Einladungstext zum Jour Fixe Früjahr/Sommer 2003 – Krieg und Frieden, Schuld und Sühne

Initiative Sozialistisches Forum

Krieg und Frieden, Schuld und Sühne

Das “Gewaltrecht des Guten” in der “Stunde der Wahrheit”

So kaltblütig die Deutschen über ihre eigenen Untaten hinwegsehen, so heißblütig verurteilen sie den “Bombenterror” in Dresden und Bagdad. Nie erörtern sie die Rolle der Gewalt in der Geschichte nach Maßgabe der Vernunft, das “Gewaltrecht des Guten” (Bloch) gar ist ihnen verhaßt. So schwanken sie zwischen konkretem Militarismus und abstraktem Pazifismus, ganz wie der nationale Instinkt ihnen befiehlt.

Daß dieser zur Zeit als “pazifistischer Grundinstinkt” (FR) seine Fußtruppen rekrutiert, ist lediglich der militärischen Schwäche geschuldet. Hatten schon die vergangenen Friedensbewegungen gegen Pershings und zweiten Golfkrieg in scheinbarer Opposition zum Staat als “Türöffner zur nationalen Frage”, so der damalige Friedensforscher und heutige Neonazi Alfred Mechtersheimer, fungiert, ziehen die pazifistischen Massen der Gegenwart den Schlußstrich, indem sie sich auch manifest als ideologische Staatsapparate betätigen und damit der geopolitischen Strategie Deutschlands die Absolution erteilen. Dieter Bohlen und Oliver Kahn sind ihre authentischen Fürsprecher, die sie verdienen. In der “Stunde der Wahrheit” (George W. Bush) bricht die vermittlungslose Oszillation zwischen der bewaffneten Staatsräson als dem Idealismus der Politik und dem so gewaltfreien wie hysterischen Moralismus der Kleinbürger in sich zusammen. Die Einheit von Staat und Gesellschaft erscheint als eben der monolithische Block, der sie ihrem Begriffe nach immer schon war: Thron und Altar, Kanzler Schröder und Pastor Schorlemmer haben einander gesucht und gefunden wie stets die Eliten den Mob. Für die USA und Israel sich auszusprechen gilt dieser Allianz zu Recht als blasphemischer Volksverrat und wird geächtet wie der Kommunismus.

Weil in Deutschland der Staat nicht als “geschäftsführendes Organ der herrschenden Klasse” und nicht als Gewaltmonopol der Bourgeoisie auftrat, sondern als Volksstaat und gewaltfrei im Recht verfaßte Inkarnation des deutschen Volkswillens, speiste sich das Verhältnis der Deutschen zur Gewalt – von den reaktionären Befreiungskriegen gegen Napoleon bis hin zur Solidarität mit Saddam Hussein – stets einzig aus der Liebe zu ihrem Staat. Diese obstinate Politik blendete auch die Opposition, mal mit aufrichtiger Begeisterung, mal mit aufrechter Dummheit. Dagegen hatte die kritisch-kommunistische Erörterung der Rolle der Gewalt in der Geschichte, wie sie etwa theoretisch von Karl Marx im Namen der Internationalen Arbeiterassoziation in seiner Solidaritäts-Adresse an Abraham Lincoln während des amerikanischen Sezessionskrieges und wie sie etwa praktisch von den Anarchisten im spanischen Bürgerkrieg unternommen wurde, keine Chance: Weil die Idee des revolutionären Krieges, weil die Frage nach dem “Gewaltrecht des Guten” rabiat verfemt wurde, verkam sogar die Rote Armee Fraktion (RAF) zum bewaffneter Arm des Volkswillens und militanten Teil der deutschen Friedensbewegung. Indem sie Israel das Recht auf Selbstverteidigung gegen den realen arabischen Antisemitismus absprach und den Deutschen das Recht auf “Selbstverteidigung” gegen einen halluzinierten “US-Imperialsimus” zusprach, verkehrte sich revolutionäre Gewalt in ihr Gegenteil.

Schon als es 1914 in den Ersten Weltkrieg ging, gab es keine Parteien mehr, nur noch den ungeheuren Jubel der Deutschen, ihren unbedingten Willen zur Macht und zum Selbstopfer. Dann, ab 1939, gab es noch viel mehr Deutsche, die in eiskalter Leidenschaft für die Volksgemeinschaft zur Tat, der Ausrottung aller Juden schritten. Aber auf den Enthusiasmus der ersten Mobilmachung folgte die grandiose Pleite: erst Verdun, dann der “Dolchstoß”. Und auf die zweite Mobilmachung folgten Stalingrad, El Alamein und Omaha Beach. Im “unconditional surrender” büßte das Reich die Souveränität ein und wurde endlich unter Kuratel gestellt: Politisch endete der zweite “Griff nach der Weltmacht” mit der totalen Niederlage.

