Um Sarajewo: Der Krieg der Pazifisten

Initiative Sozialistisches Forum

Um Sarajewo: Der Krieg der Pazifisten

Wie nach innen, so nach außen: Ein Staat, der als der geschäfts­führende Ausschuß aller am gedeihlichen Fortgang der Kapi­talakkumulation interessierten Klassen daheim Sozialpolitik treibt, kann nach auswärts nur als Geopolitiker und Frie­densstifter auftreten, als Autor wie Garant sei es ei­ner “pax romana” oder “pax britannica”, sei es einer “pax americana”, einer “pax sovietica” oder “pax teutonica”. Unter der Bedingung des totalen Weltmarkts, das heißt unter den Auspizien des global gewordenen Funktionszusam­menhanges der Ausbeutung, kann die internationale Konkur­renz der Kapitale nur identisch sein mit dem staatlich inaugurierten Versuch, das nationale Akkumulations­modell zu exportieren, zu internationalisieren, letztlich: zu globali­sieren. Der Untergang der “friedlichen Koexistenz”, d.h. das Ende des historischen Patts zwischen dem Imperialismus der freien Konkurrenz und dem Staatskapitalismus der büro­kratischen Planifikation, wirft erneut die Frage auf, wer “das letzte Wort” hat, wer “die letzte Instanz” darstellt, gegen die keine Berufung mehr möglich ist, wer die ultima ratio der fraglos überlegenen Gewaltmittel verwaltet, wer also der Friedensstifter sein wird, der die Gewaltfreiheit der Ausbeutung nicht allein erzwingt, sondern vielmehr als den legitimen Ausdruck von Gerechtigkeit glaubwürdig in Szene setzt. Der Staat, dem es gelingt, sich zum Friedensstifter aufzuwerfen, muß nicht allein sein Gewaltmonopol internationalisieren. Um Schiedsrichter zu werden, um als die Justitia auf­zutreten, die für alle besonderen Interessen blind ist, nur nicht fürs eigene allgemeine, hat er zudem seine spezifische “Staatsidee” zu verbreiten, also sein historisches Projekt der Vermittlung der Akkumulation des Kapitals mit der Reproduktion der Gesellschaft, d.h. sein Projekt ideologischer Hegemonie.

Es macht das Unglück der Stadt Sarajewo aus, ins Fadenkreuz gleich dreier Weltbefriedungsversuche und ihrer bewaffneten Organe geraten zu sein. Während Amerika den Versuch unternimmt, seine Hegemonie über Europa zu behaupten, arbeitet Deutschland daran, sie im historischen Bündnis mit Kroatien zu untermi­nieren – während zugleich beide bestrebt sind, einander im Kampf gegen Serbien als den letzten Stützpunkt des verblichenen staatskapita­listischen Systemfeindes wie als neuen Vorposten der reno­vierten asiatischen Despotie zu überbieten. Das strategi­sche Dilemma der deutschen Friedensstiftung liegt darin, den USA erst dann offen die Stirn bieten zu können, wenn die europäische Einheit nach Maßgabe der deutschen vollen­det ist, d.h. unter der Währungshoheit der Bundesbank wie unter der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, während doch ihr Modell des sozialen Friedens längst hegemonial ist. Deutschland hält das Patent auf die Gerechtigkeit; es zieht im Geiste bereits den Peacemaker, während ihm noch die Mittel fehlen, militärisch selbständig zu agieren. Seine Strategie kann daher nur darin bestehen, klandestin zu wirken und gleichsam subkutan, wie Hans-Dietrich Genscher letztens der “Zeit” anvertraute, “nach und nach die Stabilitäts­zone, die von Deutschland ausgeht, auszuweiten.”

