Ilse Bindseil – Briefe an Christiane Ensslin

“Wichtig ist für mich schon, daß ich auf der richtigen Seite stehe”

Briefe an Christiane

Ilse Bindseil

Daß der Empfänger die an ihn gerichteten Briefe inspiriert hat, ist keineswegs so besonders, wie man im ersten Moment annehmen könnte. Bei einem Großteil der Briefe, die im vordefinierten Rahmen dessen geschrieben wurden, was man heute als ‘Briefkultur’ bezeichnet, handelt es sich vermutlich um genau jene Mischung aus Referat und Reflexion, die das Konstruktionsprinzip der folgenden Briefe sind. Freilich fehlen die Erwiderungen, die die Austauschform erkennbar machen würden. Aber nicht einmal das ist literarhistorisch etwas Besonderes, ja vielleicht trifft der Eindruck zu, daß die einseitig aufbewahrten Briefe vor den regulären Briefwechseln häufig den Vorzug größerer Konsistenz haben, tritt doch der Leser an die Stelle des Briefpartners und sorgt mit seiner Anstrengung und Identifikation für den roten Faden der Reflexion, den empirische Briefpartner schon gelegentlich aus dem Auge verlieren.

Auch dies, daß Briefe nicht viel mehr als die Aufzeichnung stattgehabter Unterhaltungen darstellen, ist nicht eben neu. Wer kennt nicht den erst allmählich wieder abebbenden ‘Briefboom’, den die seltenen Treffen erprobter Briefpartner auslösen, die im Grunde erst zufrieden sind, wenn sie ins gewohnt abstrakte Austauschmedium zurücküberführen können, was sie im ungewohnten ‘Clinch’ der lebendigen Personen geäußert haben? Hat lediglich eine der ‘Parteien’ das Gesprochene aufgeschrieben, dann ist es nur recht und billig, wenn sie ihre Aufzeichnungen der anderen mit der Bitte um Vervollständigung und Kritik vorlegt, handelt es sich doch nicht mehr bloß um eine briefliche Meinungsäußerung, sondern um ein Dokument. Das ist hier in aller, das heißt wiederholter Form geschehen. Wenn die vorliegenden Dokumente gleichwohl ihren ursprünglichen Briefcharakter behalten haben auch wenn es absurd scheinen mag, daß der Empfänger die an ihn gerichtete Post redigiert –, so deshalb, weil der private Ausgangspunkt des mühseligen Reflexionsprozesses nicht ‘wegredigiert’ werden sollte. An der Adressatin liegt es, wenn am Text kaum mehr als die Briefform noch den irrationalen, um nicht zu sagen halluzinativen Auslöser verrät, wird doch vor ihrer kämpferischen Autonomie, ihrer auf Alltag erpichten, entschlossenen Resignation jeder Versuch einer schwärmerischen Psychologisierung der RAF oder einer Mythologisierung ihrer eigenen unerschrockenen Person zunichte.

18.2.

Liebe Christiane,

gestern kam ich in die Verlegenheit, erklären zu müssen, was es mit der Studentenbewegung auf sich hatte. Ein Jahr nach dem Streiksemester und nach UniMut wurde mir die Frage von einem ausländischen Studenten gestellt. In einer entsprechend rücksichtslosen Weise war der Ausgangspunkt unserer Überlegungen die Gegenwart:

Warum habt ihr in den sechziger Jahren eigentlich demonstriert, wenn es ohnehin keine Chance für eine ernsthafte Veränderung gab?

Meine Erklärungen waren so eng und dunkel wie der Fußgängertunnel, durch den wir zur Gaststätte am Fürstenbrunner Weg gelangt waren, wo unsere Unterhaltung stattfand; denn auch ich lebe in der Gegenwart, und mein Verhältnis zur Vergangenheit ist irgendwie verkatert.

Was willst du, sagte ich: Nachahmungswut, – wenn in Berkeley gewaltloser Widerstand, Campusrevolte, probiert wurde, warum nicht auch bei uns? – das Erbe des Existentialismus, Peer-group-Verhalten von der schlimmen, barbarischen Art; wie habe ich die beneidet, die zu friedfertig waren, um den Geltungsstreit mitmachen zu können, und wie dumm kamen sie mir vor, weil sie nicht begriffen, daß man da durchmußte, ob es dem eigenen Naturell entsprach oder nicht!

Im Zusammenstücken der Erklärungen fing ich an, mich vor meiner Sprachlosigkeit, meiner Vergeltungswut, meinem scheinheiligen Zynismus zu grausen.

