichen Weise begründet wie in der idealistischen Philosophie, namentlich derjenigen Hegels. “In der Beziehung des Materials scheinbar letzter Tatsachen … auf menschliche Produktion”, schreibt Horkheimer, “stimmt die kritische Theorie der Gesellschaft mit dem deutschen Idealismus überein” (KT II, 192). Analog zu Hegel, der die Geschichte als prozessuale Selbstvermittlung eines Subjekts begreift, entdeckt auch Horkheimer in der Geschichte “ein wenn auch bewußtloses und insofern uneigentliches, jedoch tätiges Subjekt” (KT II, 149), eine “allgemeine Subjektivität”, die einem bestimmten Ziel zustrebt: dem “vernünftige(n) Zustand”, der “Gemeinschaft freier Menschen” (KT II, 152, 165, 166). Diese Intention auf vernünftige Allgemeinheit sei der menschlichen Arbeit immanent, sie verwirkliche sich im geschichtlichen Prozeß, in dessen Verlauf dem Menschen immer mächtigere Hilfsmittel zuwüchsen, die das “Ziel einer vernünftigen Gesellschaft” als immer weniger utopisch erscheinen ließen (KT II, 162, 199). Mit dem Fortgang der bürgerlichen Gesellschaft, so behauptet Horkheimer durchaus in Übereinstimmung mit Hegel und Kant, werde eine “überlegene, rationale Organisationsform der Menschheit sichtbar” (KT II, 225), die sich vor allem in der neuen Rolle manifestiere, die der Wissenschaft als Produktivkraft zukomme (KT I, l ff.). Zum erstenmal in der Geschichte sei es damit möglich geworden, “die gegenwärtige Wirtschaftsweise und die gesamte auf ihr begründete Kultur als Produkt menschlicher Arbeit (zu) erkennen, als die Organisation, die sich die Menschheit in dieser Epoche gegeben hat und zu der sie fähig war”; die Menschen könnten sich nunmehr mit diesem Ganzen identifizieren und es “als Willen und Vernunft” begreifen; “es ist ihre eigene Welt” (KT II, 156).

Ein derartig emphatischer Humanismus ist nun natürlich keineswegs reiner Hegelianismus, wie Horkheimer selbst in seiner Kritik der hegelschen Dialektik deutlich macht. Philosophiegeschichtlich gesehen handelt es sich um eine Variante des Linkshegelianismus, der mit seiner Insistenz auf der Unabgeschlossenheit der Dialektik gleichsam einen Schritt von Hegel zurück auf Kant darstellt, ohne dabei freilich Hegels Historisierung des Transzendentalsubjekts preiszugeben. Und es ist ferner ein durch Feuerbach und den jungen Marx angereicherter Linkshegelianismus, der an Stelle des Weltgeistes und der List der Vernunft die geschichtliche Aktivität selbstbewußter menschlicher Subjekte setzt. Die materialistische Dialektik, so betont Horkheimer gegen Hegel, gibt kein abgeschlossenes Bild der Realität, und sie verweigert sich jeder gedanklichen Verewigung der irdischen Verhältnisse (KT I, 145, 241).

Alle diese Modifikationen ändern jedoch nichts daran, daß Horkheimers kritische Theorie eine idealistische Theorie ist, der es in erster Linie um eines geht: um die “Ausbreitung der Vernunft”, um ihre “Anwendung auf die gesamten Verhältnisse der Gesellschaft” (KT I, 89), um die “Verwirklichung des Ideals” und die “Vereinigung von besonderem und allgemeinem Interesse” (KT I, 97), wie sie bekanntlich schon den Mittelpunkt der hegelschen Idee der Sittlichkeit bildet. Nicht der Idealismus ist nach Horkheimer zu kritisieren, sondern der unvollkommene Idealismus, der auf die Verwirklichung des Ideals verzichtet und sich vorzeitig mit der empirischen (bürgerlichen) Wirklichkeit abfindet. Der Idealismus steht für Horkheimer in keiner inneren Beziehung zur bürgerlichen Gesellschaft, er steht in innerer Beziehung zur ‚allgemeinen Subjektivität‘, die es – gerade mit Hilfe der ’Vernunft‘ – aus ihrer Bewußtlosigkeit zu befreien gilt. Horkheimer erhebt deshalb das Weiterschreiten auf der vom Idealismus vorgezeichneten Linie zur obersten Maxime der kritischen Theorie.

“Heute wird behauptet, die bürgerlichen Ideen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit hätten sich als schlecht erwiesen; aber nicht die Ideen des Bürgertums, sondern Zustände, die ihnen nicht entsprechen, haben ihre Unhaltbarkeit gezeigt. Die Losungen der Aufklärung und der Französischen Revolution haben mehr denn je ihre Gültigkeit” (KT I, 97). [ 2 ]

Die Folge dieses emphatischen Bekenntnisses zum bürgerlichen Erbe ist nun freilich, daß aus dem Diskurs des westlichen Marxismus all jene Motive herausgedrängt werden, die auf eine Analyse der inneren Verbindung zwischen diesem Erbe und der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft zielten. Hatte Lukács sich immerhin noch die Aufgabe gestellt, in der Struktur des Warenverhältnisses das ‚Urbild aller Gegenständlichkeitsformen und aller ihnen entsprechenden Formen der Subjektivität‘ auszumachen (Geschichte und Klassenbewußtsein), so findet sich bei Horkheimer davon keine Spur mehr: ihm geht es nicht um die Aufdeckung der Vermittlung, der Anwesenheit der Gesellschaftsstruktur im bürgerlichen Erbe, sondern genau umgekehrt um die Negation jeglicher Vermittlung, um die mit chirurgischer Präzision durchzuführende Herauslösung des Allgemein-Menschlichen aus dem bürgerlichen Kontext. Gewiß fällt dabei auch manches kritische Wort über das bürgerliche Erbe und die Art, wie es in der Gegenwart traktiert wird. An der Wissenschaft beispielsweise bemängelt Horkheimer die ‘chaotische Spezialisierung‘ der Fachdisziplinen sowie eine “durch die zunehmende Verfestigung der gesellschaftlichen Verhältnisse bedingte(n) Verengung ihrer Rationalität” (KT I, 3); er spricht von der “Fesselung” der Wissenschaft als Produktivkraft” (ebd. 7) und kritisiert mit Nachdruck den “falschen Idealismus … demzufolge es genügt, das Bild der Vollkommenheit hochzuhalten ohne Rücksicht darauf, wie sie zu erreichen ist” (KT II, 310). Am Bekenntnis zum “wahren Idealismus … daß es möglich sei, die Vernunft unter Menschen und Nationen heimisch zu machen” (ebd.), ändern diese Kautelen jedoch nichts: für Horkheimer ist die bürgerliche Gesellschaft durch den Widerspruch zwischen allgemein-menschlichen (d.h. vernünftigen) Strukturen einerseits und klassenmäßig-partikularen, die Vernunft verdunkelnden und irrationalen Strukturen andererseits bestimmt, wobei es Aufgabe der kritischen Theorie ist, diesen Widerspruch nach der ersten Seite hin aufzulösen. Nicht der von der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft entwickelte Rationalitätstypus steht zur Kritik, sondern seine Beschränkung durch die bürgerlichen Institutionen und Eigentumsverhältnisse. “Die Wurzel dieser Mängel aber liegt keineswegs in der Wissenschaft selbst, sondern in den gesellschaftlichen Bedingungen, die ihre Entwicklung hemmen und mit den der Wissenschaft immanenten rationalen Elementen in Konflikt geraten sind” (KT I, 4).