Aber die Deutschen triumphierten im Weltvernichtungskrieg gegen die Juden. So hat gesellschaftlich der Nazifaschismus in letzter Instanz gesiegt. Treblinka, Auschwitz und Majdanek blieben ungesühnt. Hatten die Alliierten im Krieg das wirkliche deutsche Täterkollektiv bekämpft, so geriet der ohnehin vergebliche Versuch der juristischen Aburteilung des Völkermords im Aufbau der Nachkriegsordnung vollends zur Farce. Schon den Schuldspruch für ein Dutzend ihrer Führer verstanden die Deutschen als Freispruch des Kollektivs. Seitdem gilt ihr bewußtloses und zielsicheres Streben der Austilgung jeder Erinnerung an die singuläre deutsche Vernichtungstat. Für die Bewältigung ihrer Vergangenheit ist ihnen keine “Erinnerungspolitik” zu mühsam und keine “Friedenspolitik” zu kostspielig. Indem die Äquivalenz von Geben und Nehmen, von Schuld und Strafe außer Kraft gesetzt blieb, blieb das Wesentliche am Nationalsozialismus in Kraft: jene halluzinierende Unfähigkeit zum bürgerlichen Realkalkül, die Hannah Arendt schon nach dem 8. Mai an den Deutschen beobachtete, eine Qualität, die bis heute zum gesellschaftlichen Konstitutivum der postnazistischen Gesellschaft gehört. Es ist eben das, was sich die Deutschen gerne als “faustischen” Nationalcharakter zuschreiben. Es ist dies aber in Wirklichkeit die fugenlose Verschmelzung von Staatsidealismus und Individuum: Der unbedingte Wille zum Überschuß des bornierten Zwecks der kapitalen Vergesellschaftung in absolute Moral. Die negative Aufhebung des Kapitals in Barbarei, d.h. die Institution einer originär neuen, vom dogmatischen Marxismus aller Fraktionen nicht vorgesehenen Gesellschaftsformation eigener Qualität und Ordnung, setzte als das politische Selbstbewußtsein des Kapitals einen Souverän, der ebenso vollendet wahnhaft wie restlos ernsthaft seine historische Mission darin erblickt, durch die Ermordung des letzten Juden für immer die Krise des Kapitals zu heilen.

Kein Wunder daher, daß Antisemitismus, Antizionismus, Antiamerikanismus und Antiimperialismus im selben Maße virulent werden, in dem auch die “Frankfurter Allgemeine” konstatieren muß, daß “das Ausmaß der Kursverluste Erinnerungen an der großen Börsenkrach von 1929 weckt”, um dann zu fragen: “Steht nun ein ähnlicher Niedergang der Weltwirtschaft bevor? Wird sich der Kapitalismus nach seinem Triumph selbst zerstören?” In Deutschland geht nichts verloren – und so ist es die Krise des Kapitals, die das im Gedächtnis des Souveräns gespeicherte Wissen davon aktualisieren wird, wozu das Gewaltmonopol, das unbedingte Recht auf Leben und Tod, sich verwenden läßt. Die Existenz Israels mahnt als Versteinerung der Geschichte allerdings daran, daß die Deutschen ihren Krieg nicht, auch nicht im Bündnis mit dem Mufti von Jerusalem und den arabischen Antisemiten, wie geplant zum Abschluß zu bringen vermochten. Israel mahnt an die ungesühnten Verbrechen der Deutschen und bleibt eine materielle Grenze des antisemitischen Vernichtungswillens. Dies prägt bis heute die Haltung der Deutschen zum Krieg, gleich, ob sie sich der militaristischen oder der pazifistischen, der deutschnationalen oder der atlantischen Fraktion zurechnen. Weil sie nicht verstehen wollen, daß der Kampf der Royal Air Force der gerechte Krieg gegen die Deutschen, das zum letzten entschlossene, klassenübergreifende Mordkollektiv, war, weil sie noch weniger verstehen wollen, daß einzig die Zerstörung Deutschlands wenigstens eine Ahnung von Vernunft in der Geschichte hätte aufkommen lassen können, glauben sie bis zum Endsieg an die weltweite deutsche Mission.

Es ist der Doppelcharakter von Sieg und Niederlage, dessen verschwiegenes Zentrum: der Krieg gegen die Juden und der Drang, diesen Krieg doch noch zu Ende zu bringen, der die Haltung der Deutschen zum Krieg bestimmt. Bis 1989 konnten nicht nur die Noltes und Dre ggers sich im Nachhinein damit beruhigen, den Krieg gegen die Sowjets als eine Art vorweggenommene NATO geführt zu haben. Nicht als Befreier, sondern durch die Identifikation mit dem vermeintlichen Aggressor liebten sie die Amerikaner. Auch den Juden war wohlwollende Aufmerksamkeit in archäologischen Kulturseminaren und christlich-jüdischen Versöhnungskreisen gewiß. In einer grandiosen Übersprungs- und Ersatzleistung feierte man Israels Kriege gegen seine auf Vernichtung sinnenden Nachbarn als Wiederauferstehung Rommels. Im Proamerikanismus und Philosemitismus überwinterten Antiamerikanismus und Antisemitismus, die zwar öffentlich tabuisiert, keineswegs durchgearbeitet, kritisiert oder gar revolutioniert waren.