Das mußten wir doch erst herauskriegen, daß es keine Chance gab, sagte ich wütend und erzählte die todtraurige Geschichte von den diktaturmüden Portugiesen, denen dreißig Jahre nach dem Untergang der spanischen Republik beigebogen wurde, daß die Westflanke der NATO noch lange nicht machen kann, was sie will. Vom Schahbesuch in Berlin erzählte ich und wie wir die Dritte Welt entdeckt hatten und daß die BRD keineswegs autonom, sondern eine Kolonie der USA war.

Dann war ich übersprunghaft beim 2. Mai 68 und dabei gelandet, daß in Paris der Staat einen Tag lang auf der Kippe gestanden hatte.

Hier hatten wir lachen müssen; denn wo gibt’s denn so was, daß der Staat auf der Kippe steht, und was sollten die Studenten mit der Macht anfangen, wo sie doch bloß studieren und Kinderarzt werden wollten?

Deshalb gab es keine ernsthafte Chance der Veränderung, sagte ich, weil die Revoluzzer nie aufgehört haben, die Staatselite zu sein. Studienstiftung des deutschen Volkes undsoweiter.

Mein Student hatte noch nie davon gehört.

Sich selbst, als Elite, sagte ich, hätten sie abschaffen müssen. Dann hätten sie eine Chance gehabt.

Und warum haben nicht die anderen, die Unterdrückten, die Revolte gemacht? fragte mein Student, der selbst eher zu den Unterdrückten gehört.

Weil es eben keine ernsthafte Chance der Veränderung gab, sagte ich, böse, daß er das ausgerechnet mich fragte, wo ich doch hätte ihn fragen müssen, warum sie keine Revolte machten.

Verstehst du, hatte ich hinzugefügt, ein wenig schuldbewußt wegen der altklugen Tautologie, wenn die Unterdrückten sich nicht zur Wehr setzen, dann bedeutet das nichts anderes, als daß es eben keine ernsthafte Chance gibt. Denn sonst würden sie sich ja zur Wehr setzen! Man muß versuchen, objektiv zu denken, mit sollen und müssen kommt man nicht weiter.

Wer weiß, hatte ich, kurz bevor wir wieder durch den unsäglichen Tunnel marschiert waren, hinzugesetzt – ich fand mich unerträglich lehrerhaft, dabei hätte ich so gern etwas Vernünftiges gesagt –, vielleicht ist am Modus der Unterdrückung etwas faul. Vielleicht liegt es am Zusammenspiel von universaler Knechtschaft und individuell empfundener Autonomie! Vielleicht ist dieses Zusammenspiel gleichbedeutend mit dem Fehlen einer Chance der Veränderung. Vielleicht können wir deshalb alle nicht aus unserer Haut.

***

Ich fürchte, Christiane, Du erkennst Dich in diesem anakoluthischen, von alten Ressentiments und aktuellen Selbstzweifeln angenagten Bild von Studentenbewegung und APO nicht wieder. Weißt Du noch, wie ich Dich gefragt habe, auf welchem konkreten Platz Du damals gestanden und sei’s auf die APO hinunter-, sei’s über sie hinweg-, sei’s zu ihr hinübergeguckt bzw. Dich in der von mir beschriebenen widersprüchlichen Weise mit ihr eins gefühlt hast? Ich war ein wenig pikiert, weil ich merkte, die Studentenbewegung, die Konkurrenz, jene unbeschreiblich eklige Mischung aus Abwehr und Koketterie, dieses kindische Bedürfnis, zugleich der Feind und das Lieblingskind des Staats zu sein – “Prinz Friedrich von Homburg”, gegeben 1968 im nachfaschistischen Staat –, das war nie Dein Problem. Ich genierte mich wegen meiner unbefangenen, meiner dummdreisten Annahme, daß es um 68 nichts anderes und nichts Wichtigeres gegeben haben sollte als die Identitätsprobleme der Studenten. Heute, nachdem ich mich gründlich geschämt habe, denke ich, Deine Nichtbetroffenheit und meine Desillusion, sie sind der Grund, warum wir uns, neugierig auf die Voraussetzungen und Erfahrungen der jeweils anderen, zu einem gemeinsamen Projekt zusammengefunden haben. Daß sich gerade beim Thema RAF das Ausgangsverhältnis in diametraler Weise umdreht und Du die beileibe nicht bloß biographisch Betroffene bist, während ich äußerste Mühe habe, d ie RAF nicht nur als Projektionsfeld, als wehrloses Objekt meiner eigenen überbordenden Konstruktionen, meines wie immer wahnhaften Bedürfnisses nach gesellschaftlichem Sinn und Zusammenhang zu mißbrauchen, verunklart die Situation und nicht zuletzt das ‘Kräfteverhältnis’ natürlich enorm, mag im Endeffekt aber die schlichte Voraussetzung dafür sein, daß wir überhaupt etwas Wichtiges in Erfahrung bringen.

