Programm Sommer 2022

 

Alle Vorträge finden als Hybrid-Veranstaltungen in Präsenz mit Zoom-Übertragung statt. Aufgrund der eingeschränkten Anzahl an Sitzplätzen am Veranstaltungsort bitten wir um Anmeldung unter jourfixe@isf-freiburg.org. Voraussetzung ist der Status als geimpft und / oder genesen.

 

Mai

Mittwoch, 18. Mai 2022

Buchvorstellung

Wolfgang Pohrt und die Bewusstseinsmetamorphosen der Linken auf dem Weg zur nationalen Identität

Als Anfang der achtziger Jahre Wolfgang Pohrt die öffentliche Bühne betrat, wurde den Lesern schnell klar, dass da jemand einen neuen Ton anschlug. Er verstand es, seine Thesen mit großer Schärfe, Klugheit und Eleganz zu formulieren. Pohrts Kritik an den Grünen und der Friedensbewegung ist legendär, vor allem, seit diese nationale Töne anschlugen und die Nation nicht mehr abschaffen, sondern retten wollten. In der Biographie wird daran erinnert, dass die Linke in Deutschland zwar versagt hat, aber dank Wolfgang Pohrt das Niveau der Kritik an ihr weit besser war, als sie es verdient hatte. Ein realistisches Bild von ihr ist nur deshalb erhalten geblieben, weil der Journalist und Essayist sich ihrer Fehler und Eigenarten angenommen und damit die Mythenbildung erschwert hat. Mit seiner großen Massenbewusstseinsstudie der Deutschen und dem konkret-Kongress 1993 kündigte sich sein Abschied an, aber noch heute macht sich sein Einfluss bemerkbar, als ob seine Gedanken wie ein schwacher unterirdischer Strom immer wieder einen Nerv treffen und eine Reaktion erzeugen.

Es spricht Klaus Bittermann (Berlin), Verleger der Edition Tiamat. Er ist Herausgeber der elfbändigen Werkausgabe Wolfgang Pohrts und Autor der Biographie Der Intellektuelle als Unruhestifter. Um 19 Uhr im Büro des ça ira-Verlages, Günterstalstr. 37, im Hinterhof.

 

 

Juni

Donnerstag, 2. Juni 2022

Buchvorstellung

Léon Poliakov: Vom Hass zum Genozid. Das Dritte Reich und die Juden

Dieses Buch ist ein historisches Meisterwerk. Es erscheint mit sieb- zig Jahren Verspätung in Deutschland, obwohl es sich bei der 1951 veröffentlichten Ausgabe des Bréviaire de la haine um die erste systematische Gesamtdarstellung des Mordes an den europäischen Juden auf der Grundlage von deutschen Dokumenten handelt. Diese Verspätung ist damit zu erklären, dass die frühe jüdische Historiographie des Holocaust im Nachkriegsdeutschland kaum Beachtung gefunden hat. Das gilt für die Forschungen und Publikationen der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission in Polen ebenso wie für die Pioniere, die in Westeuropa etwa im Umkreis des Pariser Jüdischen Dokumentationszentrums arbeiteten. Zu letzteren zählte Léon Poliakov. Ihm ist die Sicherung der von den Deutschen 1944 in Paris zurückgelassenen Gestapo-Akten zu verdanken, die die französische Anklagevertretung bei den Nürnberger Prozessen vorlegte, die im Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 zitiert wurden und auf die sich die gesamte spätere Forschung zur »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich stützte.

