Initiative Sozialistisches Forum – Karl Marx, Israel und die Militanz der Vernunft * Einladungstext zum jour fixe Herbst/Winter 2006/07

Karl Marx, Israel und die Militanz der Vernunft

Initiative Sozialistisches Forum

Gesellschaft ist ein Bestiarium. Daß die Dinge des Lebens einen Wert haben, ist den Insassen der bürgerlichen Gesellschaft längst objektiv geworden und zur zweiten Natur. Daß die verkehrte Gesellschaft sich verschwinden macht, indem sie sich als Geld setzt und als Kapital bewegt, daß sie sich erst verdinglicht um sich sodann zum Automaten zu verlebendigen, liegt auf der Hand. Derart niederschmetternd erscheint diese Objektivität, daß das Bedürfnis nach erhebender Subjektivität enorm wird. Die Individuen, als Subjekte die losgelassenen Egoisten der allgemeinen Konkurrenz, hungern im genauen Maße nach bedingungsloser Einheit. Wahrheit ist hier das Gleitmittel zum Konsens, die Methode, das Einverständnis damit, was ohnehin der Fall ist, aus eigener Freiheit zu unterschreiben. Was der Mensch im Zustand der kapitalisierten Gesellschaft braucht, das ist, die “Frankfurter Allgemeine” spricht es aus, “ein Sinnsystem – ob Religion, Philosophie oder etwas ganz anderes. Es geht darum, seinen Platz im Kosmos zu finden”, im absolut vorausgesetzten Ganzen. Wo die Wirtschaft das Schicksal sein soll, muß Sinn sein; da braucht das Kollektiv der Vereinzelten den Staat. Er erscheint als das Reich der Freiheit, als Ort der Selbstbestimmung, als Paradies des freien Willens und als bloße Funktion der Regelung der Gesellschaft durch sich selbst, d.h. als Apparat, der bloß die Stimmen auszählt. “Wenn Institutionen die Hardware unserer Gesellschaft sind, ist Vertrauen die Software”, so erkannte die “Welt am Sonntag”. Der Bourgeois will wissen und fühlen, wie grandios und frei er als Citoyen ist; er vernebelt sich selbst und fügt seiner Zwanghaftigkeit so den Voluntarismus hinzu. Das objektiv notwendige, eben deshalb falsche Bewußtsein von der Ökonomie kann ohne das ebenso verkehrte von der Politik nicht haushalten, so wenig, wie Ausbeutung bestehen kann ohne die Herrschaft. Der Staat ist, im Prinzip (und wenn nur diese Regierung nicht wäre), ein guter Mann.

Die Gesellschaft der Deutschen ist nicht nur ein Bestiarium, sondern sie genießt das in vollen Zügen. Anderswo ist der Mensch des Menschen Wolf, hier ist er‘s mit voller Absicht und in aller Leidenschaft des Selbstbewußtseins. Das besonders Bösartige der Ideologie von der Volkssouveränität speist sich in Deutschland daraus, daß die Landsleute unmöglich die beglückende Erinnerung an die totale Verschmelzung von Gesellschaft und Staat abtun können, die ihnen der Nazifaschismus bescherte. Die Einheit war einmal real gewesen und handgreiflich in Winterhilfswerk, Raubkrieg und Massenvernichtung. Daß sie Wirklichkeit nur werden konnte im barbarischen Mordkollektiv, wird im Nachhinein zwar abgespalten, verdrängt und beschwichtigt, bleibt aber gerade darin als Objekt der Begierde erhalten, d.h. als Faszinosum und als Tabu. Der NS war, wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Exil notierten, nicht einfach so Barbarei, “sondern der Triumph der repressiven Egalität, die Entfaltung der Gleichheit des Rechts zum Unrecht durch die Gleichen”, und “Rasse (…) die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums, integriert ins barbarische Kollektiv”. Hitler, der, einem anderen Wort Adornos zufolge, “wie kein anderer Bürger das Unwahre am Liberalismus durchschaute”, buchstabierte dessen Konsequenz aus. Denn die kapitalisierte Gesellschaft ist der Widerspruch in sich selbst, eine entfaltete Wirklichkeit, die eine logische Unmöglichkeit ausdrückt: die Selbstentzweiung und Spaltung der menschlichen Gattung.

