Initiative Sozialistisches Forum Freiburg

Unmensch und Übermensch

Der nunmehr approbierte Sport, Sammelbände über Rassismus, Diversität und Antisemitismus auf den Markt zu bringen, kennt kein Halten. Zeilen und Seiten füllen sich, indem der jeweils vorhergehenden Veröffentlichung mit Recht »Untiefe« vorgeworfen wird, um dieser, als kollegial anschlussfähige Vorlage, eine weitere hinzuzufügen. Im Spiegelspiel der Untiefen werden bislang unerschlossene Symptom- und also Forschungsfelder bearbeitet oder dem in himmelweite Höhen zu entschwinden drohenden »Diskurs« die Ketten des unheilbar gesunden Menschenverstandes anzulegen versucht. »Sie nennen es Kritik« (Manfred Dahlmann), aber im Interesse an der nimmermüden Theoriereproduktion verfällt die Kritik gleichermaßen dem Vergessen: »Das Interesse hat kein Gedächtnis, es denkt nur an sich« (Karl Marx). Diese scheinbar unaufhaltsame Amnesie »nötigt beschämend dazu, altvertraute Argumente wieder aufzuwärmen« (Theodor W. Adorno). Ihr sei Joachim Bruhns Kritik des Rassismus entgegengehalten, die er als Kritik der Waren-, Rechts-, und Denkform ausführte.

 

Joachim Bruhn
Unmensch und Übermensch
Über das Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus
[Gekürzte Fassung; die ungekürzte Fassung ist online auf ca-ira.net zugänglich]

[D]er Ausschluß aus der Menschheit, der in der Mißhandlung von Individuen als willenlose Natur und bedürfnisloser Rohstoff, als Ding und bloßes Produkt von Geschlecht, Sprache oder Heimat sein Unwesen treibt, soll mit der intellektuellen Bekräftigung und praktischen Realisation des Äquivalenzprinzips geheilt werden: Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg’ auch keinem andern zu! »Der Rassismus«, definiert Albert Memmis einflußreiches Standardwerk, »ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Vorteil des Anklägers und zum Nachteil seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen« (Albert Memmi: Rassismus, 1987). Somit könnte Rassismus bestimmt werden nicht als chronische Pathologie, sondern als temporäre Infektion einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich weigert, ihr eigenes Prinzip tatsächlich ohne Ansehen der Person gelten zu lassen: als sogar nach ihren eigenen Maßstäben grundlose und daher immanent kritisierbare Ausnahme, die sie sich von ihrer ureigenen Regel gestattet. Der ins Auge gefaßte materielle Vorteil spräche sich sodann als intellektuelles Vorurteil aus, die Aggression unterliefe aus persönlich interessierter Aversion. Der Egoismus der Bürger, der sie dazu verleitet, die Tatsachen einseitig zu werten und die Unterschiede haarsträubend zu verabsolutieren, wäre als angemaßte Allgemeinheit entlarvt.

Rassismus wird verstanden als ein Defekt und Mangel, als ein Produkt nicht der politökonomischen Struktur, die sich in der Ideologie der ›Gleichheit vor dem Gesetz‹ ausdrückt, sondern vielmehr als überkommenes Relikt und Produkt nicht verallgemeinerungsfähiger Interessen, die sich mit archaischen Trieben amalgamieren. Das rassistische Subjekt wird als der quasi feudale Fremdkörper einer an sich egalitären Gesellschaft ausgemacht, gegen den es die Idee der Gleichheit erst durchzusetzen gilt. Aufklärung will, in therapeutischer Absicht, das rassistische Interesse über seine eigenen Bedingungen belehren: »Der Rassismus ist eine Gefahr für die Anderen, aber er schadet auch den Rassisten selbst, weil er wie ein Bumerang auf sie zurückfällt« (ebd.). In der Mythologie »des Anderen« verschwindet die gesellschaftliche Konstruktion des Rassismus, und er erscheint als verstocktes Vorurteil, als Störung in der Wahrnehmung ›des Fremden‹. Die Abstraktion des Individuums zum Menschen an sich und damit zum Subjekt ist gleichsam verschluckt, das Menschenrecht wird zum Inbegriff und das Naturrecht zum Ausgangspunkt von politisierender Anthropologie. Der Staat, das Realsubjekt der Menschenrechte, soll, wie die Pädagogik das rassistische Vorurteil des Einzelnen, den Rassismus des Kollektivs bekämpfen, denn »auch die Gesellschaft muß unmittelbar behandelt werden, und das ist die Aufgabe des Politikers« (ebd.). Zum Arzt wird bestellt, wer den Giftschrank verwaltet.

