Totreden und Totschlagen

Initiative Sozialistisches Forum

Totreden und Totschlagen

“Jeder Schlag in das Gesicht eines Ausländers ist auch ein Schlag in unser Gesicht. Jeder Stein, der durch das Fenster eines Heims fliegt, in dem Asylbewerber wohnen, fliegt auch durch unser Fenster. Jeder Brandsatz, der geschleudert wird, droht auch unser Heim anzuzünden”: Diese vor Selbstmitleid triefende Erklärung, die natürlich gelogen war, gab Rita Süssmuth in ihrer Funktion als Präsidentin des Deutschen Bundestages während der kurzen Atempause zwischen dem Pogrom von Rostock und denen von Quedlinburg, Eisenhüttenstadt, Wismar ab. Richtig ist daran nur, daß die Landsleute, wenn überhaupt, durch kaum etwas anderes zu belehren sein werden als durch Gegengewalt.

Daß sich die Gewalt, die der deutsche Pöbel gegen die Flüchtlinge übt, aufs Ganze gesehen und im Weltmaßstab betrachtet, für die Nation nicht auszahle und vielmehr auf sie zurückfalle – auf dieser Milchmädchenrechnung beruht das vorletzte Argument, das das ehrbare Deutschland gegen den alltäglichen Mord und Totschlag noch vorzubringen weiß, bevor es ihnen gänzlich nachgeben wird. Und daß die Rabauken von Rostock, denen Schäuble ihre “Lausbubengeschichten” austreiben will, japanische Investoren verschrecken und sich damit selber um Lohn und Brot bringen – das gilt unter den Sympathisanten der nützlichen Ausländer als der Weisheit letzter Schluß. Sollte diese Sorte “Aufklärung” allerdings nichts fruchten und sollte, wie absehbar, diese Reklame für längerfristigen Egoismus auf taube Ohren stoßen, werden sich die Ausländerfreunde geschlagen geben, wenn auch mit dem Ausdruck tiefsten Bedauerns. Denn ihre Propaganda (“Alle sind Ausländer. Fast überall”) ist vom gleichen Schlag wie die menschenfreundlichen Erklärungen zur “Woche des ausländischen Mitbürgers” – ein hilfloser Antirassismus, der weiter nichts im Sinn hat als eine Friedensbewegung für Flüchtlinge anzuzetteln mit allem, was nach dem Muster von Anti-Pershing und Anti-Golfkrieg dazugehört: Mahnwachen, Bittgottesdienste, interkulturelle Beschnupperung, Döner Kebab und Menschenketten.

Der Versuch dieser Friedensbewegung für Ausländer, ihre durchaus staatstragende “Verantwortungsethik” mit ihrer allerdings ziemlich humanen “Gesinnungsethik” in Einklang zu bringen, kann nur schiefgehen. Denn der bohrende Widerspruch, den Nationalstaat im Prinzip für gut zu befinden, und im gleichen Atemzug seine Konsequenzen zu verabscheuen, führt mitten hinein in eine schizophrene Verlogenheit, bei der die Linke zu verleugnen hat, was die Rechte tut. Während etwa der Freiburger Oberbürgermeister Böhme als Agent der staatlichen Auftragsverwaltung und, wie er erklärte, “im Interesse der Sache” das Abschiebelager organisiert, ruft gleichzeitig der Sozialdemokrat Böhme als Vertreter des besseren Deutschland zu einer breiten und “geschlossenen Allianz gegen Ausländerhaß und Rassenwahn” auf – ein Spagat, den noch kein Sozialdemokrat durchgestanden hat.

So ähneln die Versuche der politischen Klasse, sich von den rassistischen Ausschreitungen zu distanzieren, je länger je mehr dem berühmten Wettlauf zwischen Hase und Igel. Und längst wäre es ebenso unklar geworden, was denn den Mob eigentlich noch daran hindert, sich mit der Politik zu versöhnen, wie es mittlerweile unentscheidbar geworden ist, was die Politik immer noch zögern läßt, den “Volksaufstand” (so der Münchner SPD-Oberbürgermeister Kronawitter) selbst anzuführen – wenn da nicht das Gewaltmonopol wäre. Und darauf pochen der Staat und seine Administranten als ihr Privateigentum. Im sich überschlagenden Wettlauf und in der überbordenden Konkurrenz um den effektiveren Rassismus, den sich der Pöbel und die politische Klasse liefern, bleibt das Gewaltmonopol das definitiv letzte Argument, das die Politik gegen die staatsfanatische Revolte von unten aufbieten kann.

