Krise der Politik, Perspektiven des Staates

Initiative Sozialistisches Forum

Krise der Politik, Perspektiven des Staates

Die Regierenden haben es satt, “das Volk” hat es über. Das Gejammer der politischen Klasse über den Unwillen der Wähler, ihre Arbeit fürs Gemeinwohl angemessen zu honorieren, ist an Lautstärke und weinerlichem Tremolo kaum zu überbieten – und wird doch überdröhnt vom Greinen der Stimmbürger über die Unfähigkeit der Politiker, das Volk richtig anzuführen. Am liebsten würden die Politiker das Volk auflösen und sich ein neues wählen – aber lieber noch würde das Volk seine Parlamentarier aufs Altenteil verfrachten und einer Autorität applaudieren. Die Politiker betrachten den Staat als Privateigentum und “Selbstbedienungsladen”, das Volk ist ein Haufen von Steuerbetrügern, Vorteilsjägern und Temposündern; die einen diagnostizieren einen erschreckenden Mangel an Sachverstand und Frustrationstoleranz, die anderen haben allmählich genug von demokratischen Finessen und nennen den Bundestag wie immer die “Schwatzbude”. Die Politiker sind allesamt mäßig getarnte Lobbyisten, aber ihre Wähler sind keinen Deut besser. In den Feuilletons bemäkeln die Politikberater den Skandal, daß dem Volk immer noch der kleine Unterschied zwischen einer deutschen Nation und einer Lottogemeinschaft sowie seine großen Folgen gänzlich unbekannt sind – in den Talkshows quengeln die Leute, “der kleine Mann” gelte gerade so viel wie ein Fußabtreter und daß einer her müsse, der “denen da oben” zeigt, was eine Harke ist: Das gegenseitige Mißverständnis scheint auf einen Kladderadatsch zuzutreiben, der endlosen Folgen der Seelenrührshow “Verzeih’ mir” das Material liefern könnte. Alle haben recht, aber keiner weiß Bescheid. Wie es zwischen Finanzpolitikern und Steuerzahlern nicht anders sein kann, traut man einander jede Schlechtigkeit zu und nimmt sich doch nichts wirklich übel: die Politiker schlau wie die Milchmädchen, das Volk dumm wie eine Lichterkette.

Viel Lärm um nichts also. Und so scheint die gegenwärtige Krise der Politik nichts anderes zu sein als eine Erhöhung des Geräuschpegels, wie eine eigens anberaumte Maßnahme, um die Reprise eines liebgewordenen Spektakels interessanter zu gestalten, bei dem die immer gleichen Schurken insgeheim nur auf die rechte Gelegenheit lauern, einander in die Arme zu fallen, ostentativ zu bereuen und Besserung zu geloben. Pack schlägt sich, Pack verträgt sich: Der andauernde Hader zwischen Volk und Regierung ist die notwendige Bedingung der Einheit der bürgerlichen Gesellschaft mit ihrem Staat, einer Einheit im Gegensatz, die sich durch das scheinbar einander gegenseitig ausschließende Beharren auf der Staatsräson einerseits, dem Pochen auf die Idealen der Demokratie und des Grundgesetzes andrerseits hindurch reproduziert. Der Gegensatz zwischen Links und Rechts, zwischen Plan und Markt, zwischen Solidarität und Konkurrenz wie zwischen Demokratie und Souveränität ist so – in der Normallage der gesellschaftlichen Reproduktion – eben die dynamische Form der gesellschaftlichen Einheit. Dies Spiegelspiel der Politik imaginiert den Staat als neutrales Instrument beliebiger Zwecke und reduziert die Kritik von Herrschaft auf das konstruktive Mißtrauensvotum, auf den periodischen Austausch des Herrschaftspersonals. Die Illusionen der Politik, die der Staat als notwendig falsches Bewußtsein seiner selbst produziert, ergänzen und verlängern derart die Halluzinationen der Ökonomie, die Ausbeutung und Akkumulation als das gerade Gegenteil ihrer selbst und daher als freien, gleichen und gerechten Tausch erscheinen lassen. Wie das Spiegelspiel der Politik die Herrschaft zum Verschwinden bringt, so radiert das marktförmige Spiel von Angebot und Nachfrage das Kapital aus dem Bewußtsein. Die Widersprüche, die die reguläre Reproduktion von Kapital und Staat hervorbringt, mögen daher noch so lautstark ausgekämpft werden – sie sind doch Fleisch vom Fleische und vom gleichen Schlag wie der ewige Disput, der auf dem Markt um die (je nach Perspektive) zu teuren oder zu billigen Waren ausgetragen wird: Es sind Widersprüche in den Formen von Geld und Kapital selbst, durch die hindurch sie sich erhalten.

