Initiative Sozialistisches Forum – Gefrierpunkt des Bewußtseins, Rückforderung der Zukunft

Initiative Sozialistisches Forum

Gefrierpunkt des Bewußtseins, Rückforderung der Zukunft

“What’s left?” – Das Zentralorgan der herrschenden Klasse, weiß nicht so recht, ob es sich darüber freuen soll, wie wenig von ihren Gegnern noch übrig ist. “Die Linken haben im Laufe der letzten dreißig Jahre aufgehört, an eine revolutionäre Klasse (das Proletariat), einen historischen Wendepunkt (die Revolution), ein metaphysisches Lehrgebäude (den Marxismus) und ein politisch-ökonomisches Heilmittel (den allumfassenden, allgegenwärtigen Staat) zu glauben.” Wie glanzlos, wie schäbig und abgerissen sehen plötzlich die staatstragenden Mythen vom liberalen Rechtsstaat und von der sozialen Marktwirtschaft aus, jetzt, da sie keiner mehr entlarven will! Die süchtige Faszination, mit der die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” die letzten Unbeugsamen der Roten Armee Fraktion als unbelehrbare Stalinisten immer wieder rhetorisch an die Wand stellt, bezeugt die Wut der Konservativen über die Selbstentlarvung der Revolutionäre als opportunistische Pappkameraden. Was macht die Ordnungspartei ohne die Angst vor Chaos und Anarchie? Wer soll die gesellschaftliche Funktion der Linken nach ihrer Abdankung wahrnehmen? Was wird aus dem Klassenkampf, nachdem die Linken desertiert sind?

Die ideologische Räson der postfaschistischen Bundesrepublik war die Theorie des Totalitarismus. Sie rechtfertigte die liberale Angst vor einer Parallelaktion der Roten und der Braunen gegen den Staat der politischen Mitte und erhob sie zum Grundgesetz. Dieser permanente Alarmzustand gegen die Bedrohung der Republik durch den Zangenangriff der “Extremisten von rechts und links” war die beste Methode, um die fatale Dialektik der kapitalisierten Gesellschaft zu verbergen, die darin besteht, daß das Geheimnis ihrer Reproduktion zugleich das Gesetz ihres Untergangs darstellt. Die Akkumulation des Kapitals vollzieht sich unter der Ägide eines politischen Souveräns, der die konkreten Individuen im System der Freiheit und Gleichheit zu Subjekten gleichschaltet. Den Menschenrechten ist es gleichgültig, ob das Privateigentum, das ein Individuum zum Subjekt macht, in Produktionsmitteln besteht oder nur im Eigentum an der eigenen Arbeitskraft. Hauptsache Privateigentum! Hauptsache Subjekt! Es ist die juristische Form, durch die hindurch sich die herrschaftlich garantierte Verwertung vollzieht. Im Prinzip subjektlos und, als Selbstverwertung des Werts, weder in der Willkür der Kapitalisten noch der Ausgebeuteten liegend, hat diese Verwertung gleichwohl ihre Funktionäre – das in Maschinen ausgelegte Kapital muß ordentlich verwaltet, das in Menschen investierte anständig gepflegt werden. Durch den sozialen Widerspruch zwischen Lohnarbeitern und Kapitalisten hindurch reproduziert sich das Kapital; der Klassenkampf ist ein Motor seiner Akkumulation. Daran gewinnt die kapitalisierte Gesellschaft ihre mörderische Vitalität.

Die Theorie des Totalitarismus reflektierte die Stabilitätsbedingungen dieses sozialen Systems, das heißt den allseitigen Verzicht auf rücksichtslosen “Egoismus” im Interesse des “Gemeinwohls”. Die Arbeiter durften die Kuh, die sie melken wollten, nicht schlachten, und auch die Kapitalisten hatten auf den “sozialen Frieden” zu achten, das heißt, nicht wie in Kalkutta, die Reproduktion der Ware Arbeitskraft als Grenze der Ausbeutung anzuerkennen. Dafür zu sorgen, das war die Arbeit des Staates. Hatte er doch die “Lehre von Weimar” verinnerlicht, daß die Funktionäre der Akkumulation in der Krise dazu neigen, die abstrakte Gleichheit nach Maßgabe ihres jeweiligen Privateigentums zu radikalisieren. Diese Dialektik des Liberalismus setzt aus sich selbst zwei Formen seiner Selbstliquidierung frei – einerseits die proletarisch-bolschewistische, die auf die totale Verstaatlichung der Arbeitskraft zielt, andererseits die bürgerlich-faschistische, die die absolute Naturalisierung der Ausbeutung bezweckt. Bolschewismus und Faschismus ziehen die Konsequenzen des Liberalismus, indem sie ihn aufheben: jeder auf seine Weise, aber doch jedenfalls falsch,: Nicht, daß sie mit dem System der repressiven Vergleichung der Individuen zu Subjekten brechen, vielmehr, daß sie eben diese Vergleichung nach einem anderen Kriterium organisieren – nach dem der “Arbeit” oder dem der “Rasse”. Ihre Konvergenz liegt in dem Satz, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll, ein Diktat, das sich von Kapitalisten und Lohnarbeitern gleichermaßen antisemitisch ausbuchstabieren läßt.