So ging das ein halbes Jahrhundert, und 1989 war es damit definitiv vorbei. Seitdem erschüttern Dutzende Kriege die Welt. Die multinationalen, despotischen Imperien sowjetischen Typs, jener staatskapitalistischen Kreuzung aus Vatikan und GULag wurden zerstückelt. Nur wenige der neuen staatlich organisierten Volksstämme dürfen hoffen, für die Resteverwertung in der EU zu taugen. Jene, die solche Illusionen nicht haben dürfen, radikalisieren den Krieg der Völker zum Jihad gegen Juden und Amerikaner. Demgegenüber versucht die Weltpolizei in Gestalt der USA die weltweite Ausbeutungsordnung gegen die staatlichen und organisatorische Zentren der “Schmalspurfaschisten” (Fanon) aufrechtzuerhalten.

Diese Kriege erschütterten aber zugleich das komfortable deutsche Verhältnis zum Krieg, in dem sich der bewaffnete und der gewaltfreie Arm der zwangsdemokratisierten Volksgemeinschaft eingerichtet hatten. Denn die Raison der NATO – die Russen draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen unten zu halten – ist perdu. Damit tritt der fundamentale Widerspruch zwischen der US-amerikanischen Vergesellschaftungsweise des Kapitals und der deutschen, auf antisemitischem Massenmord und Vernichtungswahn beruhenden, in dem Maße hervor, in dem der nächste Griff nach der Weltmacht präpariert wird. Wer “Dresden” zum Symbol des sinnlosen Krieges macht, leugnet die Notwendigkeit des Krieges gegen die Deutschen. Wer “aus dem Schatten der USA” treten will, will erneut den deutschen “Platz an der Sonne”. Wer einen “völkerrechtswidrigen Vernichtungskrieg” der USA halluziniert, der ermächtigt die Völker zum totalen “Widerstand”. Man kann darauf vertrauen, daß der unterschwellige Ton dieser Botschaft verstanden wird, denn dieses Deutsch versteht man in allen Nationen. So erklärte etwa die indische Literatin Arundhati Roy auf dem letzten Weltsozialforum in Porto Alegre: “Heute wissen wir, daß die Argumente, die zur Einstimmung auf den Irak-Krieg dienen, Lügen sind. … Menschen zu töten, um sie vor Diktatoren oder ideologischer Verderbnis zu bewahren, ist ein alter Sport amerikanischer Regierungen”. (FAZ) Daher feiert sie ein Jahr später den “erstaunlichen Kampfgeist vieler Iraker”: “Es ist phantastisch, wie sie Widerstand leisten und bestätigt meine Hoffnung …” (Spiegel) – nämlich auf den allgemeinen völkischen Amoklauf. Die weltweite Eskalation des Antisemitismus auf den Straßen von Berlin, Paris und Kopenhagen korrespondiert auf’s engste mit den zunehmend offen antizionistischen Distanzierungen von Israel. Denn der Antizionismus, der Haß auf Israel, war noch nie etwas anderes gewesen als die weltpolitische Veröffentlichung des gesellschaftlichen Antisemitismus. In Deutschland allerdings war er zugleich dies und mehr: nicht “nur” und nicht allein eine Ideologie, nicht “nur” und nicht allein der Schnittpunkt, in dem Lohnarbeit und Kapital in ihrem Treuhänder, dem Staat, sich beruhigen konnten, sondern zugleich weltpolitischer Ermächtigungsauftrag und Programm globaler Bündnisse.

In der von Pazifisten und Militaristen gemeinsam betriebenen vollen Wende gegen die USA treten die Konturen der deutschen Strategie hervor: die Wiederbelebung des Bündnisses mit dem arabischen Nationalismus und mit dem Islamfaschismus. Die deutsche Ideologie positioniert sich als wärmender Volksstaat des “rheinischen Kapitalismus” gegen die “egoistische Kälte” und den “ungezügelten Machthunger” der USA. Ebenso zwangsläufig erkennt sie in Israel die Inkarnation der Verletzung des Völkerrechts und wird den Staat der Juden solange “gleichbehandeln”, bis er verschwunden ist. Der Krieg der Vereinigten Staaten gegen den Irak ist sowohl ein Fingerzeig an die Deutschen, es nicht zu weit zu treiben, als auch eine Garantie für Israel. Was hier stattfindet, ist eine Art Schattenboxen, in dem sich die Gegner ihrer wirklichen Fähigkeiten, Ziele und Bündnispartner innewerden. Ob der Krieg gegen das Baath-Regime eine “Demokratisierung” des Irak bewirken wird, kann man nicht wissen und folglich bezweifeln. Mit Sicherheit aber wird eine Zerschlagung deutsch-arabischer Hoffnungen auf eine weitere “Intifada”, bzw. ein zweites “Vietnam”, bzw. “Stalingrad” die weitere Formierung der antisemitischen Internationale behindern und der fragilen Existenz Israels im Nahen Osten die dringend nötige Atempause verschaffen.

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