Nicht nur, daß in Deutschland alles seine Ordnung haben muß, liefert der Staatsgewalt einen strategischen Vorteil vor dem zwar energischen und patriotischen, aber doch unsystematischen und irgendwie spontaneistischen Rassismus von unten. In Rostock, so versetzt sich “Der Spiegel” in die Gedanken des Souveräns, “durften die Skinheads sich als eine Art politischer Vorhut begreifen, die handelt, während der Staat versagt. Mit der Feuerlunte suchten die Radikalen jene Probleme zu lösen, die von der Politik zu Tode geredet werden.” Die Politik hat sich den niederträchtigen Vorwurf, sie lasse es beim “Totreden” bewenden und sei sich zum Totschlagen zu fein, zwar zu eigen gemacht, aber sie scheut aus taktischen Erwägungen noch die Konsequenzen. Daher gestaltet sich das Verhältnis zwischen Politik und Pöbel einstweilen noch wie das der zwei Fraktionen im historischen Nazifaschismus, deren eine für den “Madagaskar-Plan” eintrat und deren andere für die “Endlösung”. Während die Politik alles daran setzt, die Grenzen dicht zu machen und die unverwertbaren Ausländer hinauszuschaffen, tut der Pöbel alles dafür, endlich mit dem Staat unter Brüdern “ins Gespräch zu kommen”, weil, wie der “Quedlinburger Harz-Bote” schrieb, “die Angriffe auf die Asylbewerberunterkunft nur inszeniert werden, um die Staatsmacht zum Handeln zu zwingen” – also keineswegs aus Aversion gegen Ausländer, sondern aus Enthusiasmus für die staatlich präsidierte Volksgemeinschaft. So gleicht der Wettstreit zwischen Politik und Pöbel mehr und mehr einer Wohlfahrtsauktion, bei der sich die Bieter nur im Interesse des Gemeinwohls übersteigern.

Aber im Wettlauf der Eskalation bleibt es doch Sache des Staates, Ruhe zu bewahren und den Überblick zu behalten, d.h. den geeigneten Zeitpunkt zum Zuschlagen unter Berücksichtigung aller relevanten Faktoren zu bestimmen. Die Kommandohöhen des Gewaltmonopols gewähren den besseren Überblick über das Wirrwarr des Schlachtfelds. Denn in Wahrheit sind nicht die Skinheads und der Pöbel, sondern der Staat und seine Funktionäre die wirkliche “politische Vorhut” des Volkes. Beim Kampf um das Asylrecht geht es um nichts weniger als um die Frage, ob sich der Rechtsstaat noch mit dem Gewaltmonopol vereinbaren läßt, oder ob nicht – wie 1933 – die politische Gewalt, die unmittelbar dem Fortschritt der Kapitalakkumulation dient, dazu verpflichtet ist, sich vom Recht zu emanzipieren hat.

Der Konflikt um die Rechtswegegarantie des Asylrechts und um die individuelle Würdigung der Fluchtgründe in jedem einzelnen Fall ist ein Symptom dieses fundamentalen Problems, das der Staat zu lösen hat. Zwar ist das Recht nur die juristische Gestalt, die die Akkumulation des Kapitals in ihrer marktförmigen Erscheinung als freie Konkurrenz annehmen muß und somit Fleisch vom Fleische der Selbstverwertung des Werts. Indem das Recht jedoch gezwungen ist, den objektiven Schein der individuellen Verantwortlichkeit des bürgerlichen Subjekts ernst zu nehmen, verbietet sich ihm eben die Entrechtung ganzer Kollektive, derer der Fortgang der Akkumulation unter Umständen dann bedarf, wenn ihre Krise zum Zusammenbruch sich radikalisiert. So gerät das Recht in die aussichtslose Zwickmühle, seinem eigenen Zweck im Wege zu stehen und seinen kapitalen Auftrag höchstselbst zu vereiteln; und so gerät der Versuch, ganze Kollektive mit den Mitteln des Rechts zu entrechten, dazu, dem Faschismus durch die demokratische Organisation des Faschismus zuvorzukommen, das heißt den Faschismus des Staates vorzubereiten aus Angst vor dem Faschismus der Straße. Das ist der gesellschaftliche Inhalt des gegenwärtigen Wettlaufs zwischen Lynchjustiz und Rechtsstaat, zwischen Faustrecht und Gewaltmonopol. Der Historikerstreit war eine vorweggenommenes Echo dieses Konflikts. Die Diskussion der Frage, bis zu welchem Zeitpunkt der Führer ein Staatsmann von der Statur eines Bismarck war und wann er ebenso plötzlich wie unverhofft zum volksverderbenden Monomanen regredierte, versprach Aufschlu ß darüber, unter welchen Bedingungen die Befreiung des Staates vom Recht sich rechnet. “Können wir auf Erfolgsrezepte nur deshalb verzichten”, fragte sich Wolfram Engels, der Herausgeber der “Wirtschaftswoche”, “weil Adolf Hitler sie angewandt hat?” – um stantepede hinzuzufügen, “daß Deutschland von 1933 bis 1936 eine Marktwirtschaft war”, obwohl doch “seit 1931 Devisenbewirtschaftung, seit 1932 Lohnstopp und seit 1933 Gewerkschaftsverbot herrschten”. Die Marktwirtschaft, so die kapitale Botschaft, bedarf der Gewerkschaften im Zweifelsfall so wenig wie das staatliche Gewaltmonopol seiner rechtlichen Verfaßtheit.

