Joachim Bruhn: Vom Antizionismus zum Antisemitismus

Joachim Bruhn

Vom Antizionismus zum Antisemitismus

Der Zionismus ist eine falsche Antwort auf den Antisemitismus. Er war jedoch die historisch einzig angemessene.

Alle reden von “Zionismus” statt vom israelischen Nationalismus. Was ist, vor dem Hintergrund eines materialistischen Begriffs der Nation, von Zionismus und Antizionismus zu halten? Und warum ist die Behauptung richtig, daß der Antizionismus nur die Erscheinungsform des Antisemitismus von links darstellt?

I. Staatskritik statt Antizionismus

Was die Uno auf Druck des arabischen und sowjetischen Lagers 1975 als das “rassistische Wesen des Zionismus” verurteilte, ist das Wesen von Staatlichkeit schlechthin: Homogenität und Homogenisierung der Individuen zum Staatsvolk und zum Material von Herrschaft. Der Antizionismus hingegen zeigt ein ebenso merkwürdiges wie doch aufschlußreiches Desinteresse an diesem einzigartigen Vorgang der Konstitution einer bürgerlichen Staatsgewalt ex nihilo, an einem Fall nachholender Staatlichkeit mithin, der in der Geschichte ohne Beispiel ist. Die Gründung Israels vollzog wie im Zeitraffer jenen in Europa zweihundertjährigen Prozeß der ursprünglichen Akkumulation an der einheimischen arabischen Bevölkerung nach, ohne allerdings die im Zuge der Kapitalisierung der Agrarwirtschaft erfolgte Freisetzung der agrarischen Subsistenzproduzenten durch die Industrie kompensieren zu wollen. Die Gründung Israels erscheint den bürgerlichen Philosemiten deshalb als das reinste Wunder und den linken Antizionisten als die Grausamkeit an sich. In ihrer deutschnational sich gerierenden Hochachtung wie in ihrer stalinoid sich empörenden Abscheu wollen diese Kritiker Israels nichts anderes retten als ihre eigene Illusion vom guten, wahlweise nationalen oder sozialen Staat.

Die “Künstlichkeit des zionistischen Gebildes”, den der Antizionismus an Israel so beklagt, liegt genau darin, daß der jüdische Staat nicht die falsche Natürlichkeit und nicht das Pseudos des Ursprungs ab ovo reklamieren kann, in deren Schatten die Transformation absoluter in bürgerliche Staatlichkeit sich in Europa vollziehen konnte.

Im Bann der idealistischen Parole vom “Recht auf Selbstbestimmung” behandeln die Antizionisten die Frage der Konstitution von Staatlichkeit wie es noch jede Verfassungs- und Staatslehre tut: als Problem von Recht und Moral. Am liebsten unterhalten sie sich daher über die Gretchenfrage, ob die Juden überhaupt ein “Volk” darstellen und daher ein nationales Recht beanspruchen können, wenden die Kriterien hin und her und kommen doch nie auf die Antwort, daß die politische Einheit eines “Volkes” sich keineswegs aus sprachlichen, kulturellen, geschichtlichen oder sonstigen Gründen herleitet, sondern aus der Installation politischer Zentralität, die in der Lage ist, Grenzen zu setzen und zu behaupten. Die Kriterien, die der Nationalismus, ob linker oder rechter Gesinnung, für die Existenz eines Volkes beizubringen vermag, sind willkürliche Illustrationen einer bereits installierten souveränen Herrschaft oder einer auf Staatsgründung erpichten Bewegung.

Das Dilemma des Zionismus als nationaler Befreiungsbewegung der Juden liegt darin, die Juden als “Volk” und als Basis legitimer Staatsgewalt konstituieren zu müssen, genauer: wollen zu müssen, d. h. ein “Volk” zu produzieren, dessen ÝpositiveÜ Gemeinsamkeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts – außer in den Restbeständen religiöser Tradition – in nichts anderem bestand als in der Negativität gemeinsamer vergangener, gegenwärtiger und wahrscheinlich künftiger Verfolgung. Die Gemeinsamkeit der Juden als ein “Volk” konnte weder aus ihrer fraglosen Einheit als Material einer Staatsgewalt abgeleitet, nicht über ihre zweifellose Synthesis als Subjekte einer …konomie rekonstruiert noch durch ihren unstrittigen Zusammenhang als Bekenner eines Glaubens gestiftet werden. Der objektive Grund ihrer Zusammengehörigkeit als Gemeinschaft der Verfolgten blieb den Juden – organisierten sie sich nun als bürgerliche oder proletarische Assimilationisten, als bürgerliche oder sozialistische Nationalisten – notwendig verborgen.