Die Selbstzerstörung des Liberalismus, das, was Karl Marx die “Aufhebung des Kapitals auf seiner eigenen Grundlage” nannte, imprägniert auch die Zeit nach dem 8. Mai 1945. Denn wenn es denn stimmt, daß der Verbrecher die Strafe will und wollen muß als gesellschaftliche Anerkennung seiner Tat, dann wurde Deutschland – indem die Rache für Auschwitz ausblieb bzw. in den Prozessen von Nürnberg keinesfalls radikal genug sich vollzog – um das Gesetz betrogen, um die ausgleichende Gerechtigkeit, die das Prinzip der Äquivalenz im Tausch immerhin enthält. Nach 1945 ergab sich eine bürgerliche Gesellschaft im Zustand ihrer allseits geglaubten Simulation und also der Staat des Grundgesetzes, der den Massenmord und seine gesellschaftliche Resultate als sein Gründungsverbrechen anerkannte und prolongierte. Indem der Staat der Volksgemeinschaft das Versprechen unbedingter Einheit wahrmachte, verschaffte er sich selbst und seinen Subjekten das kathartische Erlebnis, wie im Traum zu agieren, d.h. in einem Zustand, in dem keine Grenze zwischen Wunsch und Wirklichkeit mehr existiert: “Triumph des Willens”, gnadenloser Idealismus nach der Maxime, Gerechtigkeit müsse sein, auch wenn die Welt darüber zugrunde ginge. Daraus folgen die Maßstäbe, nach denen Deutschland sich selbst und den Rest der Welt beurteilt, insbesondere Israel.

“Wir Deutschen haben eine komplexe Psyche und neigen zur Fokussierung auf das Negative”, schreibt etwa “Mobil”, das Reklameheftchen der Bahn AG, aber das Negative verspricht doch prickelnde Angstlust. Und dann soll, fordert die FAZ, “die unideologische Gegenwart den Blick auf die Weite nationaler Vergangenheit eröffnen, die nicht mehr blockiert ist vom ‚Riegel‘ der zwölf nationalsozialistischen Jahre”. Entriegeln, das will sagen: restlos enthemmen. Und das Gleiche noch einmal, diesmal für die akademisch gebildeten Leser der “Zeitung für Deutschland”: “Wie ein Mensch durch Gedächtnisverlust die Kommunikationsfähigkeit verliert, so würden auch wir Deutsche unsere interkulturelle Kommunikationsfähigkeit verlieren, wenn wir unsere Geschichte vergäßen. (…) … für niemanden, auch nicht für ein Volk, kann die Betrachtung allein der Katastrophen heilsam sein, denn sie ermuntert nicht.” Eine Geschichte muß her, die zum Muntermacher taugt. Und so geht es weiter und so fort im veröffentlichten Bewußtsein, denn, so “Die Welt”, “die Fragen von damals sind heute wieder aktuell geworden: Was ist Deutschland? Was macht den Deutschen aus? Welche Werte sind entscheidend? Wo liegt Deutschlands Rolle in der Welt?” Es versteht sich, daß die penetrante Frage danach, was denn deutsch sei, darauf zielt, das Glück beim Mittun in der Produktivität und die Freuden der Loyalität dazu zu beschwören, d.h. die Begeisterung für‘s Opfer – denn, so ein Leitartikel der FAZ, schon “für Moltke war ‚Krieg ein Glied in Gottes Weltordnung‘, in dem sich edle Tugenden entfalteten und ohne den die Welt im puren Materialismus versänke.” Schon für Moltke! Und dann?

Es ist hier der Hinweis auf den schnöden Materialismus, der die wirkliche Feindbestimmung der Nation ausweist, auf den Antagonisten, der die Landsleute daran hindert, ihre idealischen Neigungen auszuleben, ein diskreter Tip, den die gleiche Zeitung schon zuvor konkretisierte, als sie zum Volkswiderstand gegen den “Import fremder Kulturen” aufrief und gegen ein “Entnationalisierungsprogramm, mit dem das Deutschsein der Deutschen möglichst stark verdünnt werden sollte.” Schnippisch gesagt, ist das “Deutschsein der Deutschen” die pure Tautologie, und wer, außer Insektenforschern, fragt schon nach der Ameisenhaftigkeit von Ameisen. Aber die stupide Sinnlosigkeit dieser Propaganda ist gerade ihr eigener Inhalt: Deutschsein, das meint den subjektlosen Selbstbezug der Akkumulation des Kapitals willig im Selbstbezug des politischen Souveräns zu verdoppeln und zu verdreifachen. Materialismus, die Verweigerung des Opfers, kann hier nur stören und gilt, wie die Nazis es ausdrückten, als “fremdvölkisch” und als Sabotage.