Poliakov war von 1946 bis 1948 als Sachverständiger der französischen Delegation beim Internationalen Militär-gerichtshof in Nürnberg tätig. Er hatte Gelegenheit, den Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher und die sogenannten Nürnberger Nachfolgeprozesse einzusehen. Gestützt auf die Nürnberger Prozessunterlagen wurde Poliakov zum ersten Historiker, der nur wenige Jahre nach den Ereignissen ein umfassendes, dokumentarisch abgesichertes Bild des Holocaust zeichnete. Was seine Darstellung heute, nach Jahrzehnten der konkurrierenden Interpretationen und Deutungen des Geschehens, lesenswert macht, ist der unverstellte Blick des Autors und die unmittelbare Konfrontation mit dem Quellenmaterial. Bewusst legte er die Dokumente und Aussagen der deutschen Täter zugrunde, um zu rekonstruieren, was geschehen war und wie es geschehen war. Letztlich ging es ihm dabei nach eigenem Bekunden um die Frage, warum die Nazis die Juden vernichten wollten. Ein oft zitierter Satz Poliakovs lautet, er habe wissen wollen, »warum man mich gemeinsam mit Millionen anderer Menschen töten wollte«. Aber sein Buch, wenngleich es sich auch mit der Psychologie der Mörder beschäftigt, beantwortet diese unvermeidliche und zugleich unbeantwortbare Frage nicht. Das einzige erkennbare Motiv ist, folgt man Poliakov, der Hass auf die Juden.

Es spricht Alexander Carstiuc (Berlin), der als Sozialpädagoge und Historiker in der Bildungsarbeit arbeitet und als Übersetzer zu den Themen Nationalsozialismus und Shoah tätig ist. Als Herausgeber hat er die Memoiren Léon Poliakovs (St. Petersburg – Berlin – Paris. Memoiren eines Davongekommenen, Edition Tiamat 2019) veröffentlicht und zuletzt das Buch von Annette Wieviorka: 1945. Als die Amerikaner die Lager entdeckten mitübersetzt. Um 19 Uhr im Büro des ça ira-Verlages, Günterstalstr. 37, im Hinterhof.

 

 

Donnerstag, 23. Juni 2022

Buchvorstellung

Der Geist des Widerspruchs Studien zur Dialektik. Band 3

Dialektik, der »methodisch ausgebildete Widerspruchsgeist« (Goethe, Hegel), ist die Aufklärung »unbewusster« gesellschaftlicher Verhältnisse im Interesse der Verwirklichung eines »vernünftigen Zustands« (F. Engels) durch »revolutionäre Praxis« (Marx). Weil die dialektische Theorie der Gesellschaft selbst jenen Verhältnissen zugehört und nicht schon darüber hinaus ist, antizipiert sie jenen Zustand nicht »dogmatisch«, sondern entdeckt durch theoretische und praktische »Kritik der alten Welt die neue« (Marx). Gerade um der Utopie einer »Versöhnung der Menschheit mit der Natur und mit sich selbst« willen (Engels) entsagt die dialektische Theorie der Konstruktion des utopischen Zustands: um »Glück« zu verwirklichen, wird das »Unglück« aufgeklärt (Marx).

Der Zusammenhang von Dialektik und Praxis wird in drei Stufen entwickelt. Am Anfang steht eine Skizze über Aufklärung und utopisch gerichtete Praxis in der klassischen griechischen Philosophie. Der Schwerpunkt liegt dann in der Darstellung des revolutionären Gehalts der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. Am Ende wird der Verfall von theoretischer und praktischer Kritik im Marxismus nach Marx angedeutet.

Es spricht Gerhard Stapelfeldt (Hamburg), der bis 2009 als Soziologie-Professor an der Uni Hamburg lehrte. Er ist Autor mehrerer Bücher im ça ira-Verlag, unter anderem von Aufstieg und Fall des Individuums. Kritik der bürgerlichen Anthropologie und der dreibändigen Reihe Der Geist des Widerspruchs. Studien zur Dialektik. Um 19 Uhr im Büro des ça ira-Verlages, Günterstalstr. 37, im Hinterhof.