21.2.90

Auf dem Weg zurück durch die Kleingärten am Ufer der Spree hatte ich noch erzählt, was aus der Revolte geworden war, das heißt, wie sie sich liquidiert bzw. wohinein sie sich fortgesetzt hatte: KP-Organisationen, Friedensbewegung, Grüne, RAF. Ich war der Rationalisierungen und halben Wahrheiten müde. Warum sollte ich die theoretische Verantwortung, das Konstruieren, für etwas übernehmen, was doch einfach weitergegangen war?

Ich gestand, daß ich selbst mich in keine der Nachfolgeorganisationen der APO hinein ‘fortgesetzt’, sondern versucht hatte, an dem festzuhalten, was wir damals den ‘Anspruch’ der Studentenbewegung nannten. Natürlich mußte dieses Festhalten in einer Situation, wo die Studentenrevolte in ihre Liquidationsphase ging und ihre vielgerügte Abstraktheit sei’s durch schamlosen Uni-Akademismus bzw. sektiererischen KP-Dogmatismus, sei’s durch theologisch gefärbten Pazifismus oder durch sprachlosen Aktionismus ersetzte, als harthöriges Auf-der-Stelle-Treten, Musterbeispiel elitärer Verstocktheit, erscheinen. Mir kam es wie eine höchst stürmische Bewegung vor, und das wird nicht zuletzt an der Gegenrichtung zum Zeitgeist gelegen haben: empfand ich die ungenierte Verbürgerlichung der Studenten – sie, die doch immer Bürger gewesen waren! – doch als unerwartet zynisch und als besonders zynisch die nicht nur halluzinative Umdeutung, sondern tatsächlich erfolgte Transformation der elitären Revolte in eine bürgerliche Massenbewegung.

Wenn jemand zu diesem Umwandlungsprozeß der APO den Gegenpol gebildet hat, dann die RAF. So sehr sie nämlich bei aller Inkommensurabilität als die bloß andere, nicht weniger bürgerliche, nicht weniger ‘immanente’ Seite der bürgerlichen Protestbewegungen eingeordnet und verurteilt werden konnte – als die sprachlose, hermetische, konspirative, kriminelle Variante der offenen, kommunikationsfreudigen, am Machbaren orientierten alternativen Bewegungen nämlich –, so sehr hat sie sich dieser Einordnung und Verurteilung zugleich entzogen. In ihrer vielgerügten ‘blinden’, ‘menschenfeindlichen’ Praxis, ihrem unversöhnlichen Nein zum bürgerlichen Staat, das ein in aller Abstraktheit praktisches Nein war, steckte eine regulative Idee, ein Maßstab noch für die theoretische Kritik. Du hast dafür den Begriff der Nichtkäuflichkeit verwendet. Tatsächlich hat die Nichtkäuflichkeit der RAF eine kriterielle Funktion, markiert sie doch den historischen Punkt, wo die APO sich anschickte, sich kaufen zu lassen: Bürger in die Initiativen, Grüne ins Parlament, koalitionsfähig sein, mehrheitsfähig sein, eigenes Geld haben, eine gute, das heißt eigene Presse haben, Netzwerk, Ökobank, TAZ! Diese Situation war von einer erleichterten Aufbruchsstimmung geprägt, wie sie nur durch die Bereitschaft zur Anpassung, zur Überwindung der gesellschaftlichen Außenseiterrolle, durch Aufgeben von Widerständen, gesellschaftliche Aufwandsersparnis entsteht. Dagegen verkörperte die RAF den Bruch. Mit der instinktiven Logik des geborenen Staatsfeindes – so erschien es in der damaligen Situation, in der es nur Spielverderber, keinen Widerstand gab – brach sie die Brücken zur friedfertigen Massenbewegung, das heißt mehrheitssüchtigen Bürgerbewegung, ab, bekannte, indem sie vor der Vernichtung von Menschenleben nicht zurückscheute, daß sie sich auf Humanismus, ‘Licht der Aufklärung’, als gemeinsamer Basis aller fortschrittlichen Bürger nicht vereidigen ließ, und machte mit jeder ihrer Taten, ihrer Äußerungen hinreichend deutlich, daß sie bei ihren Aktionen, ihrer Strategie eins nicht mehr eingeplante: Umkehr, Versöhnung.

Wie konnte es kommen, daß in der Bundesrepublik die Tugend der Nichtkäuflichkeit ein so mörderisches Aussehen annahm (annehmen mußte, oder kennst Du noch andere Gruppen, Christiane, Gruppen, nicht einzelne, die in ebenso radikaler, aber dennoch nicht mörderischer Weise nicht käuflich waren?)

10.3.