Wie diese Blütenlese zeigt, liegt der Nation etwas auf dem Herzen und mehr noch auf der Zunge, das sie aussprechen möchte, aber nicht die Traute dazu hat. In Permanenz bekämpft sie ihre Faschismusneigung, will den Rückfall nicht zulassen – in den Mitteln ihres Kampfes jedoch gibt sie ihre Faszination zu, die Kehrseite ihrer panischen Angst, die Rache für Auschwitz möchte doch noch eintreten. Denn weil die Nation sich so sehr um das “Deutschsein der Deutschen” sorgt, darum weiß sie genau und um so besser, was sich mit den Juden zuträgt. Weil man seit 1933 weiß, was ein Staat ist, der dem eigentlichen Begriff von Staatlichkeit wirklich angemessen ist, debattiert man mit Lust über das sog. “Existenzrecht” Israels. In diesem Selbstgespräch führt sich die Nation vor Augen, wie der Staat des ganzen Volkes auszusehen hat, und sie klärt sich über die Bedingungen ihrer eigenen kapitalen Existenz auf ex negativo des jüdischen Staates. Israel muß Menetekel sein. Wenn daher der Sozialdemokrat Gernot Erler, Staatsminister im Auswärtigen Amt, im Bundestag erklärt, “das bedingungslose Bekenntnis zum Existenzrecht des Staates Israel bleibt für uns einer der Grundpfeiler der deutschen Außenpolitik”, wenn also das Recht auf das bloße Dasein so emphatisch hervorgehoben wird, steht es, als Bekenntnis und also Gesinnungsfrage, schon zur Disposition. Wenn der Christdemokrat Eckart von Klaeden, außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, deklamiert, “das Bekenntnis zum Existenzrecht Israels gehört zu den ungeschrieben Verfassungsgrundsätzen”, wenn gar der oberste Administrant des Gewaltmonopols, Innenminister Schäuble, verlautbart, das “Existenzrecht” Israels sei Teil der deutschen “Staatsräson”, dann ist zu ahnen, wie wenig die “Räson” des Staates mit Vernunft schaffen hat, vielmehr Kalkül ist. Unter der Parole des “Existenzrechts” rückt man Israel mit Waffengewalt immer näher auf die Pelle, noch nur indirekt mit der Bundesmarine; aber schon die mit Verve diskutierte Möglichkeit, was denn – im Falle einer Stationierung deutscher Soldaten zwischen Israel und der Hizbollah – geschähe, wenn Deutsche auf Juden schießen müßten, offenbart nichts als Angstlust. Man möchte auf Juden schießen, aber einstweilen fehlt der Vorwand, der Anlaß zur putativen Notwehr. In diesem genauen Sinne schrieb die Wochenzeitung des Bundestages auf Seite Eins vom “letzten Tabu deutscher Außenpolitik”: Es muß gebrochen werden, soll die Staatsräson wieder frei sein. Man wartet auf den entscheidenden Zwischenfall, tastet sich vor, schafft alle Bedingungen, um dann, wenn “es” passiert, als Unschuld vom Lande loszuschlagen.

Überhaupt versteht man die offizielle Bejahung des “Existenzrechts” für Israel nicht, betrachtet man nicht die obskuren Orte von ganz links bis ganz rechts, an denen die Bedingungen verhandelt werden, zu denen Juden überhaupt ein “Recht” auf Staatlichkeit zustünde. Studiert man das, könnte man auf die liberale Idee kommen, es seien die Extreme von Links und Rechts am Werke, die sich hochschaukeln, während sie doch nur der Mitte zum Bewußtsein ihrer ureigenen Zwecke verhelfen. So nennt etwa der islamfaschistische “Muslim-Markt” Israel einen “Pseudostaat”, einen Staat, der “ohne jegliche Konzepte für Gerechtigkeit existiert” und daher am höheren Sinn der Staatsgewalt sich versündigt, während ein erprobter Antiimperialist in der “jungen Welt” zuerst befindet, die “Künstlichkeit” Israels sei “evident”: “Es ist ein Staat aus der Retorte”, also kein organischer Volksstaat, woraus dann zwingend folgt: “Dieser Staat ist nicht” – im Gegensatz zu allen anderen auf der Welt! – “der politische Ausdruck seiner Bürger…” Israel ist eben, so der Autor von “Sophies Welt”, Jostein Gaardner, “ein Staat, der auf antihumanistischen Prinzipien gegründet ist”, während die allgemeine Praxis doch darin bestünde, Staaten höchstens als verschwindende Hilfsmittel der Selbstvervollkommnung der Menschheit zuzulassen. Die Rede vom “Existenzrecht” ist, sekundiert www.kpd-online, nur der “Rauchschleier” der israelischen Aggression gegen Libanon, das Anti also vom “wahrhaft unabhängigen, wahrhaft souveränen und freien Staat Palästina”. Mit der Ideologie vom “wahrhaft freien Staat” hat der Rücksturz aus der marxschen Staatskritik endgültig stattgefunden, d.h. aus der Kritik der politischen Ökonomie in die sozialdemokratische, seit Ferdinand Lassalle gängige Propaganda vom Volksstaat. Ihr ökonomisches Pendant ist die Sehnsucht nach dem “gerechten Preis”, keineswegs die Abschaffung von Wert, Geld, Kapital. In diesem System wird, so auf “ZNet Deutschland – a community committed to social change”, immer am Beispiel Israel, zwanghaft die eine Frage erörtert: “Welche Art Staat hat es verdient zu existieren?”