Eine Insel der Stabilität in einem Meer von nichts als Chaos – das ist das Selbstbild, das Leitmotiv und das Über-Ich der deutschen Politik, aus dem sie ihre historische Sendung, ihren Weltgenesungsauftrag ableitet. Seit Bismarck, seit Ebert, seit Hitler, seit Adenauer rühmt sich die deutsche Politik, eine Idee und eine Praxis des sozialen Ausgleichs von Lohnarbeit und Kapital gefunden zu haben, die ihren Gegensatz und Wider­spruch, gar: ihren Antagonismus, im Zeichen des solidari­schen Wettbewerbs um das Wachstum der Produktion versöhnt. Weder Manchester-Liberalismus noch “zentrale Verwaltungs­wirtschaft”, weder rücksichtslose Konkurrenz bis aufs Messer noch allgemeines Staatssklaventum – im Zeichen sei es des “Staates des ganzen Volkes” à la Bismarck und Ebert, sei es der nazistischen Volksgemeinschaft à la Hitler, sei es der “sozialen Marktwirtschaft” à la Ludwig Erhardt bildete sich die deutsche Politik stets nichts weniger ein, als die praktische Lösung des fundamentalen Rätsels der bürgerli­chen Gesellschaft gefunden zu haben, d.h. die Antwort darauf, wie denn Citoyen und Bourgeois zu versöhnen seien und wie Egoismus und Gemein­nutz. Daraus schöpfte sie – von der Emser Depesche über den “Panthersprung nach Agadir” bis hin zur Affäre um den Sender Gleiwitz – ihre jeweils brauchbaren Kriegsgründe. Vom Gründungs­krieg 1870/71 angefangen, über den 1. und den 2. Weltkrieg hinweg bis zur Intervention in den jugoslawischen Bürgerkrieg absolvierte die deutsche Politik einen veritablen Lernpro­zeß. Nichts von dem, was der Souverän je tat und antat, ging verloren. Ganz so als sei er der praktisch gewordene Gesamthistoriker, die unverwüstliche Festplatte der Nation, geht alles in das Arsenal seiner Möglich­keiten ein, in den Fundus seiner Herrschaftstechniken und -taktiken, in das jederzeit mobilisierbare Museum der Macht. Un­denkbar wäre die “soziale Marktwirtschaft” ohne die nazi­stische Vernichtungsgemeinschaft, ist sie doch deren legitimer Vorläufer in einem anderen als nur historischen: in einem strukturellen Sinne; unmöglich die Sozialpartnerschaft von heute ohne die “Betriebsgemeinschaft” des Faschismus; un­vorstellbar schließlich die gegen Jugoslawien angewandte Taktik, das “Recht auf nationale Selbstbestimmung” zur Zerschlagung des letzten Systemfeindes in Anschlag zu bringen, ohne die geschichtliche Erfahrung der Okkupation etwa des Sudetenlandes.

Die Friedensstiftung, die der deutsche Staat zu exportieren trachtet, ist exakt jener Politik der inneren Befriedung nachgebildet, die seit 1933 so überaus erfolgreich war. Das famose “Recht auf na­tionale Selbstbestimmung” meint nichts anderes als die fun­damentale Identität einer bürgerlichen Gesellschaft, die klassenübergreifend als Volk sich organisiert, mit ihrem Staat, meint also eben jene Identität von Regierten und Regieren­den, von der die Politiker träumen: die Utopie der Volkssouveränität, in der sich alle, Faschisten wie Sozialdemokraten, die Grünen und die CDU, einig wissen. “Das Land sind wir alle”, lautete das Motto am lsquo;Tag der deutschen Einheit’, und der Staat sind “wir alle” erst recht. Es versteht sich, daß eine bürgerliche Gesellschaft nicht eben viel hergibt, aus dem ein solch ambitioniertes Vereinheitlichungsprojekt schöpfen könnte. Als politisches Programm, das an materielles Interesse, höhere Einsicht oder gemeinsame Werte appelliert, ist es daher einigermaßen haltlos. Als politökonomisches Projekt jedoch, das die Einheit als Ausschluß bestimmt und das die Volksgemeinschaft als Vernichtungsgemeinschaft ausarbeitet, ergibt sich die Einheit von Volk und Staat zwanglos aus dem kollektiven Verbrechen. Es war der Massenmord an den Juden, der das Einheitsprojekt Wirklichkeit werden ließ, es war die Massenvernichtung, mit der der Führer die sozialen Fundamente des “Standorts Deutschland” legte. Hier fand die Transformation einer potentiell revolutionären Arbeiterklasse in den Stand der mit produktiven Aufgaben nur zeitweilig betrauten Staatsbürger ihr definitives Ende; der Klassenkampf wurde zum Motor und Gleitmittel des Systems. Keine “soziale Marktwirtschaft” daher ohne Majdanek, Treblinka, Auschwitz, Bergen-Belsen, Natzweiler-Struthof. Es ist dieses Modell der “sozialen Pazifizierung”, das das souveräne Deutschland als Friedensstifter so glaubwürdig macht. Deutschland als europäische Führungsmacht, d.h. als Souverän im Großraum vom Atlantik bis zum Ural zu etablieren, ist der strategische Einsatz des Kampfes um Sarajewo. Die anderen Nationen mögen zwar der Methode mißtrauen, mit der Deutschland seine überragenden ökonomischen und sozialpolitischen Erfolge e rrungen hat – vor den Resultaten jedoch blamiert sich die Kritik und wird abermals nationalistisch verniedlicht.

