Initiative Sozialistisches Forum – Kurzer Lehrgang, langer Marsch

Initiative Sozialistisches Forum

Kurzer Lehrgang, langer Marsch

“Spare in der Zeit, so hast Du in der Not!”: Von heute her betrachtet entsteht der bestimmte Verdacht, die ganze Studentenbewegung sei nur erfunden worden, um die Wahrheit von Sparkassenreklame zu illustrieren. Die Revolte war ein voller Erfolg – vor allem für die ‘68er. Daß heute von ihnen gesprochen wird, wie zu Zeiten der Reichsgründung 1871 von den ‘48ern, ist Zeichen ihres Durchbruchs zum geschützten Markenzeichen, zum Patent. Das Engagement hat sich doppelt und dreifach gelohnt, und das damals mühsam im ,Kurzen Lehrgang‘ zusammengekratzte politische Kapital zahlt sich nun den Überbleibseln der Bewegung mit dem Zins und Zinseszins der politischen Glaubwürdigkeit heim. Im Rückblick erscheint die Bewegung als ein gewaltiger Intensivkurs im Einmaleins von Public Relations, Kommunikationstechnik und politischem Management. Was mittlerweile wie von selber läuft, mußte damals mühsam improvisiert werden: Überblick, Mut zur Lücke und Lust am Risiko waren gefragt, Qualifikationen also, die akademische wie politische Karrieren begründeten. Wer es in der antiautoritären Bewegung nicht geschafft hatte, das Mobilisieren und Agitieren aus dem Effeff zu lernen oder, wahlweise, das irgendwie links gemeinte Begatten wissenschaftlicher Ansätze mit Marxismus als Superwissenschaft zur zweiten Natur sich zu machen, der hatte in Politik und Wissenschaft schlechte Karten und mußte linker Lehrer werden. Wer dann auch noch die nächste Gelegenheit verstreichen ließ, wem es nicht gelang, auf der schiefen Bahn der Neuen Sozialen Bewegungen herunter zur Grünen Partei einen Vorsprung im Rekrutieren und Politisieren zu ergattern, dem erging es schon schlechter: Die alternative Pädagogik war mit Pensionsberechtigten schon überfüllt; die alternative Ökonomie mußte die Ausbeutung selber organisieren.

Wer auf dem Langen Marsch in die Gründung der Anti-Parteien-Partei nicht schlappmachen wollte, der mußte zäh sein wie eine Basisgruppensitzung, schnell wie ein Stadtindianer und hart wie ein Lokalfunktionär vom KBW. Übrig blieb, wer kein Jota an politischer Identität und vom Lernprozeß nachgab. Die Elite, die nun die Führung übernahm, hatte zur Genüge bewiesen, daß ihr das politische Erweckungserlebnis von ‘68 nicht äußeres Schicksal war, sondern innere Berufung. Darin kommt die Dialektik des antiautoritären Bewußtseins an ihr logisches Ende: Sie hat zu einer neuen politischen Unschuld sich vermittelt und tritt nun mit dem naiven Charme unmittelbarer Menschenfreundlichkeit auf. Die ,Politik in erster Person‘ vollendet sich im Berufspolitiker, dem nichts über sich selber geht. Gleichwohl muß ein Rest innerer Distanz vorhanden sein, eine Art von Lausbubenhumor, der glauben machen soll, die Politik geschähe um höherer Zwecke willen und sei doch so bierernst nicht gemeint. Unnachahmlich beherrscht diese Kunst wohl nur Daniel Cohn-Bendit, der süffisant einen anderen Kulturrevolutionär von damals mit der Frage hätschelt: “Und Du kämpfst nicht mehr gegen den Staat?”, ein “Du”, das auf der Zunge zergeht. Der Befragte, Jerry Rubin, Autor des Revolt-Bestsellers “Do it”, muß mit der Wahrheit herausrücken: “Nein, nicht mehr. Das hat sich erübrigt, das ist der verkehrte Kampf. Der Staat, das muß ich jetzt selber werden, natürlich nicht ich persönlich: wir alle. Alle aus der 60er-Generation, die heute die Massen der 80er Jahre ausmachen. Die beste und einzige Weise, heute den Staat zu bekämpfen, ist, sich an seine Stelle zu setzen. Und wir sind zahlreich genug, wir, die Bänker, Ärzte, Zahnärzte, Unternehmer – der Staat, das sind wir. Warum soll man denn gegen sich selbst kämpfen?” Darin besteht die Kunst der politischen Kommunikation: Das Programm der zur Partei erhobenen katholischen Landjugend, der man selber anhängt, aus anderen herauszukitzeln, ohne selber dafür haftbar gemacht werden zu können.