Mir ist noch etwas zum Begriff der Nichtkäuflichkeit eingefallen, wenn es auch, wie Du am Datum erkennen kannst, eine Weile gedauert hat. Erinnerst Du Dich noch, wie Du mißtrauisch gewesen bist, was meine Integrität, meine Fähigkeit ineins zur Diskretion und Kooperation angeht? Wobei erst dieses Ineins für Dich den hinreichenden Begriff von Kooperation ergibt. Ich war ein wenig schockiert und fühlte mich ertappt, wenn ich auch nicht wußte, wobei; denn daß ich indiskret sein konnte, das lag sozusagen außerhalb meiner Reichweite, dazu fühlte ich mich allein schon aus Gründen mangelnder Prominenz gar nicht imstande. Spieltest Du etwa auf die Rolle an, die ich in den 68ern als besseres APO-Anhängsel gespielt hatte, innerlich zwar voller Autonomiebedürfnisse, das heißt voller Vorbehalte und Ressentiments, äußerlich ein Mitläufer, wie ihn in der Reinkultur eines zugleich theoretischen und libidinösen Abhängigkeitsverhältnisses damals vielleicht nur eine Frau ‘darstellen’ konnte? Wußtest Du vielleicht, daß ich, als die Demonstrationen ihre militante Wendung nahmen, die flinkesten Beine von allen hatte? Fandst Du es nicht richtig, daß ich mich über die RAF äußern wollte, wo ich doch nie einen Stein in die Hand genommen hatte?

Ich glaube, Du machst Dir völlig falsche Vorstellungen von mir, sagte ich hilflos.

Komm mich zu Hause besuchen, sagte ich – aber da warst Du schon fast wieder abgereist –, selbst völlig im ungewissen, was ich Dir mit meinem Zuhause eigentlich beweisen wollte, aber ebenso sicher, wenn Du es sehen würdest, würdest Du sofort begreifen, daß ich zum Verrat gar nicht imstande war, und zwar aus objektiven, nicht bei mir liegenden Gründen.

Du hast bloß gelacht; wenn Dir etwas beigebogen, wenn an Dir etwas exemplifiziert, an Dir etwas statuiert worden ist, dann vermutlich genau dies jederzeit mögliche Umschlagen von privatester in öffentliche Existenz.

Ich habe nicht gewußt, wie ich Deine Bedenken ausräumen sollte.

Du machst Dir ja keine Vorstellung, wie privat ich lebe, sagte ich lahm, im Aussprechen schon von der Unsinnigkeit dieses Satzes überzeugt, wütend über mich selbst, daß ich Dich wieder nicht überzeugt hatte, und peinlich berührt, weil ich im Grunde selbst nicht wußte, warum Du mir vertrauen solltest – dabei war ich, in diesem Punkt wenigstens, meiner ganz sicher!

Die Unterhaltung wurde dann chaotisch, das heißt allgemein, und meine Gedanken konnten endlich in Ruhe und ohne strenge Aufsicht spazieren. Schließlich platzte ich heraus (Du erinnerst Dich, da hatten wir schon etwas getrunken, und die Gespräche gingen über unsere Köpfe hinweg):

Nichtkäuflichkeit, sagte ich – erleichtert, daß ich ihn doch herausgefunden hatte, den Grund, warum Du mir vertrauen konntest – , wenn Du Dich auf meine Nichtkäuflichkeit verlassen kannst, dann deshalb, weil ich unverkäuflich bin!

Wir haben beide gelacht, während die Wogen der Unterhaltung über uns zusammenschlugen, und dann haben wir nicht mehr darüber gesprochen.

Heute nacht, gut vier Wochen später, hat mein Hinterkopf den Gedanken wieder herausgegeben, und mein Vorderkopf hat sich mit ihm beschäftigen können. Ich denke, eines der wesentlichen Charakteristika der RAF ist, daß sie, gerade weil sie nicht käuflich waren, zugleich das repräsentierten, was man um’s Leben gern – als BILD-Story, Traumware – gekauft hätte. In ihrer heroischen Individualität, dem von ihnen verkörperten Zugleich von Avantgarde und Außenseiter, Scene-Star und Underdog, der von ihnen vorgeführten Wanderung auf dem schmalen und eigentlic h gar nicht vorhandenen Grat zwischen tagtraumhafter Reklameexistenz und praktischer Solidarität, singulärer Prominenz und stellvertretender Kollektivität repräsentierten sie – um es einmal so drastisch wie ominös zu formulieren – medialen Gebrauchswert, verkörperten sie ein mediales Glücksversprechen und signalisierten damit – wieder einmal! – die Überwindung der Aporien der modernen Mediengesellschaft: die Möglichkeit eines haltbaren, nicht oder doch wenigstens nicht so schnell abnutzbaren Scheins!