II. Leistung und Dilemma des Zionismus

Theodor Herzl und die Gründerväter der zionistischen Bewegung ahnten die Virulenz des Antisemitismus besser als der vermeintlich wissenschaftliche Sozialismus. Die Paradoxie, verfolgt zu werden, obwohl man keinen Anlaß dazu gab, der logische Widerspruch, ins Zentrum der gesellschaftlichen Aggression gerückt zu werden, obwohl man keineswegs ÝschuldÜ war, die Absurdität, daß sowohl die kapitalisierten Gesellschaften des Westens als auch, wenn auch aus anderen Gründen, die noch halbasiatischen Gesellschaften des Ostens gleichzeitig zum Schlag ausholten, obwohl nichts an der jüdischen Existenz selbst dazu einlud, aufforderte oder berechtigte – diesen objektiven Widersinn zu begreifen war für sie ausgeschlossen, und die Erkenntnis, daß Staat und Kapital die inneren Widersprüche ihrer ureigenen Konstitution unter der zwar falschen, aber gleichwohl zustellbaren Adresse des Antisemitismus austragen, hätte ihnen nicht das mindeste geholfen.

Auf der anderen Seite blieb der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus, der den Judenhaß immerhin richtig als “gesellschaftlich bedingt” und daher “nur gesellschaftlich aufhebbar” erklärte, immer weit unter dem praktischen Niveau des Zionismus, der den Judenhaß falsch als anthropologisch verursacht und unheilbar ewig deutet. Diese falsche Prognose des Zionismus hat sich nämlich bewährt wie die keines zweiten Nationalismus – denn der Antisemitismus ist zwar an sich keineswegs ewig, aber die kapitalistische Weltgesellschaft treibt mit Macht dazu, ihn zu verewigen: “Der Jude” ist eine Projektion der bürgerlichen Gesellschaft, in dessen Verfolgung sie ihren Antagonismus nach Art einer Ersatzhandlung zu bewältigen sucht.

Den Zionismus trifft die Kritik, die jeder nationalen Befreiungsbewegung gilt – allerdings in einer Form, die auf die gesellschaftliche Gestalt der Antisemitenfrage zu reflektieren hat. Jede Kritik des Zionismus als des israelischen Nationalismus hat zu bedenken, daß es unwahrhaftig wäre, die einzige Reaktion, die den Juden auf den notorischen Antisemitismus nach dem Bankrott der bürgerlichen Aufklärung und nach der Pleite der proletarischen Weltrevolution noch blieb, mit besonderer Häme zu denunzieren. Der Zionismus ist die falsche Antwort auf den Antisemitismus, die sich, grauenhafterweise erst im nachhinein, als die einzige nach dem Zustand der Geschichte vorläufig angemessene erwiesen hat. Dagegen ist die immer noch richtige Antwort – Revolution für die staaten- und klassenlose Gesellschaft – vom Stalinismus zur weltfremden Utopie abseitiger Spinner erniedrigt worden.

Aus dieser Perspektive ist Israel, wenn auch kein Bollwerk, so doch das einzige Notwehrmittel gegen den weltweit grassierenden Antisemitismus. Das Recht eines jeden Juden auf die israelische Staatsbürgerschaft ist zwar alles andere als die Lösung der Antisemitenfrage, aber gleichwohl eine historische Errungenschaft ersten Ranges; zumindest in einer nationalstaatlich verfaßten Welt, in der, wie das Schicksal der Staatenlosen beweist, der Mensch als Mensch gar nichts, als Statsbürger aber immerhin etwas bedeutet. Israels Existenz ist genau aus dem Grunde unverzichtbar, weil die Behauptung, die Juden seien nur eine Religionsgemeinschaft und daher nichts als Bürger der Staaten, denen sie jeweils angehören, schon längst von der Geschichte widerlegt worden ist – zuletzt mit allen Mitteln, deren eine deutsche Volksgemeinschaft fähig ist.