 

 

Juli

Donnerstag, 7. Juli 2022

Russlands Krieg gegen die Ukraine und die Geopolitik der Indifferenz

Wenn Russland seine Nachbarstaaten bedroht, kann es auf das Verständnis nicht nur Linker und Friedensbewegter für sein »legitimes Sicherheitsinteresse« zählen. Das macht es möglich, Russlands Aggressionen und den jetzigen Krieg gegen die Ukraine in geopolitischen Kategorien zu fassen, und zwar in der spezifischen Weise deutscher Ideologie: Das russische Vorgehen lässt sich so als einer rationalen Einsicht folgend objektivieren und legitimieren; von der NATO immer weiter unter Druck gesetzt, gehorcht Russland dieser Darstellung folgend geradezu einem ›geopolitischen Zwang‹. Auf diese Weise wird das Denken in Einflusssphären beglaubigt, weshalb die Ukraine eben akzeptieren müsse, nicht primär Subjekt, sondern Objekt zwischenstaatlicher Beziehungen zu sein. Ein so verstandener Primat der Außenpolitik erlaubt es, über die Verhältnisse im Inneren Russlands hinwegzusehen. Es gilt jedoch, diesen Primat genau andersherum zu begreifen: Gerade weil die Machtverhältnisse im Inneren des Putinschen Systems so prekär sind, kommt es umso mehr auf die außenpolitische Konstellation an, um die Einheit des Staates herzustellen. Der Vortrag stellt die genannten Zusammenhänge dar.

Es spricht Thorsten Fuchshuber (Brüssel), Autor des Buchs Rackets. Kritische Theorie der Bandenherrschaft (ça ira-Verlag) und Redakteur der Zeitschrift sans phrase. Um 19 Uhr im Büro des ça ira-Verlages, Günterstalstr. 37, im Hinterhof.

 

 

Donnerstag, 21. Juli 2022

Lesung und Diskussion

Das Rätsel des Kapitals

Manfred Dahlmanns Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie

Anstelle der Kritik der politischen Ökonomie übt man heute Kritik am Neoliberalismus. Das heißt Souveränität und Weltmarkt werden nicht mehr als die zwei notwendigen Seiten ein und derselben ›Sache‹, nämlich des Kapitals, begriffen. Der Appell an den Souverän soll vernünftig erscheinen – als könnte es vernünftig sein, dass die Subjekte tagtäglich ihre eigene Unfreiheit hervorbringen, die Marx das automatische Subjekt genannt hat: Man möge doch bitte das Wertgesetz innerhalb des Staats endlich wieder einmal zum Wohle seiner Bürger modifizieren, statt es als Naturgesetz hinzunehmen. Die einen wollen, dass man es zu diesem Zweck autoritär handhabe wie in China, die anderen warnen davor und plädieren für eine Neuauflage des deutschen Wirtschaftswunders, von deren Voraussetzungen im Nationalsozialismus man insgesamt nichts mehr wissen will. In jedem Fall wird beiseitegeschoben, was geradezu als das regulative Prinzip des Marxschen Kapitals gelten kann: Totalität ist dadurch objektiv gegeben, dass die einzige Möglichkeit, das Naturgesetz des Kapitals nicht hinzunehmen, darin liegt, es abzuschaffen. Stattdessen schafft man die Kritik der politischen Ökonomie ab. Das Ergebnis ist, dass Neoliberalismus bei den Souveränisten weniger eine bestimmte Theorie als den Weltmarkt selbst meint, den man in Gestalt von Globalisten oder Juden personifiziert. Und umgekehrt stellen sich die Djihadisten Souveränität als Inbegriff der Ungläubigen und Helfershelfer des zionistischen Staats vor, dessen Auslöschung das oberste Ziel ist.

Es war Manfred Dahlmann, dessen Gesammelte Schriften nun bei ça ira erscheinen, der in diesen Konstellationen schon früh die Konturen des »Gegensouveräns« erkannte. Der Band über das Rätsel des Kapitals enthält die dazu nötige Kritik der politischen Ökonomie.

Der Abend wird vom Institut für Sozialkritik gestaltet, in dessen Auftrag die auf sieben Bände konzipierten Gesammelten Schriften von Manfred Dahlmann herausgegeben werden. Um 19 Uhr im Büro des ça ira-Verlages, Günterstalstr. 37, im Hinterhof.