Die Erklärung des ›Anderen‹ zum Unmenschen, zum Tier und zu Schlimmerem, verweist jedoch nicht auf den bösartigen Charakter bestimmter interessierter Subjekte, sondern auf den allgemeinen von Subjektivität, der sich in der ›Gleichheit vor dem Gesetz‹ als Subjektivität auf Gegenseitigkeit ausspricht und sich als Vertragsverhältnis darstellt, d.h. auf den ›freien Willen‹ als Kern der bürgerlichen Anthropologie. »Jeder hat das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt...« (Artikel 2 [1] GG): Freiheit, die ihre Grenze an der Freiheit des Anderen findet, ist die von Subjekten, die den wechselseitigen Ausschluß von den als Privateigentum gesetzten Mitteln der Befriedigung ihrer Bedürfnisse nur im Vertrag zu überwinden vermögen und sich darin als Eigentümer ihrer selbst betätigen und zugleich bestätigen. Die ›freie Entfaltung‹ unterliegt dem Diktat des Gleich um Gleich, jener Äquivalenz von Werten, als die die Ausbeutung von Arbeitskraft gegen Lohn dem schizoiden Citoyen-Bourgeois nur zu Bewußtsein kommt. Bürgerliche Subjektivität konstituiert sich als Selbstbewußtsein der Ware und daher im Kampf um die Realisierung ihres Werts.

Der rassistische Ausschluß aus der Menschheit speist sich aus der Angst vor der Entwertung; der Andere als Unmensch symbolisiert die Folgen, die die Niederlage in der Konkurrenz mit sich bringt: Verlust der freien Verfügung über sich selbst, Einbuße der Subjektivität und Angleichung an das Schicksal der Sklaven, Unmündigen und Entmündigten. Die »unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte« nach Art. 1 (2) GG basieren auf der staatlich garantierten Unverletzlichkeit des Privateigentums eines jeden Rechtssubjekts an sich selbst und weiterhin auf der kapitalistisch konstituierten Unveräußerlichkeit der doppelten Freiheit des Lohnarbeiters. Er muß ganz und gar frei sein, um sich als sein privateigenes ›Humankapital‹ behandeln zu können. Die Konkretion dieser Menschenrechte, die die Verfassung proklamiert, findet sich im Begriff der Geschäftsunfähigkeit, den das Bürgerliche Gesetzbuch diktiert: »Wer wegen Geistesschwäche, wegen Verschwendung oder wegen Trunksucht entmündigt oder wer ... unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der das siebente Lebensjahr vollendet hat« (§ 114 BGB). Und das heißt nichts anderes als: »Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig« (§ 105 [1] BGB).

Dem Gesellschaftsbegriff des Antirassismus zufolge geschieht der Ausschluß aus der Menschheit nicht aus dem Selbstwiderspruch des zum Subjekt formierten Individuums, sondern er ist, als Widerspruch zum Menschenrecht und abstrakte Negation der, sei es historisch-ursprünglichen, sei es logischvernünftigen Gleichheit und Freiheit, Widerspruch von außen, Angriff aus dem Jenseits der selbstreproduktiven Gesellschaft, aus Geschichte und Triebstruktur. Darunter fällt auch der Antisemitismus, der, so Memmi, als ein Rassismus zu verstehen sein soll, »der sich gegen die Juden richtet«. (Memmi, a.a.O.) Wie jeder Rassismus, so diene auch der Antisemitismus der Legitimation angemaßter Macht, und auch hier gelte, daß es eine »organische Verbindung von Rassismus und Herrschaft« (ebd.) gibt. Herrschaft soll derart das gerade Gegenteil von Politik sein, wie das Privileg den bloß äußeren Widerspruch zur Gleichheit aufführt. Es ist dieses nur soziologische Verständnis von Herrschaft, das den antirassistischen Begriff des Rassismus als blanker Manipulation und inszenierter Machination ausmacht. Aufklärung findet hier in den Formen der Ideologie selbst statt, als Teil des Verblendungszusammenhangs, dem sie mit nichts als Rationalisierungen und daher vergeblich zu entkommen sucht.