Der antitotalitäre Rechtsstaat agiert in dem systematischen Dilemma, den Extremismus der Arbeiter und der Kapitalisten verhindern zu müssen, ohne dabei den sozialen Motor der Akkumulation abzuwürgen. Er muß das Prinzip wollen und dessen Konsequenzen bekämpfen. Er braucht zur Erfüllung seiner Kapitalfunktion eine Interessenvertretung der Arbeitskraftfunktionäre, muß aber zugleich deren konjunkturelle Tendenz, das “Recht auf Arbeit” zu fordern, als Vorboten der bolschewistischen Verstaatlichung der Arbeitskraft exorzieren. Und er braucht einen Verein organisierter Kapitalfunktionäre, die er zugleich daran zu hindern hat, den “Klassenkampf von oben” bis aufs Messer zu führen. Er verpflichtet beide auf das “Gemeinwohl”, indem er ihnen die schädlichen Folgen ihres jeweiligen Radikalismus vor Augen führt, ohne sie jedoch in letzter Instanz daran hindern zu können. Wenn die linken Intellektuellen, die die Klassenkampffunktion im Raum der bürgerlichen Öffentlichkeit feuilletonistisch zu vertreten haben, versagen, wird seine hegemoniale Politik brüchig. Denn die Hegemonie lebt vom Spiegelspiel der Ideologien, vom polemischen Gegensatz der proletarischen Planapostel zu den bürgerlichen Marktfetischisten. Aber nun ist die “postmoderne” Linke aus ihrer Funktion desertiert, und damit hat sie dem Staat einen Sieg spendiert, den er so total gar nicht erringen wollte bzw. vertragen kann.

Die fortschreitende Verenzensbergerung der Linken hat darin den Gefrierpunkt des Bewußtseins erreicht: “Der kurze Sommer der Anarchie”, der 1968 proklamiert wurde, war nur das Vorspiel zum schlußendlichen Winterschlaf der kritischen Vernunft. Das läßt die politische Lage paradox werden: Denn indem die Linken kapitulieren und indem sie als “rechte Leute von ganz links” zum Gegner überlaufen (wo sie natürlich keine Liberalen mehr, sondern nur die “linken Leute von ganz rechts” antreffen), ziehen sie die ganz falschen Konsequenzen aus dem ganz richtig erkannten unheilbaren Systemcharakter der kapitalen Klassenkampffunktion. Sie produzieren das theoretische Wirrwarr, in dem dann Botho Strauß & Co. das völkische Raunen anfangen. Und indem sie – unterm Alibi der Selbstkritik ihrer einstigen emanzipatorischen Ideale – ihrem sozialen Rousseauismus und dem Glauben, der Mensch wäre gut, würde man ihn nur nicht daran hindern, den Abschied geben, brechen sie nicht etwa, wie es sich eigentlich gehörte, mit Anthropologie überhaupt, sondern gehen zum Sozialdarwinismus über und legitimieren die gewaltmonopolistische Repression einer menschlichen Natur, der es nicht ums Sein, sondern bloß ums Haben zu tun sei. Das schimpfen sie dann “Materialismus” und fordern mehr Subventionen, ihn zu bekämpfen.

