Antideutsch * Beitrag in der JW

Antideutsch

Manfred Dahlmann

“Antideutsch” ist zunächst ein Etikett, das man Leuten aufgeklebt hat, die immer noch nicht davon lassen können, ihren Mitmenschen mit der ständig wiederholten Frage auf die Nerven zu gehen, wie sie es mit dem kategorischen Imperativ halten, alle Verhältnisse umzustoßen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein ausgebeutetes Wesen ist. Der damit Gemeinte goutiert dieses Etikett, insoweit in ihm treffend zum Ausdruck kommt, daß er sich der herrschenden Geschichtsvergessenheit verweigert, und auf der Erfahrung beharrt, daß die auf der Grundlage eines marktwirtschaftlich verfaßten Kapitals zwar nicht einzulösenden, aber hier doch wenigstens virulent gehaltenen Versprechungen hinsichtlich einer Gesellschaft ohne Zwang dann unwiederbringlich einkassiert werden, wenn es sich in seinen deutschen Formen organisiert. Antideutsch denken und handeln heißt demzufolge, die politischen Vermittlungs- und Repräsentationsformen in Gesellschaft und Staat, die auf der Trennung von freien und gleichen Warenbesitzern einerseits und am Allgemeinwohl orientierten Staatsbürgern andererseits beruht, gegen die zu verteidigen, die diese Teilung zugunsten eines autoritären Volksstaates überwinden wollen, dessen Subjekte von nichts anderem als von seinen Wohlfahrtsleistungen abhängig sind. Wer in diesem Sinne das Etikett “antideutsch” nicht auch auf sich bezieht, mißachtet zumindest die Gefährlichkeit der – selbstredend nicht auf Deutschland und deutsche Staatsbürger beschränkte, sondern immer schon weltweit grassierende – Deutschen Ideologie, deren historischer Kern darin besteht, daß auf ihr Konto nicht nur “normale” kapitalbedingte Ausbeutung und Herrschaft, nicht nur die dem Kapital aus Prinzip immanenten Kriege und nicht nur der ihm in seinen Grund eingeschriebene Antisemitismus gehen, sondern fördert das Überleben einer Ideologie, der zudem noch die historisch und empirisch nicht zu leugnende Tatsache eingeschrieben ist, daß die deutsche Fassung der Beziehung von Staat und Gesellschaft die Auslöschung der Menschheit in zwei Weltkriegen im allgemeinen und den eliminatorischen Antisemitismus im besonderen beinahe total verwirklicht hätte. In der Existenz des Staates Israel manifestiert sich der Einspruch gegen den historisch bewiesenen Vernichtungswahn Deutscher Ideologie praktisch und empirisch. Die Haltung diesem Staat gegenüber gibt demnach das entscheidende Kriterium dafür ab, wo genau die Grenzlinie zwischen deutsch und antideutsch zu ziehen ist.

So sehr sich also antideutsche Ideologiekritik historisch begründet – sie verweigert sich dennoch dem typisch linken Ansinnen, sich der Geschichte in der Absicht zuzuwenden, dort Anschluß an eine ihr gemäße politische Bewegung zu finden. Der Antideutsche maßt sich an, auch geschichtliche Prozesse dem Primat der Vernunft zu unterwerfen. Und in dieser Hinsicht weist er das Etikett “antideutsch” umgehend zurück: Er weiß um die Unvernunft partei- und bewegungspolitischer, das freie Denken verhindernde Programmatik und Theorie. Er verurteilt deshalb entschieden jeden Versuch, die Bezeichnung “antideutsch” zum Aufbau einer positiven Gruppenidentität zu mißbrauchen – komme er von außen oder von innen. Was aktuell unter dem Label “antideutsch” firmiert, besteht denn auch aus nichts weiter als einer Gruppe von Einzelpersonen, die allerdings, und das kann und braucht gar nicht verschwiegen zu werden, eine Reihe von Essentials gemeinsam haben.