Nimmt man an, Antisemitismus sei bloß »ein durch sein Objekt näher bestimmter Rassismus« (ebd.), d.h. Ausdruck einer »Heterophobie«, die sich als »Negrophobie«, »Arabophobie« und eben »Judenphobie« (ebd.) äußern kann, dann geht, mit dem Zusammenhang von Unmensch und Normalsubjekt, das verloren, was die latente Tendenz zur Selbstaufhebung der bürgerlichen Gesellschaft auszeichnet, jener auf dem Boden und mit den Mitteln dieser bürgerlichen Gesellschaft erzeugte Umschlag in die Barbarei, der zu Auschwitz, Treblinka, Majdanek, Sobibor eskalierte. Die antisemitische Volksgemeinschaft war »kein Rückfall in die alte Barbarei, sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen« (Theodor W. Adorno; Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, 1984). Es bedarf daher der Bestimmung jener negativen Dialektik »repressiver Egalität« und der Analyse derjenigen Subjektivität, die sich im Zuge der historischen Entwicklung einer Gleichheit formiert, die einzig als autoritäre Vergleichung durch das Dritte von Kapital und Staat hindurch zu funktionieren vermag. Die Anerkennung des »Anderen«, die »gerechte Gesellschaft«, die, Memmi zufolge, auf dem »Vertragsprinzip« (Memmi) basieren soll, muß auf ihre gesellschaftliche Konstitution reflektieren – und die straft sie Lügen. Die Idee der Vergesellschaftung durch Vertrag gehört zum Kern der Menschenrechte; die reziproke Anerkennung der Individuen als Subjekte, Prämisse des Vertrags, ist jedoch keine autonome Leistung dieser Individuen selbst, sondern Resultat jener Verwertung des Werts um seiner selbst willen, die die Individuen als Charaktermasken zu exekutieren haben. Dergestalt trug »die Ordnung, die 1789 als fortschrittliche ihren Weg antrat, von Anbeginn an die Tendenz zum Nationalsozialismus in sich« (Max Horkheimer: Die Juden und Europa, 1939).

Der Ausschluß aus der Menschheit ist die originäre Leistung und die logische Konsequenz der Gesellschaft der Menschenrechte. Derart ist das bürgerliche Subjekt verfaßt, daß es Identität nicht aus sich selbst erzeugen, nicht an sich selbst gewinnen kann, sondern nur im Prozeß einer ständigen Abgrenzung und eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ›unwerte‹ und gegen das ›überwertige‹ Leben. Bürgerliche Subjektivität existiert nur in der vollendeten Leere der permanenten Vermittlung, die sie zwischen den Waren, im Tausch, und um den Preis der ihr andernfalls drohenden Annihilation zu stiften hat. Die Charaktermaske der juristischen Person kaschiert als Realfiktion, daß dahinter nichts stattfindet als die tautologische und autistische Selbstreflexion des Wertes in sich selbst. Der bürgerliche Mensch, zerrissen zwischen Eigentum und Akkumulation wie zwischen Recht und Pflicht, hat sich im Kampf gegen Unmenschen und Übermenschen zu integrieren. Identität, die gesellschaftspraktische Unterstellung mithin, die Individuen als Subjekte seien, wie es der Wert und seine Erscheinungsform, das Geld, quasi-ontologisch vorspiegeln, der Geschichte, der Natur und also ihrer Vergänglichkeit enthoben, funktioniert im System der Berechtigungen und Verpflichtungen als real gewordene, im Recht verdinglichte und vom Staat beschützte Abstraktion; der gesellschaftliche Zwang zur Sich-selbst-Gleichheit der Individuen als Subjekte erscheint in der juristischen Figur der Person und wirkt im Begriff der Mündigkeit als der archimedische Punkt, dem das Tun und Lassen der empirischen Einzelnen zugerechnet wird. In dieser Form prozessiert das Allgemeine gegen das Besondere.