Über die Empirie dieser These bin ich mir nicht im klaren; Du hast schon recht, Christiane, hier besteht aus den schon explizierten Gründen ein Übermaß an Konstruktion. Zweifellos stammt das Urteil aus dem nachhinein: Ohne Boris Becker – samt seiner ‘intimen’ Beziehung zur Hafenstraße! –, das heißt ohne die Empirie von Medienschöpfungen, die sich selbst als solche verstehen, wäre es niemals zustande gekommen. Was die RAF selbst betrifft, so ist die Frage der historischen Reihenfolge vielleicht sogar egal. Ich erinnere mich noch gut, daß sie einen, wie die Medienwissenschaft es nennt, hohen Identifikationswert hatten, jedenfalls für eine Gruppe von Intellektuellen, die weit mehr umfaßte als das, was die Polizei das ‘sympathisierende Umfeld’ nannte. Wie geschmeichelt waren unsere Professoren, als sie den Kaufhausbrandstiftern via Gutachten den Kunstwert ihrer Flugblattaufrufe bescheinigen durften, und wie geschmeichelt waren wir, daß wir ihnen bei der Formulierung auch noch helfen durften, waren wir den verehrten Kriminellen nach Alter und Karriere doch näher als sie. Sicher scheint mir, daß die RAF einen, um in der Fachsprache zu bleiben, unbestreitbaren Kurswert hatte – und zwar als heroisches Scene-Individuum wie Ulrike Meinhof, als Bande-à-Bonnot-Typ wie Andreas Baader, als ‘hartes deutsches Gretchen aus dem schwäbischen Pfarrershaus’, als ‘verlorener Professorensohn’ wie Georg von Rauch, den sie hier gleich um die Ecke, in der Eisenacher Straße, erschossen, oder als kinderlieber Sozialpädagoge wie Jan-Carl Raspe, dessen pädagogische Diplomarbeit über die Kommune 2 [ 1 ] heute noch – wie sagt man? – lesenswert ist, Hauptsache, er selbst ist tot. Und ebenso sicher scheint mir, daß das, was in der heutigen Mediengesellschaft der Begriff des Identifikations- oder Kurswerts bedeutet, sich erst im medialen Umgang mit den einzelnen Personen und der Gruppe der RAF zu seiner vollen Wirklichkeit herausgebildet hat. Ohne die jahrelang geübte, wahrhaft harte Praxis der Blocküberschriftsbildung der BILD-Zeitung, an der ich buchstäblich bloß im Vorbeigehen teilgenommen habe, wäre ich heute weder dazu in der Lage noch dazu verurteilt, die eben angedeuteten Epitheta der RAF-Angehörigen einfach so aus dem Ärmel zu schütteln!

Nicht Käuflichkeit also, sondern – wie soll ich es bezeichnen? – ein gewisser Appeal zeichnete die RAF aus, und dieser Appeal erweckte in den vielen, die an ihrem Schicksal teilnahmen, den Wunsch, sich mit ihnen zu identifizieren, und in den Institutionen, die berufsmäßig den Kontakt zwischen ihnen und den vielen Identifikationsbegierigen vermittelten, den Wunsch, sie zu kaufen. Ich will jetzt nicht frivol und akademisch über seine Charakteristika spekulieren, über die möglicherweise warenförmige Abstraktheit der RAF usw. Wichtiger scheint es mir festzuhalten, daß die RAF nicht nur in heroischer Weise auf ihrer Nichtkäuflichkeit bestanden hat, sondern gleichzeitig auch in besonderer Weise auf dieses Thema fixiert und auf die Darstellung ihrer Nichtkäuflichkeit angewiesen war. “Helden und Märtyrer” [ 2 ]: Worauf sonst soll man in der totalisierten Warengesellschaft fixiert sein, welche Beschwörungsformel soll man – wie heißt es in der Sklavenhaltersprache? – gebetsmühlenhaft vor sich hinsprechen, wenn nicht dies: Ich bin nicht käuflich!? Aus diesem ebenso heroischen wie zwanghaften Verhältnis resultiert aber, denke ich, die merkwürdige Tatsache, daß die RAF der Versuchung, sich kaufen zu lassen, einerseits immer gleichgültig gegenübergestanden hat, daß sie sich andererseits aber an der Herausarbeitung der Käuflichkeitskategorien zugleich wesentlich beteiligte, daß sie dank ihrer spektakulären Immunität gegen Kaufangebote ein Heros der Warengesellschaft und ein Symptom der Mediengesellschaft war.

13.3.90

Eins muß man ihnen zugute halten, hast Du zwischen Tür und Angel gesagt, daß sie nicht käuflich waren!