Dazu gehören neben den schon genannten auch die biografischen Gemeinsamkeiten einiger älterer unter ihnen: Diese verweigerten sich dem Aufgehen der Nach-68er Bewegungen in die Partei der Grünen, nachdem sie theoretisch die Arbeitswertlehre und politisch Stalinismus, Leninismus und Trotzkismus hinter sich gelassen hatten; beharrten auf der Notwendigkeit der Abschaffung von Staat und Geld und Politik und Nation; unterließen den Unfug etwa der RAF, das Parteiprogramm der Grünen mit den Weihen revolutionärer Gewalt zu versehen; fanden es ganz erfreulich, daß zumindest Teile der Linken sich dem Wiedervereinigungstaumel mit der Parole “Nie wieder Deutschland” widersetzten, ahnten aber wohl damals schon, wohin das führen mußte: Wie seit je, hat auch diese Linke keine praktischen Konsequenzen aus ihren bekundeten guten Absichten gezogen, sondern sich als deutsch erwiesen, d.h. handelte und dachte im Namen eines anderen, angeblich besseren Volksstaates Deutschland. Die Antideutschen mußten auch und gerade dieser Linken schließlich nachweisen, daß der in ihr fortwesende Antizionismus und Antiamerikanismus, ihr Philo-Islamismus nichts anderes sind als moderne Varianten des urdeutschen Antisemitismus. Und den Antinationalen mußten sie recht bald schon begreiflich machen, daß es Unterschiede gibt im Begriff der Nation, aufgrund derer eine gleichrangige Behandlung aller Nationen in der Kritik theoretisch und praktisch völlig fehl am Platze ist.

Der heute so genannte Antideutsche wußte seit je, daß es zwischen Wert-, Staats- und Ideologiekritik nicht die geringsten Unterschiede geben kann; sie sind ein- und dasselbe. Er weiß, daß linke Theoriebildung, spiegelbildlich zur linken Praxis, mit Ausnahme der der Kritischen Theorie, seit den Auseinandersetzungen zwischen Marx und Bakunin sich auf dem absteigenden Ast befindet. Somit sollte es nicht verwundern, daß in den Essentials antideutscher Kritik, über die Kritische Theorie Adornos, Horkheimers u.a. hinaus, Einflüsse eingegangen sind, die auf Theorien zurückgehen, deren Verfasser, wie etwa Siegmund Freud und Hannah Arendt, kaum dieser Linken je zuzurechnen waren. Selbst erzreaktionäre Apologeten des deutschen Weges, man denke an Carl Schmitt, tragen, wo es um die Reflexion der wirklichen Prozesse kapitalistischer Reproduktion geht, weit mehr zu deren Erkenntnis bei, als jede explizit linke Theorie seit Marx. Einig ist man sich unter Antideutschen weiterhin, daß der Heideggerianismus jeder Spielart, mit Ausnahme vielleicht gewisser Momente bei Sartre, schonungslos der Kritik unterliegt – auch wenn dieses Denken, etwa im Poststrukturalismus, als scheinbar ungefährliche Modeerscheinung nur unter Akademikern Verbreitung gefunden hat. Er ist in all seinen Schattierungen die philosophische Grundlage Deutscher Ideologie.

Der Antideutsche ist per definitionem im kulturellen und akademischen Betrieb ebensowenig anschlußfähig wie im politischen – worauf er sich keinesfalls etwas einbildet, sondern was er zutiefst bedauert. Aber er besteht darauf, daß Kritik nur dann etwas gilt, wenn sie nichts weiterem verpflichtet ist als der Vernunft. Er nimmt in den zur Debatte stehenden Angelegenheiten deshalb unter Einsatz seiner ganzen Person Partei, verzichtet also auf den Habitus des angeblich über den Dingen stehenden, Vor- und Nachteile säuberlich sortierenden Experten von vornherein, in der Hoffnung, daß die Wirklichkeit ihm und seinen Befürchtungen doch noch Unrecht gibt. Er läßt es den Theoretikern nicht durchgehen, wenn ihre Denkgebäude darauf hinauslaufen, die Unterscheidung zwischen Opfern und Tätern zu verdrehen oder auch nur zu verwischen, und sie die Verantwortlichkeit des Subjekts für die herrschenden Zustände in eine angeblich historische, ökonomische systemtheoretische-strukturale oder auch nur anthropologische Gesetzmäßigkeit verschwinden lassen. Er ist von Natur aus negativ – was in einer Gesellschaft, die auf positives Denken geeicht ist, kaum auf Gegenliebe stoßen kann. Die Vorwürfe, einen absoluten Wahrheitsanspruch zu vertreten, arrogant im Auftreten zu sein, also sich um das “Vermittlungsproblem” nicht zu kümmern, sind ihm so gewiß, wie ansonsten nur noch gewiß ist, daß das Geschwafel akademisch geführter Diskurse für die Emanzipation des Menschen aus unwürdigen Verhältnissen folgenlos ist.