Allerdings: der chronische Konflikt zwischen dem Volk und seinem Staat nimmt in Deutschland ganz besondere Formen an. Denn die postfaschistische Demokratie hatte das Erbe der Volksgemeinschaft nicht etwa verschmäht, sondern gehegt und gepflegt, und der Pluralismus war so von vorneherein als das aufgetreten, was er anderswo erst im Endergebnis darstellte: als “Gemeinschaft der Demokraten”, als Form der bedingungslosen Einheit. Auschwitz, das Gründungsverbrechen der “wehrhaften Demokratie”, machte sich doch noch bezahlt: Der Massenmord als klassenübergreifende Verschwörung der bürgerlichen Gesellschaft gegen das wertlose Leben der Unmenschen und Übermenschen stiftete die rückhaltlose Identifikation der Individuen mit Kapital und Staat.

Kein Wunder daher, daß die Demokratie in Deutschland seltsam unwirklich und geradezu phantastisch ist, daß sie, trotz aller Pünktlichkeit, mit der man auf Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Pressefreiheit usw. usf. achtet und sich nachgerade als Sektion von Amnesty International darstellt, eine täuschend echte Fiktion, eine Simulation darstellt. Sie ist eine Art Tagtraum des Staates, und so kann der Übergang zum geraden Gegenteil, zum autoritären Notstand, reibungslos und über Nacht vollzogen werden – wie im “Deutschen Herbst” 1977. Daher war die Penetranz, mit der die Protestbewegung von 1968 auf der Gleichsetzung von authentischer Demokratie mit dem Antifaschismus der Volksfront bestand, nichts als Selbstschutz – der Versuch, den Tagtraum wahr werden zu lassen, ohne den Staat als volksgemeinschaftlichen Treuhänder von Kapital und Arbeit in Frage zu stellen und an seiner abgründigen Schizophrenie zu kratzen. Und daher rührt auch die nicht minder enervierende Hartnäckigkeit, mit der die staatstragende Öffentlichkeit das Programm vertritt: “Die deutsche Politik muß sich von 1968 emanzipieren”, doziert die “Frankfurter Allgemeine Zeitung” – denn das Projekt, die Simulation wörtlich zu nehmen (und sei es mit den Mitteln der Roten Armee Fraktion), läßt den Tagtraum des Staates unvermittelt in den Alptraum des Faschismus umschlagen.

