Initiative Sozialistisches Forum – Staatsbürger, Volksgenosse

Initiative Sozialistisches Forum

Staatsbürger, Volksgenossse

Geschichte wiederholt sich nicht, und trotzdem passiert immer das gleiche: Gedrillt im “Historikerstreit”, umgetrieben von der Sucht nach “nationaler Identität” und aufgestachelt vom ’deutschen Exodus‘ aus einer allgemeinen Staatssklaverei, die nicht mehr am Nil, sondern jenseits der Elbe liegt, scheint das Verhältnis, das die bürgerliche Öffentlichkeit zu Schönhuber, dem völkischen Demagogen, pflegt, nichts anderes darzustellen als eine fadenscheinige Reprise genau jener ebenso innig verzückten wie zutiefst befremdeten Beziehung, die sie zu Hitler immer noch unterhält. Was sie, unter Abwägung aller Umstände, für den Notfall und zur Verhütung von Schlimmerem nur begrüßen kann, das verabscheut sie im Prinzip doch aufrichtig. Was sie an Hitler, dem Staatsmann, zumindest versteht, das geht ihr bei Hitler, dem Teppichbeißer, jedenfalls über den Horizont. Weil sie gegen “gesunden” Nationalismus gar nichts einzuwenden hat, eben darum bringt sie dessen “Übersteigerung” zum “krankhaften Chauvinismus” durch Schönhubers knalldeutsche Truppe auf die Palme. Was der bürgerlichen Gesellschaft einerseits die reinste Badekur und Medizin bedeutet – der Faschismus–, das fürchtet sie doch andererseits als das pure Gift. So steht sie ihrem größten Führer aller Zeiten merkwürdig gespalten und eindeutig schizophren gegenüber. Einerseits verteufelt sie den Mann Hitler als gerissenen Massenpsychologen und gnadenlosen Verführer, der an niedrigste Instinkte und urige Ressentiments appellierte. Nach dieser Seite vermag sie sich als unschuldiges Opfer zu genießen, das nicht wußte, wie ihm geschah, dem ausgerechnet seine ehrliche Absicht und vorbehaltlose Naivität zum Nachteil ausschlugen. Aber sie verteufelt ihn so energisch, daß man schon merkt, wie gewaltig sie ihn eigentlich anhimmelt. Denn andererseits betrachtet die bürgerliche Gesellschaft Hitler als einen dummen August und nützlichen Idioten, der unfreiwillig und als bewußtloses Werkzeug einer demokratischen List der Vernunft an den gesellschaftlichen Fundamenten unserer “modernen Industriegesellschaft” zementierte, die mindest so modern ist wie ihr Vorläufer archaisch und die daher weder Klassen noch Volksgenossen mehr kennen mag, sondern nur noch Interessenten und Staatsbürger. So gesehen erlebt sie sich als legitimen Nutznießer des Nazismus, dessen Opfergang und zeitweilig erzwungene Selbstverleugnung auf eine derart einträgliche Weise wiedergutgemacht wurden, daß nur von Vorsehung und höherer Gerechtigkeit noch die Rede sein kann.

Im Resultat erscheint so als Geschenk des Himmels, was doch als Methode nur die Ausgeburt der Hölle sein kann. Faszination und Grauen halten sich allemal die Waage, von der nicht gewußt werden kann, worauf sie geeicht ist. Nichts anderes als der Versuch, hier ein für alle Mal ins Reine zu kommen und endlich Bilanz zu ziehen, treibt die Nation und ihre republikanische Avantgarde um. Nichts anderes war der Treibsatz des Historikerhändels um die “Vergleichbarkeit” von Hitler mit Dschingis Khan mit Stalin mit Napoleon mit Bismarck mit Pol Pot. Daß der Versuch, Nutzen und Nachteil des Nazismus für die bürgerliche Gesellschaft zu kalkulieren, seiner Natur nach ausgehen muß wie das Hornberger Schießen – das stachelt erst den Ehrgeiz und dann die Wut noch an. Im Verhältnis von ehrlichem Eifer und im voraus garantierter Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens spiegelt sich die abstruse Dialektik einer bürgerlichen Gesellschaft, deren Linke nicht wissen kann, was ihre Rechte doch tun muß. Der Fanatismus, um jeden Preis den Vergleich noch dort zu ziehen, wo die Maßeinheit, das Dritte des Vergleichs, geheim ist und geheim bleiben muß, gibt den exakten Pegel der Verdrängung an und beweist überdies, wie es um das Verhältnis von Intention und Resultat in dieser Gesellschaft notwendig bestellt sein muß.