Der Antideutsche ist sich nicht zu schade, waschechten Konservativen auch einmal recht zu geben, wenn diese sich, aus welchen Gründen auch immer, gezwungen sehen, das Richtig e zu tun, das heißt, wenn sie die Deutsche Ideologie bekämpfen und die Existenz Israels sichern. Der Antideutsche ist sich seiner selbst als Kommunist so sicher, daß es ihm egal ist, ob ihm Linke ein Paktieren mit dem Klassenfeind vorwerfen, wenn er den Krieg der USA gegen den Irak im besonderen und gegen den islamfaschistischen Terror im allgemeinen aus sehr triftigen, weil antideutschen Gründen begrüßt und würdigt (und kritisiert, wenn dieser nicht entschieden genug geführt wird). Er tut dies schließlich auch aus ureigenstem Interesse, denn er weiß, wie übrigens jeder Linke auch – nur gibt der das nie offen zu –, daß sein Überleben als Kritiker und Kommunist davon abhängt, daß die Deutsche Ideologie und deren Praxis nicht doch noch über die liberale den Sieg davon trägt.

In all dem macht er den Staatsfetischismus selbstredend nicht mit, der die verschiedensten Volksfrontstrategien und Bündnispolitiken dieser Linken bisher umgetrieben hat: nämlich den Kampf für Kommunismus aufzuschieben, um sich “zunächst” der Verwirklichung der bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte zu verschreiben (als ob die nicht seit über zweihundert Jahren längst genau in der einzigen Form in den kapitalistischen Kernstaaten durchgesetzt sind, in der sie sich auf der Grundlage des Kapitals überhaupt verwirklichen lassen). Vom Recht, und damit vom Staat, zu verlangen, eine gerechte Gesellschaft herzustellen, ist und bleibt grober Unfug – weder Staat noch Recht lassen sich je als Instrumente zur Herstellung herrschaftsfreier Verhältnisse verwenden. Die aktuell z.B. in Frankreich zu beobachtenden Folgen der Antidiskriminierungsgesetze zeigen im übrigen zum historisch wer weiß wievielten Mal, wohin dieser Staatsfetischismus führt: nämlich dazu, daß die Subjekte sich nicht als freie und gleiche, in Konkurrenz zueinander stehende Staatsbürger verstehen, sondern als Mitglieder einer schützenswerten kulturellen Gemeinschaft, also sich begreifen als angeblich verfolgte “deutsche” Minderheit. Unter den Bedingungen allgemein durchgesetzten bürgerlichen Rechts gehört die Bekämpfung der in der kapitalistischen Gesellschaft mit Notwendigkeit fortwesenden Diskriminierung nicht in das Gesetzbuch geschrieben, sondern sie hat dort zu erfolgen, wo diese unter den Bedingungen formal gleicher und freier Rechtsverhältnisse allein noch stattfindet: in den politischen und privaten gesellschaftlichen Beziehungen; und sie hat sich dort vor allem auch gegen die völkischen, religiösen und rassistischen Selbstzuschreibungen der Subjekte zu richten. Die Verteidigung der von der Aufklärung erzwungenen Trennung in einen die Bedingungen funktionierender Kapitalreproduktion rechtlich absichernden Staat, der die für jeden Staatsbürger gleich geltenden Rechte und Pflichten, jenseits ihrer tatsächlichen Unterschiede, organisiert, und einer Gesellschaft, in der diese Unterschiede ausgetragen werden können und sollen, ist deshalb das Essential antideutscher Kritik, weil diese institutionelle Trennung eine der wenigen Sicherungen gegen die deutsche Aufhebung des Kapitals auf dessen eigener Grundlage darstellt, die bis genau zu dem Zeitpunkt nicht durchbrennen darf, bis der Kommunismus die Vorgeschichte der Menschheit abgeschlossen haben wird – ganz abgesehen davon, daß der Kritik nur so der politische Raum für ihre Agitation zur Verfügung steht.