Vor diesem Hintergrund erweist sich die später geschriebene Kritik an der ’traditionellen Theorie‘ als weitaus weniger radikal, als häufig angenommen wird. Die traditionelle Theorie, worunter Horkheimer die modernen Naturwissenschaften und die Wissenschaftstheorie von Descartes bis Husserl und Carnap versteht, übt nach seiner Ansicht bei aller Kritik eine “positive gesellsch aftliche Funktion” aus, die sich aus ihrer Angemessenheit an ihre Aufgabe – die Naturbeherrschung – ergibt (KT II, 154). Nicht – wie noch Lukács angenommen hatte – die durch die Warenstruktur bestimmte Form der gesellschaftlichen Synthesis, sondern die formunspezifische, direkte Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur liegt nach Horkheimer den Kategorien der traditionellen Theorie zugrunde, welche deshalb genau wie die materiellen Produktionsinstrumente virtuell auch als Elemente eines “gerechteren, differenzierteren und harmonischeren kulturellen Ganzen” angesehen werden müßten und deshalb “so weit wie möglich zu entwickeln” seien (KT II, 154, 165).

Die Kritik, die Horkheimer gleichwohl an der traditionellen Theorie übt, bezieht sich also nicht auf deren logische Struktur und ihre Verklammerung mit der Struktur der kapitalistischen Gesellschaft. Sie bezieht sich ausschließlich und allein auf die Verabsolutierung der traditionellen Theorie, auf deren Übergreifen auf das Feld der regulativen, die ’vernünftige‘ Organisation der Gesamtheit betreffenden Ideen, auf die die kritische Theorie das Monopol hat. Das fetischismuskritische Argument wird von Horkheimer erst für den Augenblick ins Spiel gebracht, in dem die szientifische Rationalität die ihr gezogenen Grenzen überschreitet und dadurch den Anspruch der kritischen Theorie gefährdet, die wissenschaftliche Forschung unter die transzendentale “Idee der Selbstbestimmung des menschlichen Geschlechts” zu subsumieren (KT II, 177). Da er jedoch außerstande ist, innerhalb der traditionellen Theorie Schranken oder Widersprüche auszumachen, die eine erfolgreiche Verteidigung des Primats der kritischen Theorie in Aussicht stellten, gerät die kritische Theorie in eine ebenso ausweglose Lage wie die Phänomenologie oder Existenzialontologie, die den Vorrang der ’Lebenswelt‘ oder des ’Seins‘ nur apodiktisch behaupten konnten. Der Anspruch der kritischen Theorie, “die wirkliche Geschichte” zu erkennen und das “Interesse an der Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts” zu artikulieren (KT II, 194, 190), erschöpft sich schon in den dreißiger Jahren in Postulaten, die der Wirklichkeit von außen entgegengehalten werden.

3. Der Verfall dieses auf Deklamationen gegründeten Diskurses vollzieht sich rasch. Da der kritischen Theorie im Gegensatz zu Lukács aus subjektiven wie objektiven Gründen die Möglichkeit verstellt ist, den revolutionstheoretischen Diskurs mit der Praxis einer Partei zu verknüpfen und ihm damit wenigstens eine ideologische und bürokratische Fortdauer zu sichern, wird die Basis der Kritik von Tag zu Tag problematischer; und problematischer wird auch ihr Versuch, gleichsam in einer Radikalisierung der ,an sich‘ bereits existierenden Vernunft die Unvernunft und Ungerechtigkeit der bestehenden Appropriations- und Produktionsverhältnisse aufheben zu können. Angesichts einer durchaus nicht nur auf die ’totalitären‘ Staaten beschränkten Ausbreitung autoritärer Herrschaftsformen beginnt Horkheimer gegen Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre, seine anfangs positive Haltung zur traditionellen Theorie zu revidieren und der Frage nachzugehen, ob die Herrschaftsstruktur nicht auch in dieser selbst ihre Spuren hinterläßt. Hatte er noch 1932 in seinen ’Bemerkungen über Wissenschaft und Krise‘ die Wissenschaft zu den auf Allgemeinheit gerichteten, vorwärtstreibenden Produktivkräften gerechnet, die durch ein Partikulares – die Klassenstruktur – an ihrer vollen Entfaltung gehindert würden, so erscheint ihm die bürgerliche Rationalität nun selbst mehr und mehr als etwas Partikulares: die bürgerliche Vernunft, heißt es in ’Vernunft und Selbsterhaltung‘, sei immer schon durch die Beziehung zur individuellen Selbsterhaltung definiert gewesen, der sie in Funktion und Methode entsprochen habe (KT III, 83 f.); ihr Zweck sei immer rationellere Naturbeherrschung gewesen, die Perfektionierung der Kontrolle der Objektwelt, die sie jedoch nur durch Opfer und Triebverzicht habe bewerkstelligen können. Anstelle der globalen Affirmation der bürgerlichen Rationalität tritt deren ebenso globale Perhorreszierung, anstelle des linkshegelianischen Vertrauens in den historischen Progress eine von Nietzsche und Freud inspirierte ’Kritik der instrumentellen Vernunft‘, die im Faschismus die endlich zutage getretene Wahrheit des bürgerlichen Vernunftbegriffs sieht:

“Die neue, die faschistische Ordnung ist die Vernunft, in der Vernunft selber als Unvernunft sich enthüllt” (KT III, 113).

Bevor wir von dieser Verschiebung in Horkheimers Denken auf die Verbindung eingehen, die sich von hier aus zu Adorno ergibt, ist es erforderlich, die Kontinuität deutlich zu machen, die trotz dieser Verschiebung gewahrt bleibt. Denn obwohl Horkheimer zu Beginn der vierziger Jahre seine Rationalitätskritik zunehmend verschärft, gibt er sein positives Verhältnis zum Idealismus dabei nicht auf. Maßstab der Kritik ist und bleibt auch in seinem Spätwerk die ’Vernunft‘ – wenn auch eine Vernunft, die sich jetzt mehr und mehr aus der Gegenwart zurückzieht und ihre Kraft aus der Beschwörung der religiösen und philosophischen Tradition gewinnt. Der Begriff der ’objektiven Vernunft‘, den Horkheimer der instrumentellen Vernunft entgegensetzt, wird expressis verbis auf Denktraditionen bezogen, die – wie die Systeme von Platon und Aristoteles, die Scholastik und der deutsche Idealismus – die Vernunft nicht nur im individuellen Bewußtsein lokalisierten, “sondern auch in der objektiven Welt – in den Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen sozialen Klassen, in gesellschaftlichen Institutionen, in der Natur und ihren Manifestationen” (KT III, 121). Unter der Herrschaft dieses Vernunftbegriffes, den Horkheimer ausdrücklich auch zu Max Webers Konzept der ’materialen’ (substantiellen) Rationalität in Beziehung setzt, sei es noch möglich gewesen, den Dingen und der Natur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und das Dasein des Menschen auf. Werte wie “Demut und brüderliche Liebe, Gerechtigkeit und Humanität” zu zentrieren (KT III, 158, 147); erst die instrumentelle, ’subjektive‘ Vernunft habe mit ihrer Totalisierung der Zweckrationalität die sinnstiftende Kraft dieser Tradition zerstört und es bewirkt, daß “die religiösen Ideen, die allgemeinen Ziele überhaupt hinter den Erfordernissen der Kapitalverwertung zurückgetreten seien)” (KT II, 218).

