Initiative Sozialistisches Forum – Deutsche Logik

Initiative Sozialistisches Forum

Deutsche Logik

Die “Frankfurter Allgemeine” leistete sich im Februar 1990 ein kleines Gedankenexperiment, das in all seiner Unschuld abermals bewies, warum dies weltläufige Blatt verdient, der “Völkische Beobachter” des restlos aufgeklärten Medienzeitalters genannt zu werden. Wie immer in Deutschland ging es bei diesem Experiment um Konsequenz, ums Weitermachen bis zum bitteren Ende, also um das, was man sich von Bonn bis Berchtesgaden und von Bitburg bis nach Berlin unter “Logik” allein vorzustellen vermag. Dies teutologische Märchen ging so: “Aus dem Satz: Es gibt Mädchen, die rote Pullover tragen” folgt noch lange “nicht der Satz: Alle Mädchen tragen rote Pullover. Ebensowenig folgt aus der Erfahrung, daß es einen deutschen Einheitsstaat gab, der zu Auschwitz führte, die Gewißheit, daß alle denkbaren und zukünftigen deutschen Einheitsstaaten wieder zu Auschwitz führen werden”.

Geschichte in Deutschland vollzieht sich seit 1933 als gesellschaftsweit praktiziertes “trial and error”; Deutschland ist seitdem das vornehmste Labor der Positivisten geworden. In dieser gigantischen Versuchsanordnung vermag die armselige Erfahrungstatsache, daß die Nazis, einmal zur Macht gelangt, die Juden mit der Brachialgewalt einer barbarischen Revolution ins Gas peitschten, keineswegs die begründete Vermutung als vernünftige Gewißheit zu erweisen, daß sie es das nächste Mal, bei der nächsten Machtergreifung, wieder tun werden. Denn schließlich sind Nazis auch nur Menschen, die – und dafür hat die Geschichtsschreibung der Nolte, Stürmer, Weizsäcker & Co. allerdings gesorgt – nach dem ersten und, leider, wegen der Alliierten fehlgeschlagenen “trial” in Sachen Weltherrschaft, Auschwitz, das heißt ihren “error”, endlich einzusehen vermögen, und die daher, restlos “aufgeklärt”, die Juden das nächste Mal als Soldaten bis Stalingrad mitschleifen werden. Zum zweiten hat derlei formale Logik auf deutschem Grund und Boden den Heimvorteil, eine zugleich materiale Logik zu sein, die Wirklichkeit unter sich begreift und fraglos im Griff hat. Denn das nächste Mal und im gerade heranrollenden Vierten Reich, da haben die FAZkes ganz recht, wird alles ganz anders sein: Die Juden sind tot, und noch nicht einmal ein als Nazi vor sich selbst maskierter Deutscher kann derart mordlüstern sein, daß er sie nur zur Widerlegung der Positivisten exhumieren würde, um sie dann abermals zu massakrieren.

Während derlei Logik im positivistischen Normalfall – und das heißt: in den Alltagsriten des objektiv erzwungenen falschen Bewußtsein wie im Werktag der Intellektuellen – die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer eigenen Geltung gar nicht erst wissen will, da braucht solch formalistisches Konsequenzdenken im metaphysischen Notstand der Vernunft, das heißt im Gedankenpferch der deutschen Ideologie, diese ihre Bedingungen noch nicht einmal zu vergessen. Das hat sie schlicht und einfach nie interessiert, und daher hat sie auch nie irgendeinen Mangel gespürt. Die deutsche Ideologie und ihre Auftragsdenker geht der profitable Postfaschismus vielmehr nicht die Bohne an, in dem es sich leicht sozial und gut Demokrat sein läßt, solange nur die Türken nicht überhandnehmen. Und darum sollen sich jetzt, “zur Abwechslung”, wie Helmut Kohl fordert, die anderen, die Polen, die Juden usw. usf. auch einmal bei uns entschuldigen.

In den Grundlagenfächern des deutschen Einmaleins, im Vergleichen und Aufrechnen, sind die Kopflanger des Vierten Reiches derart oberprima, daß man sich nur wundern kann, wie prompt die Streber in Klassenidioten sich verwandeln, wenn Philosophie angesagt ist. Denn die schöne Geschichte von den Mädchen und den roten Pullovern hat natürlich ihr philosophiegeschichtliches Vorspiel gehabt. Und während die Mädchen einem deutschen Ideologen kurz und bündig zu beweisen haben, daß aus dem Satz: “Alle Nazis waren Deutsche” nie und nimmer zu schlußfolgern sei: “Alle Deutsche waren Nazis”, verweist das Exempel vielmehr auf das klassische Paradox vom Lügner und damit auf den Sprecher als den Realgrund noch der Geltung von nichts als logischen Sätzen.