Ich sage Dir, Christiane, die Nichtkäuflichkeit war ihre fixe Idee!

Versuch mal, den negativen durch einen positiven Begriff zu ersetzen – mach die Probe darauf, und Du wirst sehen, das geht nicht. Oder willst Du sagen: Eins muß man ihnen zugute halten, daß sie integer waren? Du wirst mir zugeben, daß geht nicht. Sie waren nicht integer, wenn sie auch kein bißchen korrupt waren. Sie waren unbestechlich – ein negatives Wort! –, und sie haben “Schluß gemacht mit jedwedem Opportunismus” [ 3 ]. Aber sie waren alles andere als integer, weil nämlich ‘integer’ außerhalb der liberalen, großbürgerlichen Kaufmannssphäre, in der der Begriff zu Hause ist, keinen Sinn ergibt. Nur an dem kann man Integrität rühmen, der dank seiner Einbindung ins ökonomische System ebensogut korrupt sein könnte. Wer aber gar nicht korrupt sein kann, der kann auch nicht integer sein. Nicht käuflich, ja, unbestechlich – in dem Sinn, daß sie sich nicht den Blick trüben, sich ihre Feindschaft nicht abkaufen, vor allem sich als Gruppe durch scheinheilige Reintegrationsangebote nicht spalten ließen –, aber nicht integer!

Wir haben ihre Unbestechlichkeit zu spüren bekommen: in ihren brüsken Hilfeersuchen, die samt und sonders von der “wenn/dann”-Konstruktion lebten, genauer: der “wenn nicht … dann”-Konstruktion, der “wenn-nicht-dann-bist-Du-gekauft”-Konstruktion. Ich glaube nicht, daß diese Konstruktion auch nur ein einziges Mal verfehlt hat, wenigstens die beabsichtigten Schuldgefühle zu wecken. Oder wo sie sie nicht geweckt hat, da hat sich jemand wirklich zu seiner Käuflichkeit bekannt. Es war, als gäbe es keine Alternative; so als bekämen sie in jedem Fall recht, und genauso war es auch!

Heute sehe ich die Sache gelassener an, habe ich doch die Erfahrung meiner Unverkäuflichkeit gemacht und bin durchaus nicht mehr bereit, mir den Vorwurf einer beständigen latenten, leichtfertigen Kumpanei mit der Bundesrepublik gefallen zu lassen. Mit dem Verdacht der Käuflichkeit kann man mich nicht mehr schrecken.

Damals schreckte mich der Gedanke schon: Protesthaltung und innere Kumpanei, das war eine schauerliche Symbiose! Dagegen hat niemand – seit Bestehen der Bundesrepublik niemand – zum demokratisierten, entnazifizierten, liberalisierten deutschen Staat eine unversöhnlichere Haltung eingenommen, niemand die Forderung einer solchen Haltung unversöhnlicher aufs Tapet gebracht und zugleich die praktischen Möglichkeiten einer solchen Haltung unversöhnlicher ventiliert als die RAF. Von niemand anderem hätte man sie also lernen können als von ihr – wenn man aufs Lernen angewiesen war, und ich behaupte allerdings, daß die APO der ihr immanenten Widersprüche als einer bürgerlichen Revolte wegen unendlich lernbedürftig war. Von ihr hätte sie lernen können – sie, die APO, von der RAF! –, wie man die eigene grenzenlose innere Anpassungsbereitschaft durch faktische Unversöhnlichkeit der Nichtigkeit eines bloßen Charakterumstands überführt. Gerade dadurch, daß sie sich einem im Grunde hochabstrakten, auf die Kumpanei mit dem Staat, nicht auf die Bedingungen seines Funktionierens gerichteten Kampf verschrieb, hätte man den eigenen blinden Fleck, das Moment von Kumpanei am laut vorgetragenen Protest, in den Blick bekommen können. Sie, die RAF, ist in exakt er Weise die Gelegenheit dazu gewesen. Tatsächlich haben die letzten Jahre wenig mehr vermittelt als eine ihrerseits exakte Vorstellung davon, wie sehr die Gelegenheit verpaßt wurde.

16.3.90

Es ist sicherlich unsinnig, alles unter der Betroffenheitskategorie abhandeln zu wollen, nach dem Motto: die RAF und ich. Freilich kommt es mir vor, als hätte ich einen riesigen Berg stummen sprachlosen Widerstands – nach Art des “Es fällt mir nichts ein” – abgetragen und könnte nun zum ersten Mal eine von Amnesie bedrohte oder vielmehr heimgesuchte Geschichte, ein Stück 68er Geschichte oder eher die Geschichte meiner Entfremdung oder Emanzipation von den 68ern überdenken. Wenn sich eine solche Gelegenheit ergibt – und als Gelegenheit erweist sie sich durch das plötzliche Aufheben der Amnesie! –, dann fragt man nicht ‘politisch’ nach der Opportunität des Zeitpunkts, allenfalls – psychoanalytisch –, wie bedeutsam der Zugang zum verschütteten Reflexionsmaterial ist, den die Gelegenheit gewährt.