Daß hier religiöse Ideen und allgemeine Ziele überhaupt in einem Atemzuge genannt werden, ist ein Indiz dafür, daß Horkheimer die Möglichkeit der gesellschaftlichen Kritik nicht mehr an bestimmten fundamentalen Widersprüchen der modernen Gesellschaft festzumachen vermag, sondern nurmehr am Widerspruch zwischen zwei Vernunftbegriffen, von denen der eine – die ’objektive Vernunft‘ – in vormodernen, metaphysisch-religiösen Zusammenhängen verankert wird: je radikaler die Kritik am ’geistigen Imperialismus des abstrakten Prinzips des Selbstinteresses‘ als des Grundprinzips der modernen bürgerlichen Zivilisation wird, desto stärker wird die Tendenz, Vernunft im vollen, ’objektiven‘ Sinne dieser Zivilisation ganz abzusprechen und die “Trennung der Vernunft von der Religion” zur entscheidenden Ursache für die “Krankheit der Vernunft” in der Gegenwart zu erheben (KT III, 129, 269).

Zwar bewahrt sich Horkheimer einen gewissen historischen Sinn, indem er alle Versuche, den harmonischen Zusammenhang von Wissenschaft und Theologie zu restaurieren, mit dem Hinweis ablehnt, daß der Übergang von der ’objektiven‘ zur ’subjektiven‘ Vernunft kein Zufall gewesen sei und nicht willkürlich rückgängig gemacht werden könne: “Wenn die subjektive Vernunft in Gestalt der Aufklärung die philosophische Basis von Glaubensüberzeugungen aufgelöst hat, die ein wesentlicher Bestandteil der abendländischen Kultur gewesen sind, so war sie dazu imstande, weil diese Basis sich als zu schwach erwiesen hat” (KT III, 171). Diese bemerkenswerte Einsicht aber bleibt für das Projekt einer ’Kritik der instrumentellen Vernunft‘ folgenlos, denn es ist gerade die von Horkheimer selbst als überholt bezeichnete Idee der objektiven Vernunft, um die sich seine Zivilisationskritik organisiert.

“Kants Maxime ,Der kritische Weg ist allein noch offen‘, die sich auf den Konflikt zwischen der objektiven Vernunft des rationalistischen Dogmatismus und dem subjektiven Denken des englischen Empirismus bezog, gilt treffender noch von der gegenwärtigen Situation. Da die isolierte subjektive Vernunft in unserer Zeit überall triumphiert, mit fatalen Ergebnissen, muß die Kritik notwendigerweise mehr mit dem Nachdruck auf der objektiven Vernunft geführt werden als mit dem auf Überbleibseln subjektivistischer Philosophie, deren genuine Traditionen im Licht der fortgeschrittenen Subjektivierung jetzt selbst als objektivistisch und romantisch erscheinen” (KT III, 268).

Die Linie, die eine solche Konzeption von der konservativen Kulturkritik trennt, ist dünner, als es Horkheimer bewußt geworden sein dürfte.

II.

1. Unter ganz anderen Vorzeichen formiert sich in den dreißiger Jahren Adornos Version der kritischen Theorie, die sich, unter dem Einfluß von Benjamin, zunächst noch schärfer von den Intentionen des ’westlichen Marxismus‘ abstößt als Horkheimer. Philosophie, heißt es apodiktisch in der Antrittsvorlesung, sei heute außerstande, die Totalität des Wirklichen mit Hilfe des Denkens zu ergreifen; nur in Spuren und Trümmern könne sie hoffen, der Wirklichkeit nahezukommen (GS l, 326). Das für Marx nicht weniger als für Lukàcs und Horkheimer zentrale Verfahren einer begrifflichen Rekonstruktion der Totalität ersetzt Adorno durch das nebulöse Konzept einer ’philosophischen Deutung‘, dessen Orientierung an Benjamin unverkennbar ist. [ 3 ] Philosophische Deutung, meint Adorno hier noch, versuche nicht, das Allgemeine im Besonderen auszumachen und die ’wirkliche Welt‘ hinter den Erscheinungen zu entdecken; ihr Verfahren bestehe vielmehr gerade in der Versenkung in diese Erscheinungswelt, in der Gruppierung ihrer Elemente zu Konfigurationen, die plötzlich und jäh die Wahrheit aufblitzen ließen und die “Erweckung des Chiffernhaften, Erstarrten” erlaubten (GS l, 357). Die naturgeschichtliche Methode, heißt es in der späteren ’Charakteristik Walter Benjamins‘, die durchaus als Charakteristik des eigenen Frühwerks gelesen werden kann, erlaube es

,… nicht bloß, geronnenes Leben im Versteinten – wie in der Allegorie – zu erwecken, sondern auch Lebendiges so zu betrachten, daß es längst vergangen, ’urgeschichtlich‘ sich präsentiert und jäh die Bedeutung freigibt. Philosophie eignet den Warenfetischismus sich selber zu: alles muß ihr zum Ding sich verzaubern, damit sie das Unwesen der Dinglichkeit entzaubere” (GS 10.1, 243).

Es spricht viel für die von Martin Jay entwickelte These, daß Adorno sich von diesem ’extremen Benjaminismus‘ erst allmählich befreit hat und daß dabei Horkheimers Insistenz auf einer zugleich theoretischen und empirischen Rekonstruktion der gesellschaftlichen Totalität keine geringe Rolle gespielt hat (Jay 1982).

Zwar tritt der benjaminsche Einfluß bei Adorno nie gänzlich zurück. Er bleibt wirksam in der Insistenz auf der lebendigen, ungesteuerten Erfahrung und in der korrespondierenden Abneigung, das Konzept der ’universalen Vermittlung‘ in einer systematischen Gesellschaftsanalyse auszufüllen. Dialektische Theorie, heißt es im Beitrag zum ’Positivismusstreit‘, müsse sich heute von der Systemform entfernen; und in dem Vortrag über ’Spätkapitalismus und Industriegesellschaft‘ bezweifelt Adorno gar, daß die gegenwärtige Gesellschaft noch in einer kohärenten Theorie erfaßt werden könne (GS 8, 308, 359).

Gleichwohl ist nicht zu übersehen, daß im Laufe der dreißiger Jahre in Adornos Schriften jener Gedanke immer mehr an Gewicht gewinnt, von dem er später mit Recht bemerkt, daß Benjamin ihn sich nie ganz zu eigen gemacht habe: der Gedanke der “universalen Vermittlung, der bei Hegel wie bei Marx die Totalität stiftet” (GS 10.1, 247). Die Bedeutung, die Adorno diesem Konzept zumißt, tritt in einigermaßen klarer Gestalt zum erstenmal in seiner Kritik an Benjamins Reproduktionsarbeit zutage, der Adorno ein anarchistisches Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proletariats und einen Mangel an Dialektik vorwirft – bemerkenswerterweise unter Berufung auf Lenin, einen Theoretiker, den Adorno später nie wieder positiv zitieren wird. [ 4 ] Zwei weitere wichtige Stationen sind die beiden 1936 und 1938 publizierten musikkritischen Arbeiten ’Über Jazz‘ und ,Der Fetischcharakter in der Musik‘, in denen Adorno als erster marxistischer Theoretiker nach Lukács die Möglichkeiten der Warenanalyse nutzt. Die Dechiffrierung der Archaik des Jazz als einer durch die Warenstruktur vermittelten ’zweiten Natur‘ wie auch die Ausführungen über ’Pseudoaktivität‘ und die ’Regression des Hörens‘ indizieren, daß es Adorno dabei keineswegs nur um ästhetische Phänomene im engeren Sinne geht, sondern um nicht weniger als den Ausbau der Verdinglichungstheorie zu einer Anthropologie des industriellen Kapitalismus. Die wachsende Kluft, die sich zwischen diesem Erkenntnisinteresse und Benjamins ’intentionsloser Deutung‘ öffnet, tritt nirgends deutlicher hervor als in dem vielzitierten Brief von 1938, in dem Adorno am Baudelaire-Essay kritisiert, er sei am Kreuzweg von Magie und Positivismus angesiedelt. [ 5 ]