Der Antideutsche weiß somit gar nicht so recht, ob der Kommunismus heute noch “links” daher kommen kann oder auch nur sollte. Dies ist eine der vielen offenen Fragen, über die weiterhin zu streiten sein wird. Keinen Streit aber kann es darum geben, daß es unabdingbar zur Vernunft gehört, der exstierenden Unvernunft mit einem gehörigen Schuß Pragmatismus, der sich historisch begründet und an den tatsächlich gegebenen Machtverhältnissen orientiert, zu begegnen; einer Pragmatik somit, die die Verarbeitung neuer Erfahrungen ermöglicht und die vollkommen anders geartet ist als die, über die sich linke Politik in ihrer Praxisversessenheit geradezu definiert: nämlich aus ideologischer Borniertheit immer wieder dasselbe vollkommen Verkehrte zu tun, und dies dann noch als Fortschritt auf dem Weg in den Sozialismus zu verkaufen.

Der antideutsche Kritiker lehnt es aus all diesen Gründen ab, konstruktiv zu sein; er will entschieden das Gegenteil, er zielt auf die Destruktion der tief in Kopf und Gefühl verankerten Fetische von Staat, Geld, Nation und Kultur – unter pragmatischer Berücksichtigung der historisch bedingten Unterschiede und Machtverschiebungen. Er führt dabei jedoch nie einen Dialog mit Leuten, die sich nicht von Grund auf von denjenigen distanzieren, die Juden oder, was dasselbe ist, den Zionismus für ihr und anderer Leute Unglück verantwortlich machen. Er denunziert desgleichen jede Verhandlungsbereitschaft denen gegenüber, die, bevor sie sich als Staatsbürger und Marktsubjekte definiert haben, als Angehörige einer Religions- oder Volksgemeinschaft anerkannt werden wollen. Da jede Fetischkritik aggressive Abwehr erzeugt, muß der Antideutsche, ob er will oder nicht, provozieren. Nicht also provoziert er um der Provokation willen, wie ihm dauernd unterstellt wird, sondern weil er dem Kritisierten den Spiegel vorhält, der dessen Denken und Handeln als fremdbestimmt und somit nicht als Resultat eigener Reflexion ausweist. Er macht dabei vor keiner Person halt: der Arbeiter wie der Arbeitslose unterliegen schließlich denselben Verblendungen wie der Kapitalist – und das erst recht. Der Antideutsche hat also dem altlinken Wahn abgeschworen, als sei es die vom Kapital mit Notwendigkeit herbeigeführte Pauperisierung der Massen, ihre Verüberflüssigung für das Kapital, die sie für vernunftgemäßes Handeln prädestiniere. Das genaue Gegenteil ist der Fall: diese Massen laufen zur Deutschen Ideologie über, wenn Politik und Staat ihnen diesen Weg nicht versperren. So wie die rechten Populisten ihnen auf diesem Weg vorweg laufen, so laufen die linken Apologeten dieser Massen, von den No Globals bis hin zu den alten und neuen Sozialdemokraten, ihnen hinterher. Der Kommunismus hingegen baut weiterhin auf nichts anderem auf als der bewußten Tat der Einzelnen, die es verabscheuen, ein gutes Leben nur führen zu können, wenn die meisten Menschen unter dem Zwang zur Arbeit ein menschenunwürdiges Dasein fristen müssen. Oder er wird gar nie sein.

jungleworld, Nr. ???

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