Wie merkwürdig allerdings – angesichts der nationalen Wiedervereinigungseuphorie – der Zeitpunkt ist, darauf wurde ich erst aufmerksam, als eine Freundin mich auf die mediale Behandlung oder vielmehr Nichtbehandlung des fehlgeschlagenen Kiechle-Attentats hinwies. “Niemand will etwas davon wissen”, sagte sie lachend, “und Du willst ‘mal richtig über die RAF nachdenken’!”

Für einen Moment fand ich es selbst merkwürdig, im unangenehmen Sinn, was bedeutet, daß das Thema an den Haaren herbeigezogen ist. Für einen Moment hatte sich das Omnipotenzgefühl, das kindliche Mittelpunktsgefühl – dieses Gefühl ‘wenn ich über die RAF nachdenke, dann wird es schon der richtige Zeitpunkt sein’ – verflüchtigt. Die Frage stellen: Warum denke ich eigentlich über die RAF nach, während sich alle über die DDR freuen? bedeutete ja nicht mehr und nicht weniger, als dem Verdacht Raum zu geben: Bin ich mit meiner Geschichte noch relevant, bin ich überhaupt noch vorhanden?

Unter dem Druck dieses Verdachts, der ja nichts anderes als ein Reflex meiner Entfremdung von der Bundesrepublik ist – die sich über die DDR freut, während ich mit Nachdenken über die RAF beschäftigt bin –, habe ich noch einmal versucht, Ordnung in meine Gedanken zu bringen.

Mir hat schon immer geschwant, daß die Theorie – und das heißt zugleich die strenge Enthaltung gegenüber jeder Art von bundesrepublikanischer politischer Praxis – die einzige Alternative zum Bombenbauen ist. Terrorismus und Theorie kommen darin überein – und deshalb müssen sie in gewissem Maß auch füreinander einstehen können –, daß sie sich gegenüber jeglicher Form bundesrepublikanischer politischer Praxis verweigern. Ich denke, es ist albern, abwägen zu wollen, ob die terroristische Praxis der RAF noch abstrakter ist als die politische Theorie. Wichtiger ist, daß die politische Theorie, die zur Praxis ja schon allein deshalb ein weniger abstraktes Verhältnis haben kann und – will sie nicht puren Unsinn schwatzen –, haben muß, weil sie von ihr ja sowieso prinzipiell ausgeschlossen ist, daß also die politische Theorie von dem ebenso abstrakten wie unbestechlichen Standpunkt des politischen Terrorismus sich nicht als als eine in Wirklichkeit höchst praktikable Form von Kumpanei zu erkennen geben darf; denn das wäre ihr Todesurteil. Diese Probe aufs Exempel ist in der Tat nicht weniger penibel und für die politische Theorie nicht weniger riskant als umgekehrt das Urteilsverfahren, das die Theorie über die vermeintliche Praxis des politischen Terrorismus anstrengt. Letztere ist in Wirklichkeit so abstrakt, das heißt einerseits Reflex, unselbständige Tat, und andererseits unvermittelter ‘Gedanke’, bloßes Signal, wie erstere in Wahrheit zumeist nicht abstrakt genug, das heißt doch heimlich involviert, im Kern ideologisch, zum Zweck der Beschönigung angestrengt worden ist. Die Sünde der politischen Theorie aber wiegt schwerer; denn unter der Prämisse, daß ihre Verhandlungsform eh abstrakt ist, darf sie in punkto Bestechlichkeit auf keine Nachsicht rechnen. Die politische terroristische Praxis dagegen, in Ermangelung einer solchen ‘Spielwiese’ und im übrigen, was politische Praxis betrifft, ohne Vorbild und Präzedenz, muß und ‘darf’ sich notgedrungen irren. Müßte sie es nicht, ich vermute, wir müßten nicht über die RAF, sondern könnten beispielsweise über eine ernstzunehmende sozialistische Bewegung reden.

20.7.

Erinnerst Du Dich, was ich Dir im letzten Brief schrieb? “‘Alle reden über die DDR’, sagte meine Freundin zu mir, ‘und Du willst über die RAF nachdenken.’”