2. Die Ablösung von Benjamin, die sich hierin abzeichnet, ist aber nicht nur, wie Martin Jay meint, eine Wendung zu Horkheimer (Jay 1982, 79); sie ist in gleichem Maße ein Schritt auch über Horkheimer hinaus zu einer selbständigen Weiterentwicklung der fetischismuskritischen Ansätze, wie sie in ’Geschichte und Klassenbewußtsein‘ enthalten sind. Während nämlich Horkheimers Totalitätsbegriff, wie wir gesehen haben, letztlich derjenige des Idealismus ist – die ,an sich‘ in der gesellschaftlichen Praxis angelegte Vernunft –, zeigt Adornos Interpretation der Warenanalyse, daß dieses Verständnis in doppelter Hinsicht fragwürdig ist. Es ist fragwürdig zum einen aufgrund der Supposition eines einheitlichen und allgemeinen Subjekts, das der bürgerlichen Erscheinungswelt zugrundeliegt und deren im Kern ’menschliches Wesen‘ garantiert. In der Figur des transzendentalen Subjekts drückt sich nach Adorno gerade nicht die “Idee der vernünftigen Gesellschaft” (KT II, 258) aus, die bloß noch der Überführung aus dem ,An sich‘ in das ,Für sich‘ bedürfte, sondern die Allgemeinheit eines gesellschaftlichen Funktionszusammenhangs, der durch das Tauschprinzip bestimmt ist. “System”, heißt es bündig in der ’Negativen Dialektik‘, “ist die negative Objektivität, nicht das positive Subjekt” (GS 6, 31). Das, was sich Adorno zufolge hinter dem Schein der Zirkulation und den ihr korrespondierenden bürgerlichen Denkformen und Ideologien verbirgt, ist nicht die weltkonstituierende Subjektivität des Idealismus (und der ’kritischen Theorie’), sondern jene negative, auf der Negation des Besonderen, des Gebrauchswerts beruhende Allgemeinheit, die Marx als abstrakte Arbeit, als ’Wert‘ dechiffriert hat. Das Wesen, lautet eine von Adorno häufig gebrauchte Paradoxie, ist deshalb vorab das Unwesen, eine Einrichtung der Welt, die alles Seiende der Herrschaft einer Realabstraktion unterwirft (GS 6, 169).

Von hier aus gelangt Adorno zu einer Kritik der linkshegelianischen Ideologiekritik, die man als direkte Antwort auf Horkheimers oben zitierte Anknüpfung an die bürgerlichen Vernunftideale interpretieren kann. In dem 1938 gehaltenen und drei Jahre später in den ’Studies in Philosophy and Social Sciences‘ veröffentlichten Vertrag über Spengler attestiert Adorno den Theoretikern der extremen Rea ktion, daß deren Kritik des Liberalismus der historisch-dialektischen in vielen Stücken überlegen sei. Die letztere habe den Liberalismus und die liberale Ideologie weithin nur als falsche Versprechung kritisiert, eben damit aber deren objektiven Gehalt verfehlt.

“They (the adherents of dialectical materialism, S.B.) did not challenge the ideas of humanity, liberty, justice as such, but merely denied the claim of our society to represent the realization of diese ideas. Though they treated the ideologies as illusions, they still found them illusions of truth itself. This lent a conciliatory splendor, if not to the existent at least to its ’objective tendencies‘. Their doctrine of the increase of societal antagonisms, or their Statements about the potential relapse into barbarism, were hardly taken seriously. Ideologies were unmasked as apologetic concealments. Yet they were rarely conceived äs powerful Instruments functioning in order to change liberal competitive society into a System of immediate oppression. Thus the question of how the existent can possibly be changed by those who are its very victims, psychologically mutilated by its impact, has very rarely been put except by dialecticians of the Hegelian tradition, such as Georg von Lukács … Above all the leftist critics failed to nptice that the ’ideas‘ themselves, in their abstract form, are not merely images of the truth that will later materialize but that they are ailing themselves, afflicted with the same injustice under which they are conceived and bound up with the world against which they are set” (Adorno 1941, 318 f.).

Adorno geht indes noch in einem anderen Punkt über die ’kritische Theorie‘ hinaus, indem er sehr viel nachdrücklicher als jene die Veränderungen im Begriff der bürgerlichen Gesellschaft thematisiert. Orientiert sich Horkheimer in seinen frühen Essays noch durchaus im orthodox-marxistischen Sinne am Widerspruch zwischen den vorwärts treibenden Elementen der geistigen und körperlichen Arbeit einerseits, den ’einengenden‘ und ’fesselnden‘ Produktionsverhältnissen andererseits, so wendet sich Adorno gerade der fortschreitenden Eliminierung dieser Differenz zu. Die negative Allgemeinheit des Wertverhältnisses, so argumentiert er, sei zwar. gegenüber dem Gebrauchswert ein ,bloß Gedachtes‘, ein Schein. “Zugleich aber ist jener Schein das Allerwirklichste, die Formel, nach der die Welt verhext ward” (GS 8, 209). Mit dieser Bestimmung knüpft Adorno an den marxschen Gedanken an, daß die durch den Wert geleistete gesellschaftliche Vermittlung der Arbeitsprodukte diesen nicht nur äußerlich bleibt, sondern mit fortschreitender Entwicklung des Kapitalverhältnisses in die Organisation der Produktion selbst einwandert. Beruhte die Produktion in der vor- und noch der frühbürgerlichen Gesellschaft im wesentlichen auf der Dominanz des Gebrauchswerts als des ,Systemtranszendenten Wertbegriffs‘ (Adorno 1974, II, 269), so ist die hochkapitalistische Gesellschaft durch die “totalitären Tendenzen der gesellschaftlichen Ordnung” (GS 8, 16) gekennzeichnet, worunter nach Adorno weniger ein politischer Vorgang als die Totalisierung der Wertvergesellschaftung zu verstehen ist. In der durchkapitalisierten Gesellschaft wird der Gebrauchswert “durch den reinen Tauschwert ersetzt, der gerade als Tauschwert die Funktion des Gebrauchswertes trügend übernimmt” (GS 14, 25). Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse gehen eine neue Synthesis ein, in der das Moment der Vermittlung klar von den letzteren bestimmt wird. Die strukturellen Differenzen zwischen Produktion, Zirkulation und Konsumtion, die im frühbürgerlichen Zeitalter unterschiedliche Sphären innerhalb der nur äußerlich durch die Geldform zusammengeschlossenen, in Wahrheit von der Produktion determinierten gesellschaftlichen Einheit bezeichneten, werden damit hinfällig.

“Materielle Produktion, Verteilung, Konsum werden gemeinsam verwaltet. Ihre Grenzen, die einmal innerhalb des Gesamtprozesses dessen aufeinander bezogene Sphäre doch auch voneinander schieden, und dadurch das qualitativ Verschiedene achteten, verfließen. Alles ist eins” (GS 8, 369).