III. Linke und Volksgemeinschaft

Weil der moderne Antisemitismus nach Auschwitz genötigt ist, als Antizionismus aufzutreten, gilt Israel, dem “Judenstaat”, die gewohnte Projektion. Israel ist die ideale Leinwand bürgerlicher und linksalternativer Albträume, gerade in Deutschland. Was man selber will, wozu man aber einstweilen als unfähig sich erweist, das wird den Israelis als Vorsatz und Tat unterstellt. Nur so wird der penetrante Hinweis darauf, die Israelis fühlten sich als das “auserwählte Volk”, an dessen Wesen die Welt genesen soll, verständlich – an die Sonne will man selber. Die Juden seien es, die die Gleichheit verweigern. In der Denunziation, sie seien elitär und arrogant, kurz: volksfeindlich und gleicher als gleich, kommt ans Licht, daß man selbst zu Höherem sich berufen fühlt und danach giert, sein Licht nicht länger unter den Scheffel stellen zu müssen. Sie haben, was der Antisemit will, sie verhindern, daß er es bekommt: die Blutsbande, die dicker sind als Wassersuppe, nationale Identität, Gemeinschaft im Volk, fraglose Einheit als Eigenschaft von Natur und Rasse, Synthesis von Individuum und Gesellschaft jenseits von allgemeiner Konkurrenz und Futterneid. Die gesellschaftlich um die Vernunft gebrachten, auf ihren bloßen Verstand zurückgeworfenen atomisierten einzelnen sehnen sich nach ihrem Untergang und ihrer Verschmelzung im repressiven Kollektiv, das endlich Ruhe, Ordnung und Überblick schafft. Was dem entgegentritt oder entgegensteht, wird in das ÝWesen des JüdischenÜ projiziert, von dem nur loszukommen ist, wenn es ausgetilgt wird.

Zur Projektion gesellt sich der Verfolgungswahn, die politisch gewendete Paranoia. Wer sich selbst in panische Vernichtungsangst halluziniert, der braucht um Anlässe zur Notwehr nicht verlegen zu sein. Die Juden sind ihm die “Gegenrasse” (Hitler) und ihr staatsförmiges ÝGebildeÜ das Gegenbild zu ordentlicher Staatlichkeit. Der moderne Antisemitismus ist ein Antisemitismus nicht trotz, sondern gerade wegen Auschwitz: Er wird den Juden Auschwitz nie verzeihen und ihnen nie vergeben, daß sie die Deutschen um die Volksgemeinschaft betrogen haben.

Es fällt auf, daß “Zionismus” im Gebrauch deutscher “Antizionisten” mehr ist als nur ein Name für den Nationalismus der Juden vor der Gründung Israels und den der Israelis danach. Wenn die israelische Linke gegen den Nationalismus in Gesellschaft und Staat angeht und das Antizionismus nennt, entspricht das der Tradition und ist ein bloßer Name für diese Kritik. In Deutschland und unter den Freunden des homogenen Volkstums generell dagegen ist “Antizionismus” Anzeichen der Projektion und daher kein Name für eine Sache, die vielleicht auch ganz anders heißen könnte, sondern vielmehr eine Chiffre und ein Code. In ihm schwingt verschlüsselt mit und wird diskret bedeutet, was unter Linken gedacht und gefühlt wird, was aber nur Rechte öffentlich sich zu sagen trauen. Warum eigentlich distanzierten sich Linke einst von der “Antizionistischen Aktion” eines Michael Kühnen, ohne jemals den Antizionismus an sich zu kritisieren und obwohl sie selbst den Juden in ihrer Eigenschaft als Zionisten immer den religiösen Machtwahn eines “auserwählten Volkes” unterstellen anstatt simple Staatsräson?

Daß der Zionismus als die nationale Befreiungsbewegung der Juden verstanden wird und sodann als ein in Deutschland unmöglicher Name für den Nationalismus Israels, ist die Vorbedingung jeder Diskussion.

Eine ausführliche Fassung dieses Artikels wird unter dem Titel “Furchtbare Antisemiten, ehrbare Antizionisten” im Frühjahr 1998 neu aufgelegt im ça ira-Verlag, Postfach 273, 79802 Freiburg. Der Autor ist Mitglied der “Initiative Sozialistisches Forum” in Freiburg/Brsg.

Quelle: Jungle World, Nr. 32/1997