Die Toten, die der Rassismus schon vor Rostock forderte, hatten bei allem Nutzen für die nationale Identität doch den gravierenden Nachteil, daß sie immer nur weitere Diskussionen um die Unterscheidung zwischen nützlichen und überflüssigen Ausländern provozierten. Und die Brandanschläge gegen deutschblütige Aussiedler führten gar zum Zwist unter den Rassisten selbst, trat hier doch der Futterneid ganz unverhüllt und ohne jede Nationalfolklore hervor. Mit den Sinti und Roma jedoch ist nun ein Objekt gefunden, das man ohne langes Federlesen als Kollektiv hassen und entrechten kann. Die Erfindung dieser in den Augen der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” “allgegenwärtigen Provokation”, d.h. in Wirklichkeit die Wiederentdeckung dieser, wie die Nazis meinten, “für die internationale Völkergemeinschaft aufgrund ihrer inneren und äußeren Konstruktion ungeeigneten Zigeuner” wird der Friedensbewegung für Ausländer das Genick brechen und die Idee der “multikulturellen Zivilgesellschaft” als Mittel gegen Rassismus bis in die Knochen blamieren.

Daraus ergibt sich die paradoxe und überaus gefährliche Situation, daß – von militanten Ausnahmen einmal abgesehen – die überwiegende Mehrheit der antirassistischen Bewegung in Sachen des vom “Spiegel” zum Programm erhobenen “Antiziganismus” die gleichen Positionen vertritt wie dessen prospektive Opfer: Menschenrechte, Rechtsstaat, Liberalismus. “In unserem Rechtsstaat”, so erklärte Romani Rose im Auftrag des Zentralrats der Deutschen Sinti und Roma zum Pogrom von Rostock, “hat jeder in- und ausländische Bürger sein Verhalten allein zu verantworten, und dieses Verhalten ist in keiner Weise mit der ’rassischen’, ethnischen oder religiösen Gruppe, der der Bürger angehört, in Verbindung zu bringen – auch nicht in der Öffentlichkeit”. Während jedoch der hilflose Appell an die bürgerliche Ideologie bei den Sinti und Roma, die nach Art der mittelalterlichen Schutzjuden direkt beim Fürsten, das heißt bei Weizsäcker petitionieren, ihrer Angst zuzuschreiben ist, stellt das Pochen auf die Menschenrechte als oppositionelle Politik innerhalb des deutschen Täterkollektivs nichts anderes dar als abgrundtiefen Zynismus. Dieser humanistische gemeinte Appell an die Menschenrechte, also an den ideologischen Inbegriff der kapitalen Ursachen des Rassismus, ist ein Lehrstück aus der Dialektik des Einverständnisses.

Daß sich die Verfolgten, so gut es eben noch geht, an die Garantien des Rechtsstaates klammern, liegt in der Natur der Sache, und ihr fataler Irrtum kann kein Gegenstand der Kritik sein. Daß allerdings die Ausländerfreunde in ihrer staatsbürgerlichen Verblendung so unfähig wie unwillig sind, die Forderung nach noch mehr Rechtsstaat zu überschreiten, ist ein Skandal, der das genaue Maß anzeigt, in dem sogar die Opposition zu den treuesten Fans des Nationalstaats gehört.

Nachgedruckt in Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten

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