Es wäre sicherlich einseitig, in diesen Überlegungen nur eine Rückkehr zu Marx sehen zu wollen, denn ganz offensichtlich steht der Gedanke einer Vermittlung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durchaus auch zu einigen Motiven bei Marx in Widerspruch, die auf eine unkritische Hypostasierung der Arbeit hinauslaufen. Mit Recht kritisiert Adorno, daß Marx‘ Vertrauen in den geschichtlichen Primat der Produktivkräfte allzu optimistisch gewesen sei und nur daraus erklärt werden könne, daß auch er der affirmativen Geschichtskonstruktion des deutschen Idealismus verhaftet geblieben sei (GS 8, 363). Doch diese Kritik trifft nur die ’exoterische‘ Seite der marxschen Theorie, ihren revolutionstheoretischen Überbau, der schon im ’Kapital‘ zum ’esoterischen‘ Kern in ähnlicher Spannung steht wie später bei Lukács. Indem Adorno diese Intention preisgibt, indem er zeigt, daß die Revolutionstheorie ihre Basis letztlich in der idealistischen ,Arbeitsmetaphysik‘ hat, entfernt er sich nicht nur von Marx, sondern kommt ihm zugleich nahe wie kein anderer materialistischer Theoretiker zuvor. Die ’negative Dialektik‘ öffnet den Raum für die Entfaltung der Implikationen der Werttheorie, der bis dahin durch die Dogmen der Revolutionstheorie versperrt war. Aus ihrer Perspektive wird deutlich, daß die Wahrheit des Kapitalismus nicht, wie die Revolutionstheorie angenommen hatte, in der Resurrektion einer wie immer gearteten Subjektivität besteht, sondern in der ,Negativität des Allgemeinen‘ (GS 6, 57); es wird deutlich, daß die bürgerliche Gesellschaft nicht contre coeur die Emanzipation der menschlichen Gattung betreibt, sondern vielmehr ihre eigene Aufhebung durch Totalisierung der abstrakten Gesellschaftlichkeit, die doch zugleich blinder, irrationaler Gesetzmäßigkeit unterworfen bleibt. “Kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert. Der Schein wäre auf die Formel zu bringen, daß alles gesellschaftlich Daseiende heute so vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment der Vermittlung durch seine Totalität verstellt wird … Die Verselbständigung des Systems gegenüber allen, auch den Verfügenden, hat einen Grenzwert erreicht” (GS 8, 369).

Exkurs:

Adorno begründet diese These vor allem mit seiner Theorie der Kulturindustrie, deren Umrisse bereits in den dreißiger Jahren zu erkennen sind, lange vor der ’Dialektik der Aufklärung‘ oder Horkheimers ’Vernunft und Selbsterhaltung‘, in denen manche Interpreten den entscheidenden Schritt zur Neuorientierung der Kritischen Theorie sehen wollen. Zu einer Zeit, da Horkheimer noch “die vorwärtstreibenden Elemente der Moral” (sic!) im Proletariat lokalisiert, in dem nicht nur der Wille zu vernünftigen Verhältnissen, sondern auch die psychologische Fähigkeit zu deren Verwirklichung erzeugt werde (KT I, 104), kritisiert Adorno bereits “das empirische Bewußtsein der gegenwärtigen Gesellschaft, das in Enge und Unerhelltheit, ja bis zur neurotischen Dummheit von der Klassenherrschaft zu deren Erhaltung gefördert wird” (1932, 106). In den oben erwähnten musiksoziologischen Essays, die zwischen 1936 und 1941 in der ’Zeitschrift für Sozialforschung‘ erscheinen, treibt Adorno die Theorie der Rationalisierung über die magische Schwelle hinaus, die noch bei Lukács und beim frühen Horkheimer konstitutiv für den Mythos vom Sozialismus ist, indem er sich im wesentlichen auf die Vermittlung zwischen dem herrschenden, durch Tauschwert und Kapital bestimmten Produktionsverhältnis und dem Arbeits- und Konsumtionsprozeß konzentriert. Im Gegensatz zu einem Verständnis, das die kapitalistische Gesellschaft zu einer Pluralität von Seinsschichten verdinglicht, die nur äußerlich über Geld, Recht etc. aufeinander bezogen sind (eine Auffassung, die, nebenbei bemerkt, auch der funkti onalistischen Soziologie zugrundeliegt), bringt Adorno wieder in Erinnerung, daß der von Marx beschriebene Obergang von der ’formellen‘ zur ’reellen Subsumtion‘ auch die Produktions- und Konsumtionssphäre von Grund auf verändert bzw. dem unterwirft, was er als ’falsche Synthese‘ bezeichnet: “die eines zerstörten Subjektiven mit einer es produzierenden, vernichtenden und durch Vernichtung objektivierenden Gesellschaftsmacht” (1936, 257).

Der Kapitalismus, so lautet Adornos Gedankengang, unterwirft das Individuum nicht nur mechanisierten und standardisierten Arbeitsprozessen, er zerstört durch diese Subsumtion zugleich die Bedingungen der Möglichkeit von Individualität, indem er die für die Ausbildung von Ich-Identität erforderlichen psychischen Energien verzehrt. Für das perzeptive wie auch für das soziale Verhalten außerhalb des Produktionsprozesses werden dadurch Verhaltensmuster wie Dekonzentration, Unaufmerksamkeit und Zerstreuung vorherrschend, die von der Kulturindustrie aufgenommen und weiter verstärkt werden. Die überwältigende Gewalt maschineller und repetitiver Produktionsformen erzeugt das Bedürfnis nach Entlastung und Kompensation in der sogenannten ’Freizeit‘ und koppelt jene damit unaufhebbar an ihr Gegenteil. So entsteht eine Form von Subjektivität, die zu eigentlicher ’Erfahrung‘, welche immer auch Anstrengung, Auseinandersetzung mit dem Objekt, erfordert, nicht mehr imstande ist. Die fehlenden Persönlichkeitssegmente werden durch die Kulturindustrie ersetzt, die mit einer breiten Palette von Angeboten auf das Massenbedürfnis nach sinnvoller Tätigkeit, Spontaneität und Unmittelbarkeit reagiert. Da diese jedoch ihrerseits das Ergebnis einer standardisierten und nivellierten Produktion sind, wird das Bedürfnis, das sie befriedigen sollen, zugleich betrogen: die Aktivitäten im Kontext der Kulturindustrie sind ’Pseudo-Aktivitäten‘ wie die Do-it-yourself-Mode; die Individualität, die sich herausbildet, ist ’Pseudo-Individualität‘, deren innerstes Geheimnis in der steten Erneuerung des Bedürfnisses nach dem Immergleichen besteht. Konsumtion nimmt damit unter hochkapitalistischen Bedingungen den Charakter von Sucht an, während in der Produktion die Herstellung von Surrogaten immer größere Bedeutung gewinnt. [ 6 ]