Inzwischen hat die Wirklichkeit sich wieder mal als weniger simpel herausgestellt, als es den Anschein gehabt hatte. Während “alle über die DDR redeten”, hat diese “über die RAF nachgedacht”: Mit tatkräftiger Unterstützung der Fahndungsplakate, die hier dank unendlicher Gewöhnung schon niemand mehr sah, die in der DDR als ‘Westware’ aber auf offene Augen und auf eine einsatzbereite Intelligenz, das heißt auf eine noch ungetrübte Kollaborationsbereitschaft, eine spontane Funktionslust, stießen, haben DDR-Bürger die seit Jahren in ihrer Mitte lebenden ehemaligen RAF-Mitglieder identifiziert. Das Paradox ist Wirklichkeit geworden: “Reden über die DDR” und “Nachdenken über die RAF” haben sich als ein Thema herausgestellt. Wenn es nur jemanden zum Nachdenken angeregt hätte!

Worüber könnte man nachdenken?

Darüber zum Beispiel, daß, um mehrere Jahre unerkannt in der DDR-Provinz existieren zu können, mehr erforderlich war als Stasi-Unterstützung auf der einen, eine wie immer formelle Absage an die RAF auf der anderen Seite, nämlich ein wirkliches Arrangement mit dem grauen Alltag, dem erzwungenen Spießertum in der DDR: nicht nur Abkehr vom Terrorismus, sondern radikale Entpolitisierung war vor dem 9. November gefragt. Die Übereinstimmung zwischen dem spezifischen Tarninteresse der ehemaligen RAF-Mitglieder und dem ‘normalen’, in Wirklichkeit überaus monströsen Lebensinteresse der DDR-Bürger hat ja darin ihren Grund, daß nur unter Bedingungen einer radikalen Entpolitisierung die DDR-spezifische Politisierung als Dauerzustand zu ertragen war. Aber was ist, wenn eine exzeptionelle, durch exzeptionelle Gefahr motivierte und auf exzeptionellen Verzicht gegründete Tarnstrategie sich zugleich als die normalste, von jedem bereitwillig praktizierte Gangart erweist? Ja wenn es eine exzeptionelle Strategie bleiben könnte! Wenn man sich im fremden Land des politischen Aktionismus enthalten muß, nun gut, dafür ist man früher Aktionist gewesen, und dafür sind im fremden Land eben andere aktionistisch am Werk. Was aber, wenn diese Askese, dieser nur als radikale Entfremdung wahrnehmbare Verzicht das allgemeine Milieu repräsentiert? Wie muß man gebaut oder vielmehr zugerichtet sein, um eine solche offensichtlich eben nicht bloß taktische, sondern unmittelbare, jeder ernstzunehmenden Distanz entratende Wirklichkeit über mehrere Jahre zu ertragen?

Worüber könnte man noch nachdenken, Christiane?

Darüber zum Beispiel, daß in einem wiedervereinigten Deutschland die alten Themen offenbar nicht erledigt sind, weder die “Anteile” der leider gar nicht so schweigsamen bundesrepublikanischen Mehrheit “an der Geschichte des bundesdeutschen Terrorismus” [ 4 ] noch das Versäumnis einer “wirklichen Entnazifizierung” – und zwar in beiden deutschen Staaten –, ohne das es Deiner Ansicht nach “keine RAF” gegeben hätte. [ 5 ] Wenn die Stasi-Hilfe für die RAF-Aussteiger in den Medien von BRD und DDR dazu herhalten muß, die wirklichen Stasi-Verbrechen “unter den Teppich zu kehren” [ 6 ], so ist dies ein signifikanter Hinweis darauf, wie das wiedervereinigte Deutschland mit den ihm gebliebenen Problemen umgehen wird. Diese nu r zu bekannte Umgangsform, praktiziert im noch unvertrauten Kontext eines erweiterten und vereinheitlichten deutschen Machtbereichs, das ist etwas, wovor jeder ehrliche Bürger sich rechtzeitig fürchten sollte.

Anmerkungen

[ 1 ] Jan Raspe, Zur Sozialisation proletarischer Kinder, Frankfurt a. M., 1972.
[ 2 ] Christiane Ensslin, Alle Kreter lügen, in: Der blinde Fleck … Frankfurt a.M. 1987, S. 86-97, darin S. 88
[ 3 ] Christiane Ensslin in der Fernsehsendung “Frauen – Maria Heiderscheidt im Gespräch mit Christiane Ensslin”, gesendet am 27.8.1987 im 3. Programm des SFB; daraus auch der Titel dieses Beitrags.
[ 4 ] Christiane Ensslin und Klaus Jünschke, Offener Brief an Hans-Jochen Vogel und Otto Schily. Abgedruckt in der TAZ vom 22.6.1990.
[ 5 ] Aus einem Radiointerview mit Gesine Strempel, das am 26.6.1990 in der Sendung “Zeitpunkte” im SFB 3 gesendet wurde.
[ 6 ] ebd.

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