Denn soweit die bürgerliche Gesellschaft als nichts anderes sich vorkommt denn als horizontal gewobenes Netzwerk verhandelnder und Handel treibender Subjekte, als Gewebe freier und gleicher Willen, genau so weit versteht sie den Staat als einen wesentlich parlamentarischen Apparat. Hier gilt ihr der Staat als Instrument und geschäftsführender Ausschuß. Derart auf die Demokratie als den Apparat zum “Selbstbestimmungsrecht des Volkes” eingestimmt, kann ihr das Prozedere als eine höchst formale Angelegenheit erscheinen. Wie die Gesellschaft hier, liberal, als Summe der Individuen auftritt, so ermittelt die Wahl ihr wahres Interesse als das ihrer quantitativen Mehrheit. Aus dem Blickwinkel der Staatsbürger ist der Staat des Führers ein Unding der Herrschaft, ein Widerspruch in sich und ein Unrechtsstaat, eine Ausnahme, die mit der Normalität nicht einmal von ferne bekannt ist. Aber insofern eben diese bürgerliche Gesellschaft nichts anderes ist als ein hochgradig arbeitsteiliger, auf der Spaltung von geistiger und körperlicher Arbeit beruhender Zwangszusammenhang der gesellschaftlichen Reproduktion, insofern muß sie sich mißverstehen als Nation, als Volk und als organisch Ganzes, und insofern begreift sie den Staat als wesentlich autoritäres Hirn, das vorab weiß, was dem bewußtlos werkelnden Ganzen frommt. Hier gilt ihr der Staat als Inkarnation und als Wesen eigener Qualität, als Nationalstaat, der vor jedem formal demokratischen Prozedere immer schon seinen eigentlichen und materialen Inhalt hat. Wo die Gesellschaft so, als Naturzusammenhang und daher autoritär, auftritt, da erscheint die Wahrheit mit dem Interesse der Mehrheit als nur höchst zufällig verwandt. Aus dem Blickwinkel der Volksgenossen, die, jeder an seinem Platz, das Ganze am Leben halten, erscheint der Staat des Führers als gesellschaftliche Offenbarung und als Volksstaat, als Staat, der seinem Begriff auch praktisch gerecht wird, und als Ausnahme, die den Inbegriff der Regel stellt. So muß, was dem Bürger als einem, der seine Haut zu Markte trägt, als politische Antinatur schlechthin erscheint, ihm doch, wenn er sie danach in die Fabrik tragen muß, als ökonomische Natur par excellence vorkommen. Freier Wille und Naturzwang, Markt und Produktion, Konkurrenz um die Aneignung der Waren einerseits und Kooperation zu ihrer Erzeugung als unschuldig-natürliche Güter andrerseits – die Vermittlung bleibt Staatsbürgern und Volksgenossen gleichermaßen das Geheimnis, obwohl sie doch: Verwertung des Kapitals um jeden Preis, im Geld praktisch erscheint, und obwohl sie immerhin: Selbsterhaltung der Autorität zu allen Kosten, als Souveränität im Ernstfall praktisch durchgreift.

Weil die bürgerliche Gesellschaft bei ihrem Versuch, Nutzen und Nachteil des Nazismus auf einen Nenner zu bringen, den Zähler nicht kennt und nicht weiß, auf wessen Konto hier Soll und Haben immer genau aufgehen, darum gerät sie immer dann, wenn sie an ihren Führer erinnert wird, schier aus dem Häuschen, und man weiß nicht so genau, ob aus paniktreibender Angst oder freudiger Erwartung. Weil sie bei ihrem Versuch, mit der völkischen Demagogie Schönhubers zu konkurrieren, nie genau wissen kann, welche Dosis Nationalismus gerade angebracht und ob daher eine deftige Polemik gegen das den Deutschen von den Alliierten aufgezwungene “Fellachentum” (sagt Egon Bahr) geboten ist oder Nationalismus doch lieber als Geschmacksfrage behandelt werden sollte – “Zu einer Nation gehört, wer sich dazu bekannt, solange er sich dazu bekennt” (sagt Erhard Eppler) –, darum bringt sie sich so oder so und jedenfalls an den Rand der Erschöpfung und nervlichen Zerrüttung, aus der sie sodann nur noch erlöst werden will. Und weil sie bei ihrem Versuch, der autoritären Vergewaltigung zu entgehen, so oder so auf Nummer sicher gehen will, weiß sie immer noch nicht, ob sie Schönhubers Erfolge als ihre ureigenen behandeln möchte, sie unter der Rubrik “Normalisierung der BRD zu einem Land, das so demokratisch ist, daß es sich sogar eine richtige Rechte leistet” registrieren und daher “Freiheit für die Feinde der Freiheit” fordern soll, oder ob sie nicht lieber selbst mit dem formalen Demokratismus ein Ende macht und der Restauration der BRD in Deutschland nach dem Motto “Faschismus darf nicht wählbar sein” oder “Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit” zuvorkommt. Eines aber hat Schönhuber immerhin klargestellt: Die Deutschen sind wieder wer, sie wissen nur noch nicht, was.

Nachgedruckt in Flugschriften. Gegen Deutschland und andere Scheußlichkeiten

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