3. Die hier skizzierte, auf eine Radikalisierung der marxschen Theorie zielende Argumentation wird nun allerdings von Adorno nicht konsequent durchgeführt. Sie wird vielmehr überlagert von einem zweiten, geschichtsphilosophischen Diskurs, der sich ebenfalls bis in die Frühschriften zurückverfolgen läßt und der, wie ich meine, die Bedingung der Möglichkeit der theoretischen Allianz mit Horkheimer ist. Schon im Kierkegaard-Buch ist die um die Fetischismusproblematik zentrierte Analyse des Idealismus mit einer Kritikfigur verbunden, die statt auf die gesellschaftliche Formbestimmtheit des Denkens auf eine vorgesellschaftliche Konstellation zielt: das Verhältnis zwischen ’Geist‘ und ’Natur‘. In einer Argumentation, die neben dem Einfluß Benjamins deutlich denjenigen Freuds erkennen läßt, mit dem Adorno sich bereits in der ursprünglich als Habilitationsschrift konzipierten Studie über den ’Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre‘ auseinandergesetzt hat, kritisiert Adorno den Idealismus als “historisches Trauerspiel mythischen Denkens” – als den gescheiterten Versuch des Geistes, sich durch Opfer und Entsagung dem Naturzusammenhang zu entreißen: die ,,Selbstherrlichkeit des Geistes”, der sich als Schöpfer inthronisiere und zum Absoluten erhebe, so meint Adorno schon hier, sei ein bloßer Schein, da er “in Natur um so tiefer einstürzt, je höher er ihr zu entragen vermeint” (GS 2, 153, 83 f.). Ein ähnlicher Gedanke findet sich in den ’Fragmenten über Wagner’, die die ’Einheit von Naturbeherrschung und Naturverfallenheit‘ als Grundidee des ’Rings des Nibelungen‘ herausstellen (vgl. Adorno 1939, 33).

Was hier nur erst in aphoristischer Form aufblitzt, wird in den folgenden Jahren zu einer geschichtsphilosophischen Konstruktion ausgebaut, die die fetischismuskritischen Elemente überdeckt und bisweilen verdrängt. In den postum publizierten ’Reflexionen zur Klassentheorie‘ von 1942, die man als Beitrag zu den im Institut für Sozialforschung geführten Diskussionen über den ’Autoritären Staat‘ lesen muß, nimmt Adorno Horkheimers und Pollocks Thesen über die ’Liquidation der Ökonomie‘ und den Primat der Politik auf und verdichtet sie zu einer Revision der marxschen Theorie. Nicht die immanente Gesetzlichkeit der auf den Tausch gegründeten kapitalistischen Gesellschaft, so meint er, habe den autoritären Staat herbeigeführt,

“sondern die alte Herrschaft war in die ökonomische Apparatur zuzeiten eingegangen, um sie, einmal in voller Verfügung darüber, zu zerschlagen und sich das Leben zu erleichtern. In solcher Abschaffung der Klassen kommt die Klassenherrschaft zu sich selber. Die Geschichte ist, nach dem Bilde der letzten ökonomischen Phase, die Geschichte von Monopolen. Nach dem Bilde der manifesten Usurpation, die von den einträchtigen Führern von Kapital und Arbeit heute verübt wird, ist sie die Geschichte von Banden kämpfen, Gangs und Rackets” (GS 8, 381).

In diesen Ausführungen tritt eine vollständig andere Sicht des historischen Prozesses zutage, als sie bei Marx oder im klassischen Marxismus zu finden ist. Hatte Marx für die vorkapitalistischen Gesellschaften streng zwischen Produktion und Herrschaft unterschieden und erst für die bürgerliche Gesellschaft ein Eindringen der Appropriationsverhältnisse in den Produktionsprozeß angenommen (ein Vorgang, der freilich seinerseits erst durch die Versachlichung der Herrschaft im Kapitalverhältnis ermöglicht wurde), so ebnet Adorno diese Differenzierung ein: schon die Produktion als solche erscheint ihm nun als Herrschaft und die bürgerliche Gesellschaft nur als Potenzierung dieses ursprünglichen Herrschaftsverhältnisses, dessen Entwicklung in gerader Linie “von der Steinschleuder zur Megabombe” geführt haben soll (GS 6, 314). Folgerichtig verlagert sich die Kritik von der tauschwertsetzenden auf die gebrauchswertsetzende Arbeit, die, weil sie auf Aneignung und Formung des Natürlichen beruht, all jene Gewalt und Unterdrückung gleichsam in nuce enthalten soll, die auch für die gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander charakteristisch sind. Die gesamte Praxis der Selbsterhaltung und des auf sie bezogenen Denkens verfällt dem Verdikt. Produktion und Herrschaft, Macht und Erkenntnis sind der ’Negativen Dialektik‘ zufolge synonym, und dies nicht erst aufgrund ihrer Verflechtung mit einer bestimmten Form der gesellschaftlichen Synthesis, sondern aufgrund ihres innersten Prinzips, der Identität, das “noch vor aller gesellschaftlicher Kontrolle, vor aller Anpassung an Herrschaftsverhältnisse” (GS 6, 232) allein durch seine bloße Form Gewalt ausübt.

Mit dieser Konzeption, die die Realabstraktionen der Tauschwertproduktion nur noch als Fortsetzung des schon in der Gebrauchswertproduktion wirksamen Gewaltverhältnisses zu fassen vermag, nähert Adorno die kritische Theorie der von ihm sonst so energisch befehdeten naturalistischen und irrationalistischen Kultur- und Zivilisationskritik bis zur Ununterscheidbarkeit an. [ 7 ] Nicht anders als für Nietzsche oder Freud, die Geschichte nur sub specie aeternitatis zu denken vermochten – als ’ewige Wiederkehr des Gleichen‘, als Permanenz der ’archaischen Erbschaft‘ – erscheint für Adorno (wie auch für Horkheimer) die Geschichte als Fortwirken eines Ursprungs, als “Erbschaft der Gewalt” (GS 11, 179); und nicht anders als der bürgerliche Materialismus und Biologismus verankert Adorno diesen Ursprung letztlich in der Natur. In der Einleitung zum ’Positivismusstreit‘ findet sich der Satz, daß zugunsten der ’sakrosankten Theorie‘ – gemeint ist vermutlich der histo rische Materialismus – keineswegs die Möglichkeit zu exorzieren sei, “daß der soziale Zwang tierisch-biologisches Erbe sei; der ausweglose Bann der Tierwelt reproduziert sich in der brutalen Herrschaft stets noch naturgeschichtlicher Gesellschaft” (GS 8, 349); und parallel heißt es in der ’Negativen Dialektik‘:

“Menschliche Geschichte, die fortschreitender Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur, Fressen und Gefressen werden, fort” (GS 6, 348).

Zwar setzt sich Adorno von darwinistischen Folgerungen aus diesem Obersatz sogleich ab, indem er versichert, daß daraus nicht apologetisch auf die Unabänderlichkeit von Zwang zu schließen sei. Indessen bleibt es bei der bloßen Versicherung, da die fetischismuskritische Dechiffrierung des ’naturgeschichtlichen‘ Charakters der Gesellschaft als eines sozial erzeugten ’Scheins‘ immer wieder von dem konträren Bestreben durchkreuzt wird, die Ursachen der ’furchtbaren Verstrickung‘ der Menschheit in einem Naturverhältnis zu lokalisieren (vgl. 1974, II, 188). In der ’Negativen Dialektik‘ beispielsweise wird, in krassem Widerspruch zu sonst geäußerten Ansichten, das idealistische Denken auf ein ’anthropologisches Schema‘ zurückgeführt und der Erkenntnistheorie attestiert, sie habe ihre “Urgeschichte im Vorgeistigen, dem animalischen Leben der Gattung” (GS 6, 33); die Rationalität der identifizierenden Vernunft, heißt es weiter unten, sei “geschichtlich diktiert vom Bedrohlichen der Natur” (174). An einer anderen Stelle wird dieser Gedanke zwar wiederum mit einem Fragezeichen versehen, indem Adorno Spekulationen darüber, “ob der Antagonismus im Ursprung menschlicher Gesellschaft, ein Stück prolongierter Naturgeschichte, als Prinzip homo homini lupus ererbt oder erst thesei geworden sei”, für “nicht müßig” erklärt. Die Alternative aber, die er präsentiert, ist nicht weniger unzulänglich als die ’naturgeschichtliche‘ Erklärung: der Rekurs auf ’archaische Willkürakte von Machtergreifung‘ ist so mystifizierend und spekulativ wie Nietzsches Erörterungen über die Genealogie der Moral. Für eine materialistische Analyse der Formen des Denkens und der Vergesellschaftung ist in diesem Diskurs, nach dem alles durch eine ’irrationale Katastrophe in den Anfängen‘ entschieden ist, kein Raum (vgl. GS 6, 315 ff.). Eine Geschichtstheorie allein aus der Perspektive von Auschwitz ist so unhaltbar wie eine solche, die darin nur einen Betriebsunfall zu sehen vermag.