Aus lauter Lust an Haarspalterei hat der griechische Philosoph Eulubides aus Milet dies Paradox im vierten Jahrhundert v.u.Z. erfunden; es hat Generationen von Logikern genervt, und es sieht ganz danach aus, als habe erst der neuere teutogene Nationalwahn es wirklich lösbar werden lassen. Es lautet so: Ein Sprecher sagt (1) “Alle Kreter sind Lügner”; und der gleiche Sprecher sagt sodann (2) “Ich bin ein Kreter.”

Was nun? Soll man dem Mann aus Kreta wirklich glauben, daß alle seine Volksgenossen Lügner sind, wo er doch selbst zugegeben hat, dem gleichen Blut und Boden zu entstammen? Wenn er die Wahrheit sagt, dann lügt er; und wenn er, wie es seine Art ist, lügt, dann hat er Recht mit seiner Behauptung. Kann man also einem Deutschen glauben, wenn er beteuert, nie wieder Nazi werden zu wollen? Es wäre schön, wenn es stimmte; weil es aber nicht stimmt, ist es dann zu spät. Mit den geistigen Mitteln der deutschen Ideologie jedenfalls ist das Paradox vom deutschen Lügner schlechterdings unauflösbar; es verletzt alle Gebote der Logik und vor allem den Satz vom ausgeschlossenen Dritten: Das Eine kann nicht zugleich sein Gegenteil darstellen, wenn es wirklich es selber, und das heißt identisch, sein will. Entweder Deutscher oder Mensch: Tertium non datur.

Die klassische Philosophie konnte das Problem nur lösen, indem sie es ignorierte. Sie schob es daher auf die Sprache, deren Zeichen bloße Konvention oder Routine sein und die mit der Sache selbst nichts zu tun haben soll. Aber leider hatte diese elegante Lösung, die, mittlerweile als “Theorie des kommunikativen Handelns” sogar in Frankfurt Schule gemacht hat, die Rechnung ohne die Deutschen und ihre Geschichte gemacht. Denn was folgt bloß aus dem Satz: “Alle Nazis waren Deutsche”, wenn man dann erfahren muß, daß dies ein Deutscher sagt, der deutsch war, der bis in die kleinen braunen Zellen deutsch denkt und ist, und der sich auch in Zukunft vom Leben nichts Schöneres erhoffen mag, als endlich der zu werden, der er schon ist: ein Deutscher. Abgesehen davon, daß es, um mit der “Frankfurter Allgemeinen” zu sprechen, “aus der Erfahrung folgt”, daß sich ein Deutscher im Zweifelsfall eher als diensteifriges und befehlsbeflissenes Tier verhält denn als mündiges Individuum, und ebenfalls ganz abgesehen von dem unter Umständen bemerkenswerten Sachverhalt – über den allerdings “Gewißheit” besteht –, daß einer als Deutscher das genaue Gegenteil eines Menschen darstellt; davon und von vielem mehr einmal ganz abgesehen: Löst sich das Paradox vom Lügner nicht in der Logik des Deutschtums auf? Hat nicht Theodor W. Adorno irgendwo geschrieben, ein Deutscher sei ein Mensch, der keine Lüge aussprechen kann, ohne sie selbst zu glauben? Und ging hierzulande nicht schon immer – lange vor Habermas – eine mit bestem Wissen und Gewissen, das heißt allen Merkmalen “subjektiver Wahrhaftigkeit und “kollektiver Verbindlichkeit” ausgestattete und vertretene Lüge überall glatt als die Wahrheit und nichts als die Wahrheit durch?

Aus all dem ergibt sich zwanglos die Lösung. Aus dem Satz (1) “Alle Deutschen waren Nazis” folgt nach allen Regeln deutscher Logik der Satz (2): “Heutzutage kann ein Deutscher unmöglich ein Nazi sein.” Und daraus schließen wir im Verfolg einer positivistisch ebenso völlig verständigen wie dialektisch durch und durch vernünftigen Methode einen Satz, der, obwohl formallogisch korrekt, doch zugleich der Sache gerecht wird, das heißt einen Satz, den die Deutschen mit vereinter Kraft aller Voraussicht nach bewahrheiten werden, nämlich (3): “Daher wollen die Deutschen bald wieder Nazis werden.”

Für so etwas ist sich die “Zeitung für Deutschland” natürlich viel zu fein; solch schlechte Manieren wird sie, Joachim C. Fest und Stürmer voran, bald wieder so wenig gewollt haben wie ihr Vorläufer, die Hugenberg-Presse. Aber wo gehobelt wird, da fallen Späne – so will es die deutsche Logik. Und darum werden die Mädchen im kommenden Vierten Reich samt und sonders rote Pullover haben: Denn Uniform muß sein, wenn der Nationalwahn zur Schlachtbank bittet.

Nachgedruckt in Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten

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