Weil die Bürger wissen, wozu ihr Staat fähig ist, wenn er sich nur entschließt, dem Volk zu dienen, schwanken sie haltlos zwischen Hoffnung und Panik: “Protestwähler”, die für Neonazis optieren, aber es nicht so gemeint haben wollen, konformistische Rebellen, die sich der Regierung im Interesse des Staates konfrontieren. Und weil die Politiker verstanden haben, wozu die Bürger fähig sind – nämlich zu einer ebenso konsequent nationalistischen wie resolut sozialistischen Massenbewegung, die den Staat zu seinem eigenen Bedürfnis nötigt –, schwanken sie ihrerseits zwischen dem Appell an demokratische Tugenden und der Neigung zu autoritären Maßnahmen. Während die Gesellschaft aus der Perspektive des Staates mehr und mehr als “Demokratie ohne Demokraten” erscheint, kommt der Staat im Blickwinkel der Gesellschaft nach und nach in den schlechten Ruf, von einer Mafia regiert zu werden. Man muß die Schrift im “Spiegel” – “Der Staat: handlungsunfähig im Griff der Parteien. Die Bürger: zerstritten in egoistische Grüppchen” – nur seitenverkehrt lesen, um zu begreifen, daß sich Volk und Staat gleichsam gegenseitig dazu provozieren, den Anfang zu machen und den je eigenen Faschismus zu bekennen. Daß “die da oben” nicht mehr können, während “die kleinen Leute” nicht mehr wollen, ist die typisch deutsche Karikatur auf den Begriff der revolutionären Situation. Das kommt davon: Die Logik der Souveränität und die Praxis der Regierung driften auseinander, Legitimität und Legalität geraten in Widerstreit. Die Herrschaft durch Verfahren, d.h. die Produktion von Entscheidungen, bei denen es nicht relevant ist, wie im einzelnen, sondern nur, daß überhaupt entschieden wird, gerät ins Wanken. Die Regierenden zweifeln an den Kriterien ihres Handelns, denn der (Rechts)Form genüge zu tun, heißt unter Umständen, den kapitalen Inhalt zu schädigen. Daß der kapitale Inhalt aus der demokratischen Form auszuwandern droht, daß die Differenz zwischen Staat und Regierung sichtbar wird, daß überdies die Krise der Politik die Krise der Akkumulation reflektiert – dies kommt in den institutionellen wie den plebejischen Formen von Rassismus und Antisemitismus zu ideologischem Selbstbewußtsein.

Getrennt marschieren, vereint schlagen: Während der Staat die Ausgrenzung derer betreibt, die er zuvor systematisch unter den Generalverdacht der Unproduktivität und Illoyalität stellte, um daran ex negativo die parlamentarisierte Volksgemeinschaft zu festigen und sie in den Formen der Demokratie zu fixieren, greift das Volk zu unmittelbarer körperlicher Gewalt, um den Staat daran zu erinnern, was eigentlich Staat macht: das Gewaltmonopol nämlich, und sich zugleich als fügsame Schwungmasse für jeden Winkelzug der Staatsräson zu empfehlen. Es ist diese doppelte Suchbewegung, bei der Staat und Volk wie blind im Nebel tasten und doch genau wissen, wohin die Reise geht, die die Medien mit Slogans wie “Parteimüdigkeit” und “Politikverdrossenheit” belegen. Das Spiegelspiel der Politik, dem allmählich der gesellschaftliche Inhalt abhanden kommt, lebte davon, konkrete Interessen in die Formen von Geld und Recht zu gießen, zu verallgemeinern und so zur politökonomischen Einheit zuzubereiten; sein Wesen bestand im Gegensatz von Links und Rechts, seine Agentur war das System der Volksparteien. Als Vermittlung zwischen Gesellschaft und Regierung sorgten sie dafür, daß, wie Robert Michels 1907 in seiner “Soziologie des Parteiwesens” notierte, zwar die Sozialisten siegen können, aber niemals der Sozialismus.

Der Faschismus war in jeder Hinsicht die praktische Widerlegung dieses Schemas, wenn auch im radikalen Vollzug seiner inneren Konsequenzen: unmittelbare Einheit als Apriori, Transformation der inneren Gegensätze in mörderischen Antagonismus. Derart, als negative Kritik der Demokratie, macht er Karriere als die zwar beständig verleugnete, aber eben darin heimliche Sehnsucht des Staates. Die Parteiform garantierte die Einheit aller sozialer Interessen im Staat durch die Vermittlung hindurch: “Man wäre versucht”, schrieb Robert Michels, “es eine Tragikomödie zu nennen: die Massen begnügen sich damit, unter Aufbietung aller Kräfte ihre Herren zu wechseln. (…) Die soziale Revolution läuft, der politischen Revolution gleich, wie es im italienischen Sprichwort heißt, darauf hinaus, daß lsquo;cambia il maestro di capella, ma la musica è sempre quella’. Der Wechsel des Kapellmeisters ändert nichts an der Musik.” Das schwierige Geschäft einer radikalen Linken bestünde dagegen darin, die Krise der Politik als kategorischen Imperativ zu begreifen, eine neue Musik zu schreiben, die sich ohne den Maestro spielen läßt.

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