III.

Seit die kritische Theorie zum Gegenstand historischer Analysen geworden ist, hat sich als communis opinio die Vorstellung von der institutionellen wie kognitiven Führungsrolle Horkheimers im ’Institut für Sozialforschung‘ durchgesetzt (vgl. Schmidt 1970; Jay 1976; Dubiel 1978). Dies sicherlich nicht ganz zu Unrecht: denn in der Tat ging von Horkheimer ein weit über die Herstellung der äußeren organisatorischen Rahmenbedingungen hinausreichender inhaltlicher Einfluß aus, ohne den die kritische Theorie nicht denkbar wäre. Es war Horkheimer, der mit seiner Anknüpfung an Kant und Hegel den Diskurs Marcuses von seinen existenzphilosophischen Anfängen ablenkte und zu einer positiven Rezeption der idealistischen Philosophie führte. Es war Horkheimer, der der Psychoanalyse, wie sie vor allem durch Erich Fromm vertreten wurde, einen zentralen Platz in der Arbeit des Instituts verschaffte; und von Horkheimer stammten schließlich auch die ideologiekritischen Leitgedanken, die Löwenthal am literaturwissenschaftlichen Material erprobte. Wie in einer Gesellschaftsformation unterschiedliche Produktionsweisen durch eine dominierende Produktionsweise zusammengeschlossen werden, die die ’allgemeine Beleuchtung‘ bildet, ’worein alle übrigen Farben getaucht sind‘ (Marx), so bildete auch die kritische Theorie eine diskursive Formation, die ihre Gestalt von einem theoretischen Zentrum – den Aufsätzen Horkheimers – erhielt.

Der Einfluß dieses Zentrums darf auch für Adorno nicht unterschätzt werden. Auf Horkheimer gehen wichtige Topoi wie etwa die Thesen über den Untergang der Zirkulationssphäre und das Ende des bürgerlichen Individuums zurück; auf Horkheimer verweisen zentrale Gedanken der ’Fragmente über Wagner‘, die deutlich an ’Egoismus und Freiheitsbewegung‘ anknüpfen [ 8 ] ; und horkheimerscher Herkunft sind wohl auch die Stellen, an denen Adorno – in Widerspruch zu seiner sonstigen Auffassung – auf die uneingelösten Versprechen der bürgerlichen Philosophie rekurriert. Daß Adorno seit Beginn der vierziger Jahre dem Begriff der ’Herrschaft‘ einen prominenten Rang in seinen Überlegungen zuweist, dürfte ebenfalls in engem Zusammenhang mit dem Diskussionsprozeß des Instituts stehen, der von Horkheimers und Pollocks Thesen über einen neuen Primat der Politik geprägt war. Obwohl sich bei Adorno dieses Motiv früher als bei Horkheimer findet, scheint doch erst Horkheimers Wendung zu einer Theorie des autoritären Staates, die sich seit dem Montaigne-Aufsatz abzeichnet, eine systematische Reflexion in diese Richtung ausgelöst zu haben. Die ’Reflexionen zur Klassentheorie‘ sind jedenfalls ohne Horkheimers Studien über ’Die Juden und Europa‘, ’Autoritärer Staat‘ und ’Vernunft und Selbsterhaltung‘ nicht zu denken.

Trotz dieses unbestreitbaren Einflusses, den Horkheimer auf Adorno ausgeübt hat, dürfte zweierlei deutlich geworden sein. Erstens: Adornos theoretische Entwicklung verläuft kontinuierlicher, fast wie eine Bestätigung der von Benjamin anläßlich des Kierkegaard-Buches geäußerten Vermutung, daß aus diesem Buch einmal die späteren des Verfassers entspringen würden (Benjamin 1972, 383). Beide Argumentationsstränge, die wir für Adorno herausgearbeitet haben – die wertformanalytische Kritik der ’reinen Vergesellschaftung‘ und der durch sie erzeugten ’zweiten Natur‘ und die urgeschichtlichen Annahmen über das Identitätsprinzip – sind hier bereits angedeutet, noch bevor die kritische Theorie in ihrer horkheimerschen Version Gestalt angenommen hat. Zu der schon in Adornos Frühwerk formulierten Kritik des Idealismus vermag sich Horkheimer erst Anfang der vierziger Jahre durchzuringen, und auch dies nur mit großen Reserven und ohne jemals das fetischismuskritische Argument aufzunehmen. In Horkheimers oeuvre bedeutet die Kritik an der bürgerlichen Rationalität einen Bruch, während sie bei Adorno nur den Ausbau einer bereits vorhandenen Position darstellt.

Zweitens: Wägt man die Elemente ab, die beide Autoren in die kritische Theorie eingebracht haben, so erscheint Adornos Beitrag im heutigen Lichte anschlußfähiger. Obgleich Horkheimer der kritischen Theorie wichtige Impulse gegeben hat, ist sein Denken doch bis ins Spätwerk hinein durch eine so große Nähe zum Idealismus gekennzeichnet, daß ihm grundlegende Einsichten in die Formbestimmtheit des Denkens und der Vergesellschaftung verstellt bleiben. Weil Horkheimer im Idealismus nicht die Reflexionsform einer abstrakten Gesellschaft, sondern den Vorschein der Wahrheit sieht, diesen aber immer weniger mit der Realität vermitteln kann, gerät er in eine defensive Position, die am Ende kaum noch von derjenigen der spätbürgerlichen Kulturkritik zu unterscheiden ist. Die diagnostischen Fähigkeiten der kritischen Theorie werden zunehmend von einer Haltung verdrängt, die der Philosophie die Aufgabe zuweist, “das Eingedenken und Gewissen der Menschheit”, mit anderen Worten: Religionsersatz, zu sein (KT III, 278). In Horkheimers Spätwerk erfährt man folgerichtig mehr über die Erbsünde, die Wahrheit der Theologie und die Aktualität Schopenhauers als über die Architektonik der modernen Gesellschaft.