Das “letzte Tabu” deutscher Politik hat es an sich, auf den Moment zu provozieren, da es wie Schuppen von den Augen fällt, das erlösende Stichwort zu finden, das die Islamfaschisten und die Marxisten-Leninisten der Staatsräson und der Mitte so gerne geben möchten und das doch tatsächlich nur ein Ereignis, einer dieser typischen “Zwischenfälle” liefern kann, aus denen die großen Geschichtskatastrophen folgen: “Die Juden sind unser Unglück”, nur diesmal wegen Auschwitz – das ist der bohrende Nerv des “Bekenntnisses” zum “Existenzrecht”, hinter dem nur als tatsächliche Garantie nur die Macht und die Gewalt Amerikas steht, es mit dem “lebensunwerten Leben” noch aushalten zu müssen. Versteht sich, daß die Islamfaschisten in diesem fatalen Wettbewerb die weitaus besseren Karten haben als die rechten Genossen von links mit ihrem Phantasma vom “emanzipatorischen Antizionismus”. Zum einen historisch: weil das programmatisch vollzogene Bündnis des NS mit dem Islamfaschismus nur mit knapper Not militärisch bei El Alamein verhindert werden konnte; zum anderen aber systematisch: weil die Umma, die praktizierte Utopie islamistischer Vergesellschaftung, d.h. die repressive Identität von Individuum und Gesellschaft, mit der Volksgemeinschaft keineswegs nur äußerliche Parallelen aufweist. Dies ist der Grund, d.h. ausgerechnet extreme Intimität ist die Ursache dafür, daß die Bundeskanzlerin das antizionistische Bündnisangebot, das Irans Chef Ahmadineschad kürzlich unterbreitete, zurückweisen mußte. Es ist nichts im Bewußtsein der Kanzlerin, schon gar nichts in dem der “Zeitung für Deutschland”, das nicht sein Angebot, im Verein gegen “bestimmte Gruppen” vorzugehen, die “das große Deutschland als Verlierer und Schuldner des Zweiten Weltkrieges … ständig erpreßt” hätten, zutiefst ersehnt hätte, gar nichts, das sich nicht danach sehnte, wie der Chef schreibt, “gegen diejenigen, die als die ewig Fordernden gegen das große deutsche Volk auftreten”, Front zu machen, und weniger als nichts, das nicht den Massenmord als “Vorwand” für einen antideutschen, d.h. “erpresserischen Ansatz” hielte. Das Angebot wurde ausgeschlagen, weil man es annehmen wollte: Soviel zur Dialektik der Geschichte.

Es war einmal, als diese Dialektik der Geschichte, als vollendet negative, noch materialistisch bedacht wurde. Damals schrieb Karl Marx den “kategorischen Imperativ” auf, alle gesellschaftlichen Verhältnisse umzustürzen, unter denen die Gattung sich selbst widerspricht, d.h. jedweden Zustand der Herrschaft des Menschen über den Menschen. Kein Staat verdient zu existieren, außer, als Notwehr, Israel. Heute dagegen kann sich “Der Spiegel” darüber freuen, daß, in Lubumbashi, im Kongo, “ein Stammtisch zur Förderung des deutschen Wesens” aufgemacht wurde. Das ist der Unterschied ums Ganze. Und darum war der Krieg der israelischen Armee gegen die Hizbollah ein guter Beweis dafür, daß die Militanz der Vernunft noch Zukunft hat. Anders gesagt: die israelische Armee ist der bewaffnete Arm der revolutionären Kritik im Stande ihrer gesellschaftlichen Unmöglichkeit.

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