Der antiautoritär geschulte moderne Berufspolitiker hat gelernt, eine klare Massenlinie durchzuhalten und sich doch nie unwiderruflich festzulegen. Er ist flexibel, weiß zwischen Standbein und Spielbein zu unterscheiden und läßt sich nie auf dem falschen Fuß erwischen. Wahlweise spielt er die Ansprüche von früher gegen die grüne Wirklichkeit von heute aus und dann wieder die Partei gegen die Bewegung. Er selber etabliert sich so als die allumfassende Vermittlung, die, kraft der Spontaneität seiner Person, die Extreme zusammenhält. Auf Widersprüche kommt es ihm dabei nicht an, denn seine Biographie hält den ganzen Kladderadatsch zusammen, fügt es zur Identität. 1968 war man gegen die Notstandsgesetze und denunzierte den Staat als faschistisch, heute bastelt man an Gesetzesentwürfen und lobt den Parlamentarismus über den grünen Klee. Aber nur unter Vorbehalten, natürlich. So meint ein grüner Fraktionssprecher im bayrischen Landtag: “Schließt man eine revolutionäre Veränderung in mittelfristiger Zeitplanung aus, werden wir uns auch über die Zeitperspektive, die wir uns angesichts der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen einräumen können, Gedanken machen.” “Man” schließt aus und “wir” machen uns Gedanken. Zum Beispiel darüber: “Wir haben keinen Anlaß, über die Defizite staatlichen Handelns und die Korruptheit der Regierenden hinwegzusehen. (…) Es hieße aber das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man aus diesem Grunde in der heutigen Zeit den Staat als solchen total ablehnen.” Bei aller Kritik im einzelnen – in bezug aufs Ganze muß es doch konstruktiv und pragmatisch hergehen. Erst durch Kritik erhält das Mitmachen um jeden Preis seine höheren Weihen. Der politisierende Narzißmus begreift den ,Staat als solchen‘ als überdimensioniertes Ich, als die Idee und das Wesen der Wirklichkeit. Abstrahiert von Macht und Herrschaft, erscheint der Staat als Leviathan, als Zusammensetzung von Menschen und als nichts als die reine Kommunikation. Staat tritt auf als menschliches Netzwerk. In der Vorstellung vom ,Staat als solchem‘ resümiert sich der Begriff des politischen Fortschritts als Herrschaft der total werdenden Abstraktion. Das berühmte Diktum “Der Staat bin ich” des Ludwig XIV. wird auf höherer Ebene wieder wahrgemacht, eine Bewegung negativer Dialektik, die im nachhinein die bürgerlichen Revolutionen als unnötige Aufregung und viel Geschrei um nichts denunziert. Der Absolutismus von einst wird als kollektiver Narzißmus, als Psychokratie und Selbstverwaltung der Subalternen reproduziert. Die gelernte Seelenentsorgerin Antje Vollmer hat im Namen der Erben von ’68 das Resümee dieser Entwicklung gezogen. Im Bundestag führte sie aus, “der Staat (sei) nämlich nichts von den Individuen Abgehobenes, ein kollektives Grundböses, sondern der Staat sind wir”.

Nach zwanzig Jahren ’68 haben die antiautoritären Jugendsünden von einst zum demokratischen Altersstarrsinn von heute sich versteinert. Die Erben werden über alles mit sich reden lassen, weil sie nicht vorhaben, irgendetwas anderes als immer nur sich selbst begreifen zu wollen. Ihr Wille zur Macht, den die Protestbewegung noch in der Nörgelfrage nach dem “Was tun?” sich geheimhalten mußte, hat zur Wiedervereinigung mit Deutschland beigetragen. Zwanzig Jahre 68 sind schon einen Sedanstag wert.

Nachgedruck in: Das Ende des Sozialismus, die Zukunft der Revolution

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