Der Pazifismus und seine Partei, die Grünen, vermögen der deutschen Friedensstiftung weder praktisch noch theoretisch zu opponieren, mehr noch: der Pazifismus wird zur Avantgarde der Friedensstiftung. Im linksbürgerlichen Lager kommt darin eine Entwicklung hin zum manifesten Nationalismus an ihr logisches Ende, die nach 1980 mit dem Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluß begann, 1991 während des Golfkrieges zum offenen Antisemitismus sich steigerte und die nun, seit der Zerschlagung Jugoslawiens, zum selbstbewußten Militarismus des Peacemaking eskaliert. In diesem beschämenden Moment kommt nicht nur die Wahrheit über den Pazifismus zu Tage (daß es eben eine innere Unmöglichkeit ist, den Frieden und das Gewaltmonopol des Staates in einem zu wollen), sondern auch die über die berühmt-berüchtigte “68er”-Bewegung. Nicht allein, daß “1968” irgendwie zum neudeutschen Gründungsmythos geworden ist, d.h. zu einer Art “innerer Reichsgründung”, der in vollem universalistischem Charme wie zivilisatorischem Zauber nun auch die Berliner Republik überstrahlt, nicht genug, daß sogenannte, wie die “Tagesthemen” verlautbarten, “Vordenker der undogmatischen Linken” wie Jürgen Habermas dem Weltstaat UN mit deutschnationaler Gewalt unter die Arme greifen wollen – nein: die volle Drehung hinein die Obhut des staatlichen Friedensstifters muß noch den letzten Vorschein emanzipativer Gewalt denunzieren, der die Rote Armee Fraktion zumindest bei ihrer Gründung inspirierte. Man muß Joschka Fischer gesehen haben, wie er auf dem grünen Strategiekongreß die Bundeswehr feist zum “bewaffneten Kampf” aufrief, um zu verstehen, was geschehen ist: die Kapitulation einer Generation, die als die “Protestgeneration” in die Geschichte einging und die doch nur eine Generallinie kannte: die nach oben. Hatte schon die Gründungsslogan der Grünen “Nicht rechts, nicht links, sondern vorne” etwas unüberhörbar Konformistisches, Völkisches, Protofaschistisches an sich, so offenbart der gegenwärtige Bankrott, der mehr als nur die Pleite, sondern offensive Lobpreisung der Macht ist, daß der “Protestgeneration” im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr heilig ist, daß sie fähig und willens ist, die Tradition der sozialrevolutionären Bewegung zu plündern, um dem Friedensstifter bessere Argumente zu verschaffen, Propagandatricks, die nichts sind als an den Haaren herbeigezogene Rationalisierungen. Die Politik des “Tabubruchs” ist am Ende – und die Behauptung, in Sarajewo werde, wie 1937 vor Madrid gegen die Francofaschisten, der Krieg zwischen Zivilisation und Barbarei ausgetragen, zeigt nur, wie souverän das neue Deutschland tatsächlich ist. Fischer agitiert seine Klientel mit dem spanischen Bürgerkrieg, Volker Rühe die seine mit dem Verweis auf die globale Verantwortung, die den Deutschen aus Auschwitz zuwachse und der sich zu entziehen nichts anderes sei als: Vaterlandsverrat.

Daß die staatliche Friedensstiftung außer mit dem Blabla vom Vaterland noch mit der Aura revolutionärer Gewalt sich rechtfertigt, ist typisch deutsch. Schon Hitler begründete seine Außenpolitik als Kampf einer “proletarischen Nation” gegen die “Weltplutokratie”, darin die Verschmelzung von Kapital und Arbeit bekundend, die allerdings das Wesen der Vernichtungsgemeinschaft ausmachte. Daß jedoch die Expansion von “sozialer Marktwirtschaft” und “deutscher Rechtsstaatlichkeit”, daß der Versuch des deutschen Souveräns, sich zum allgemeinen Friedensstifter aufzuschwingen, unter dem Beifall, bestenfalls der Manöverkritik von ziemlich allem stattfindet, was hierzulande als Opposition gilt, das ist zwar ein Skandal, aber es ist vor allem ein Beweis mehr für die ungeheuerliche Integrationskraft des Standorts Deutschland. “Standort” ist eben eine allererst militärische Kategorie.

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