Der “Abschied von der Arbeiterklasse”, zu dem der neulinke Ökologe André Gorz schon vor einem Jahrzehnt gebeten hat, läßt die linken Intellektuellen daher keineswegs mit dem Materialismus bekannt werden. Sie laufen vielmehr zur Volksgemeinschaft über und verstärken damit – in einem Augenblick, in dem der Staat, wie die Hinrichtung von Bad Kleinen demonstriert, sowieso schon um seine rechtsstaatliche Contenance ringt, die autoritäre Tendenz. Das macht: Sie haben den Klassenkampf niemals im Interesse der Revolution kritisiert, den Marxismus nicht in der Perspektive des Materialismus und den Staat nicht zum Zwecke seiner Beseitigung und Abschaffung. Sie haben das proletarische Dogma vielmehr à la Deutschmann kritisiert und meistens nach der Methode Habermas oder Walser. Den linken Intellektuellen ging es nicht um Materialismus, Ideologiekritik, Kommunismus, sondern darum, auf Teufel komm’ raus – Intellektuelle zu bleiben, das heißt der Herrschaft (und sei es der östlichen) organisch alliierte Kopfarbeiter, die sich darauf kaprizieren, keine Kopflanger zu sein. Schon als Ideologen der klassischen Arbeiterbewegung, die, gleich ob marxistisch-leninistisch oder undogmatisch-spontaneistisch, dem “Klassenkampf von unten” revolutionäre Qualitäten anschmachteten, waren diese Intellektuellen die “nützlichen Idioten” (Lenin) des Kapitals, wenn auch im Widerspruch gegen die Kapitalisten. Sie gaben die Intensivierung der Lohnkämpfe als Kindergarten des Sozialismus aus und steigerten so die kapitale Klassenkampffunktion ins Utopische. Sie erfanden die Theorie des “sozialistischen Geldes”, des “sozialistischen Staates” und der “sozialistischen Arbeitspflicht”. Ihre Perspektive war das antikommunistische Programm der “Befreiung der Arbeit” statt der Befreiung von der Arbeit. Unter Sozialismus haben sie nie mehr verstanden als Sozialpolitik plus Soziologie.

Diese Linke ist bankrott, und sie hatte nie etwas Besseres als den Bankrott verdient. Der Untergang der ostelbischen Herrschaften war der ihre. Es gibt sie nicht mehr, nur noch verbiesterte Querulanten, die sich damit abmühen, die Linke zu simulieren. Der autonome Theoretiker Karl-Heinz Roth hat es als einen “besonders paradox wirkenden Pluspunkt” dieser verqueren Situation verbuchen wollen, “daß inzwischen alle bewaffneten wie unbewaffneten Varianten und Ansatzpunkte von sozialistischer, kommunistischer, sozialrevolutionärer oder anarchistischer Politik gescheitert sind”: Die Rückforderung der Zukunft soll nun, nach dem “Ende der Geschichte”, zumindest die Chancen haben, die das Tabula rasa-Prinzip immerhin bietet. Richtig daran ist der Gedanke, daß die Blamage des “realen Sozialismus”, der ein Staatskapitalismus war, ein für alle Mal das Projekt, den Staat als Hebel der Befreiung zu benutzen, als die Ideologie denunziert hat, die sie schon immer war. Darin liegt der unschätzbare theoretische Fortschritt des Jahres 1989. Aber es ist niemand mehr da, der sich ihn praktisch aneignen könnte. Roth jedoch glaubt, “Proletarische Zirkel”, d.h. die Vollversammlung der Simulanten um den runden Tisch ihrer verdorbenen Utopien, könne das kommunistische Projekt wiederbeleben, wenn sie nur erkennen, daß die “allgemeine Proletarisierung” die soziale Grenze zwischen den linken Intellektuellen und den Ausgebeuteten aufhebt. Denn damit werde, sagt er, die “sozialistische Politik” unmittelbar eins mit der “proletarischen Politik”. Der Irrtum Roths liegt nicht nur darin, daß er die Klassenkampffunktion ignoriert – überdies übersieht er das notorische Sektierertum der Linken als eben: linker Politiker, die sich geistig immer schon in die staatliche Zentralperspektive manövriert haben und die sich daher aufführen wie je ein Generalstab ohne Armee. Roth will das linke Simulantentum durch soziale Betroffenheit heilen, ohne die Staatlichkeit, d.h. die Politik als solche zu kritisieren.

What’s left? “Der Kommunismus”, sagt Karl Marx, “ist für uns nicht ein Zustand, der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird. Wir nennen den Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.” Der Kommunismus ist kein Programm und keine Politik, sondern revolutionäre Antipolitik. Als Theorie ist er nichts als deren kritische Funktion. Keine Theorie kann ihre eigene Praxis erfinden, so sehr sie diese ersehnen mag. Diejenigen linken Intellektuellen, die sich der Postmoderne ebenso verweigern wie der Simulation, werden allererst ihre Funktion als Intellektuelle zu kritisieren haben. Sie werden sodann Mittel und Wege finden müssen, die materialistische Kritik – das theoretische Leben der Revolution – gegen die akademische Verdinglichung, gegen Soziologisierung und Intellektualisierung zu verteidigen. Nur in der Kritik der repressiven Vergleichung kann “der kategorische Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist”, anders überleben denn als Zitat von Marx.

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