In ganz anderer Weise hat Adorno die kritische Theorie für Erfahrung und Diagnose offengehalten – vielleicht weil in ihm selbst etwas von jener Haltung des Sammlers und ’Naturhistorikers‘ steckte, die er an Benjamin rühmte. So hemmend und theoretisch ste ril seine ungeschichtliche Geschichtsphilosophie auch war, sie vermochte ihn doch nicht daran zu hindern, sich in einer Weise auf Theorien, Kunstwerke oder Phänomene der Kulturindustrie einzulassen, die in der kritischen Theorie ohne Beispiel ist. Kein Werk Horkheimers oder Marcuses weist eine ähnliche Intensität der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand auf wie die Studien über Husserl oder Heidegger in der ’Metakritik der Erkenntnistheorie‘ und der ’Negativen Dialektik‘; kein Beitrag aus dem Institut über Massenkultur eine solch bohrende analytische Schärfe wie die ’Philosophie der neuen Musik‘ oder die Untersuchungen über Okkultismus, Fernsehen oder Film, deren Bedeutung für eine Anthropologie des industriellen Zeitalters noch kaum erkannt ist. Während bei Horkheimer mit den revolutionären Hoffnungen auch die diagnostische Kapazität der kritischen Theorie schwindet, zeigt Adorno, daß die Zukunft der kritischen Theorie nicht im Rückstieg über “verlassene Stufen der Reflexion” besteht (Habermas 1968, 9), sondern in ihrer Öffnung auf die Gegenwart – auch auf die Gefahr hin, daß diese Öffnung ihre überlieferten Kategorien und Begriffe mit heillosen Paradoxien konfrontiert.

Aus: Ders., Aspekte totaler Vergesellschaftung, Freiburg: ça ira 1985, S. 15 – 33

Literatur

  1. Im Text mit Abkürzung zitierte Arbeiten von Horkheimer und Adorno
    • SS Max Horkheimer: Sozialphilosophische Studien. Aufsätze, Reden und Vortrage 1930– 1972, hrsg. von Werner Brede, Frankfurt 1972
    • KT I. II ders.: Kritische Theorie. Eine Dokumentation. Hrsg. von Alfred Schmidt. 2 Bde. Frankfurt 1968
    • KT III ders.: Kritische Theorie der Gesellschaft, Bd. III. hrsg. vom Marxismus-Kollektiv, o.O. 1968
    • 1971 ders.: Hegel und das Problem der Metaphysik, in: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie und andere Aufsätze, Frankfurt
    • GS Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt 1970 ff.
    • 1 Philosophische Frühschriften (1973)
    • 2 Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen (1979)
    • 8 Soziologische Schriften I (1972)
    • 10 Kulturkritik und Gesellschaft, 2 Bde. (1977)
    • 11 Noten zur Literatur (1974)
    • 12 Philosophie der neuen Musik (1975)
    • 13 Die musikalischen Monographien (1971)
    • 14 Dissonanzen. Einleitung in die Musiksoziologie (1973)
    • 1932 Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. l, S. 103-124, 356-378
    • 1936 Über Jazz, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 5, S. 235-259
    • 1939 Fragmente über Wagner, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Bd. 8, S. 1-49
    • 1941 Spengler Today, in: Zeitschrift für Sozialforschurig, Bd. 9, S. 305-325
    • 1974 Philosophische Terminologie, Bd. II, Frankfurt
  2. Sonstige Literatur
    • Bonß, Wolfgang/Schindler, Norbert 1982: Kritische Theorie als interdisziplinärer Marxismus, in: W. Bonß/A. Honneth (Hrsg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt: Suhrkamp, 31-66
    • Brunkhorst, Hauke 1983: Paradigmakern und Theoriendynamik der Kritischen Theorie der Gesellschaft, in: Soziale Welt 3/1983, 22-56
    • Breuer, Stefan 1977: Die Krise der Revolutionstheorie, Frankfurt: Syndikat
    • ders. 1982: Die Depotenzierung der Kritischen Theorie. Über J. Habermas1 ’Theorie des kommunikativen Handelns’, in: Leviathan l, 132-146
    • Buck-Morss, Susan 1977: The Origin of Negative Dialectics, Hassox/Sussex
    • Benjamin, Walter 1972 u. 1974: Gesammelte Schriften, Bd. 1.3, Bd. III. Frankfurt: Suhrkamp
    • Dubiel, Helmut 1978: Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt: Suhrkamp
    • ders./Söllner, Alfons (Hrsg.) 1981: Max Horkheimer u.a., Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus, Frankfurt: Europäische Verlagsanstalt
    • Habermas, Jürgen 1968: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt: Suhrkamp
    • ders. 1981: Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde.. Frankfurt: Suhrkamp
    • Jay, Martin 1976: Dialektische Phantasie. Frankfurt: S. Fischer
    • ders. 1982: Positive und negative Totalität. Adornos Alternativentwurf zur interdisziplinären Forschung, in: Bonß/Honneth, a.a.O.. 67-86
    • Migdal, Ute 1981: Die Frühgeschichte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, Frankfurt: Campus 1981
    • Schmidt. Alfred 1970: Die ’Zeitschrift für Sozialforschung‘. Geschichte und gegenwärtige Bedeutung. München: Kösel

Anmerkungen

[ 1 ] Zum theoriegeschichtlichen Hintergrund der Antrittsrede vgl. Dubiel 1978; Migdal 1981; Bonß/Schindler 1982; zu den Beziehungen zwischen kritischer Theorie und ‚westlichem Marxismus‘ vgl. Breuer 1977, 60 ff.; Brunkhorst 1983. 25 ff.

[ 2 ] Daß es Horkheimer um eine Radikalisierung des Idealismus geht und nicht um dessen Kritik, geht auch deutlich aus einem Brief hervor, den er am 20.9.1937 an Pollock richtet. “Die unangenehmste Entdeckung, zu welcher der Materialismus führt, ist der Umstand, daß die Vernunft nur existiert, insofern sie ein natürliches Subjekt hinter sich hat… Die Rückwirkung auf das Subjekt ist nie so stark und nachhaltig, daß es den Charakter der Natürlichkeit verlöre. Es kommt also nie zu jener berühmten Identität, von der der Idealismus lebt. Wir müssen freilich versuchen, sie soweit wie möglich herzustellen” (zit. n. Dubiel 1978, 69. Hervorh. von mir, S.B.). Dies ist exakt jene ’Revolution der Vernunft‘, wie sie im Vormärz Bruno Bauer u. a. vorschwebte, die die hegelsche Versöhnung von Vernunft und Wirklichkeit aufbrachen und durch den ’Terrorismus der wahren Theorie‘ (Bauer) ersetzten. – Adorno hat in einer späteren Bemerkung über den Linkshegelianismus wohl den Autonomieanspruch der Theorie gegenüber der Praxis verteidigt, ohne damit aber die identitätsphilosophischen Intentionen zu übernehmen: vgl. GS 6, 146 f.

[ 3 ] Zum Verhältnis Adorno-Benjamin vgl. grundlegend: Buck-Morss 1977

[ 4 ] Vgl. Adorno an Benjamin, 18.3.1936, in: Benjamin 1974, Bd. 1.3, 1000 ff.

[ 5 ] Vgl. Adorno an Benjamin, 10.11.1938, in: Benjamin 1974, Bd. 1.3, 1096

[ 6 ] Vgl. GS 14, 37 ff.; als eine Form von Pseudo-Aktivität hat Adorno später auch die studentische Protestbewegung interpretiert: vgl. GS 10.2, 786 f.

[ 7 ] Vgl. dazu die berechtigte Kritik von Habermas 1981, Bd. l, 516f. Daß die besten Argumente gegen diese Wendung bei Adorno selbst zu finden sind, wird von Habermas freilich beharrlich übersehen: vgl. Breuer 1982

[ 8 ] Vgl. Adorno 1939, 3. Im Vorwort zur Ausgabe von 1964 betont Adorno selbst die enge Verbindung zwischen beiden Arbeiten: vgl. GS 13, 9

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