Die juristische Person verhält sich zum wirklichen Menschen wie der Tauschwert zum Gebrauchswert, als Realabstraktion, der keine hypothetische oder nominelle, sondern eine synthetische und reelle Bedeutung zukommt. Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend zu machen, das bedeutet, nicht nur nach Marx, die Wirklichkeit zu zerstören. Das Absehen von der Leiblichkeit und den Bedürfnissen der Individuen eröffnet das Schisma zwischen den besonderen Menschen und dem allgemeinen Menschen, zwischen dem empirischen Individuum und dem Transzendentalsubjekt, das sich im Gattungsbegriff darstellt, in den Menschenrechten ausspricht und im Souverän verkörpert. Der Souverän ist – was die politische Theologie noch wußte, die Politikwissenschaft aber nichts angeht – der allgemeine Mensch und damit die praktische Wirklichkeit und gesellschaftliche Existenz eines logischen Widerspruchs. Alles ist eines: die Menschen als Subjekte wie die Dinge als wertvolle Waren. Die Realabstraktionen der juristischen Person und des Geldes befassen noch das Verschiedenste unter sich, identifizieren die Dinge und die Individuen als sich selbst gleiche und drücken ihren kleinsten gemeinsamen Nenner aus, der nicht der ihre ist, ›als ob‹ (Kant) er es doch sei. Dergestalt supponiert das transzendentale Subjekt sich dem empirischen Individuum und substituiert es als Instanz der Vergesellschaftung.

Der interne, logische Widerspruch der Realabstraktion, ihre interne Unmöglichkeit und immanente Haltlosigkeit können nicht an ihr selbst, sondern allein in der Unfähigkeit der Empirie erscheinen, ihrem eigenen Begriff wahrhaftig zu genügen und rückstandslos zu entsprechen. Das transzendentale Subjekt wendet sich gegen das empirische, um an ihm sich zu illustrieren; sein innerer Widerspruch erscheint als Gegensatz, gar Widerstand des Empirischen gegen seinen Begriff. Das Menschenrecht, Ausdruck der Spaltung zwischen der materiellen, aber uneigentlichen, und der ideellen, dafür allerdings wesentlichen Menschheit, erzeugt, als conditio sine qua non seiner eigenen Geltung, Unmenschen und Übermenschen. Es ist der ideologische Überbau der etatistisch garantierten, kapitalisierten Gesellschaft und damit die praktische Gedankenform, in der die profitable Verwertung des Menschen als gesellschaftlich inszenierte Spaltung der Menschheit in wertes und unwertes Leben sich ausspricht. Anthropologie, die Lehre vom Menschen an sich, ist die Anleitung zu Totschlag, Mord, Vernichtung, die der Souverän in der Konsequenz des Übergangs vom universellen Menschenrecht zum nationalen Bürgerrecht als das innere Wesen und objektive Latenz von Staatlichkeit exekutiert. [...]

Im Rassismus halluziniert der Bürger seinen Untergang in krude Natur, im Antisemitismus seine Liquidation durch den hypertrophen Geist. Die – im Rassismus –  so allgemeine wie diffuse Angst vorm Verschwinden seines Subjektcharakters im plump Kreatürlichen kommt –  im Antisemitismus –  mit der allerdings spezifizierten und exakt adressierten Furcht vor der Auflösung seiner Subjektivität durch die geheimnisvollen Mächte des Abstrakten überein. Der Rassismus signalisiert den äußeren Widerstand gegen den Alleinvertretungsanspruch, den das bürgerliche Subjekt auf die Gattung erhebt, der Antisemitismus dagegen demonstriert dessen inneren Antagonismus, der die kapitale Totalität ihres narzißtischen Größenwahns zu überführen droht. Im Rassismus rekapitulierte das bürgerliche Subjekt seine siegreiche Revolution gegen das nur subjektiv und bloß uneigentlich Menschliche; es betrieb die Entwertung der Erscheinung durch das Wesen. Während die Opfer des Rassismus den Gegensatz zum Subjekt zu verleiblichen hatten, wird an denen des Antisemitismus der Widerspruch im Subjekt selbst ausgetragen. So tritt dem nutzlosen und also unwerten Leben des Unmenschen das überwertige und erst so recht überflüssige Leben des Übermenschen zur Seite: Das Subjekt, das dergestalt des Risikos der Vermittlung sich entledigt hat, das seine ambivalente Funktion als lebende Synthese von Citoyen und Bourgeois abgestreift und seine existentielle Identität als gemeines Gesellschaftstier (zoon politicon) gewonnen hat, schreitet voran zur Verwertung der Erscheinung durch das Wesen. [...]