Krieg gegen die Ukraine

Vom Roten Oktober zum ontologischen Wahn

 

Deutschland nach Kriegsbeginn.– Vor genau hundert Jahren wurden die sowjetischen Streitkräfte, das Heer und die Luftstreitkräfte, zur Roten Armee zusam­mengefasst. Weil diese aus dem Roten Oktober hervorgegan­gen war und weil sie am Ende des Großen Vaterländischen Krieges Hitler zum Selbst­mord im Führerbunker und am 8. Mai 1945 zusammen mit den Westal­liierten Deutschland zur Kapitu­lation genötigt hatte, galt sie auch außerhalb der Sowjet­union als ruhm­reiche Revolutions- und Befreiungsarmee. Bis zu ihrer infolge des Zerfalls der UdSSR im Jahre 1991 notwendig gewordenen Überfüh­rung in die nun um die ›Welt­raumkräfte‹ erweiter­ten ›Streit­kräfte Russ­lands‹ genoss sie bei vielen Linken aus aller Welt den von Stalin temporär befleckten, aber im Grunde guten Ruf einer Befreiungs­armee, den man auch angesichts der Kriegsgräuel in Tschetschenien und Syrien nicht antasten wollte. Die Armee Putins und seine ordens­behan­genen Alten und Obersten konnten bis heute nicht nur bei den jähr­lichen Para­deaufmärschen auf dem Roten Platz von diesem Ruhm zehren. Viele zwar für den Widerstand zu spät geborene und ungediente, aber in der Iden­ti­fikation mit dem guten Aggressor geübte deutsche Linke taten es ihm – mal verschämt, mal auftrump­fend – bis zur März-Ausgabe der konkret gleich. Dort hatte Jörg Kronauer unter dem Titel »Go East! Die Nato-Aggression gegen Russland« den allerdings untaug­lichen Ver­such übernommen, »ein wenig Ordnung in die nicht nur propa­gandistische Aggression der Nato gegen Russland zu bringen«.[1]

Damit war es am 24. Februar vorbei. Fast so schnell, wie Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vom 27. Februar nach 20 Jahren unappetitlichster Gazprom-Männerbün­de­lei die außen- und militärpolitische ›Zeitenwende‹ voll­zogen hatte, übertrafen sich Linke – auch in der konkret – nun im ostentativ selbstkritischen Bekenntnis soeben überwundener Arglosigkeit gegenüber dem ewigen KGB-Agenten im Kreml, in Solidari­tätsbekundungen mit dem ukrai­nischen Volk und der Majdan-Bewegung. Und so rasch, wie sie sich in den beiden Jahren zuvor zu Experten für Virologie, Epidemio­lo­gie und Seuchenrecht fort­gebildet hatten, so selbstver­ständlich gingen ihnen jetzt Begriffe wie ›der Don­bass‹, ›das Minsker Abkom­men‹ oder ›die Panzerhau­bitze‹ über die Lippen. Nur wenige offenbar in einer Zeitschleife der bolsche­wistischen Antike hängen gebliebene Veteranen der vor­läufig letzten Interna­tionalen pflegen noch heute den Mythos der roten als einer kommunistischen Armee, die sie nie war. An ihre Stelle traten die bekannten konfor­mistischen Impf-Rebellen von rechts, denen der Krieg gerade rechtzeitig vor der viralen Sommer­flaute neue Parolen zum unterbrechungsfreien Weiterdemon­strieren gegen das NATO-Establishment bescherte, Deutschre­volutionäre um den schwäbischen Antisemiten Jürgen Elsässer, russische Internatsschüler, Salon­faschisten von Götz Kubitscheks Rittergut in Schnellroda, Gerhard und wohl auch seine Gattin So-yeon Schröder-Kim sowie onto­lo­gisch beson­ders bedürf­tige AfDler im Umkreis von Eugen Schmidt, der zur För­derung des Ver­trauens in Putin noch kurz vor Kriegsbeginn seine Rede im Deut­schen Bun­des­tag auf Russisch mit den Worten zum Höhe­punkt trieb: »Wollen die Russen Krieg? Nein!« (»Хотят ли русские войны? Нет!«).[2]

 

Realtime.– Das alles ist todtraurig und auch für Ideologiekritiker, die wie der Bundesprä­sident[3], Jürgen Kubicki[4] oder der BND[5] von Putins Russland wenig verstanden,[6] beschämend, aber nicht unfassbar. Denn der Krieg kam, während die russischen Soldaten und Söldner in der Ukraine zu morden begannen, mit einer solch schockierenden Informationsdichte und beklemmenden Bildgewalt in Realtime über die Konsu­menten, dass mehr als die üblichen im kulturin­dustriel­len Betrieb erworbenen Reflexe nicht zu erwarten waren: Zuerst rang noch in leiseren Tönen das Mitge­fühl mit der weni­g selbst­losen Angst, der Krieg könne über die Oder-Neiße-Linie oder via Mittelstreckenraketen aus Königsberg auch über ›uns‹ hereinbrechen. Dann wurde es lauter, und rastlos um ihre Selbstwirk­samkeit bemühte Meinungsführer forderten mehr und ganz besondere Waffen mit einer kriegswarenkundlichen Präzi­sion, als spiel­ten sie täglich Call of Duty. Auch zur Lieferung schwersten Kriegsgeräts entschlossene »Olivgrüne« (Der Spiegel) wie der zu Ostern aus den Tiefen der Bio­kompostierung auferstandene und über Nacht in allen Waf­fengattungen bewander­te Anton Hofreiter rangen mit Nato-Skep­tikern, die im­mer noch meinten, Russ­land würde in Mariupol seine Grenzen gegen die soge­nannte NATO-Osterwei­terung vorwärtsverteidigen. Unter den Gemäßigten fand sich auch der podcas­tende Konversa­tionsphilosoph Richard David Precht, der sich mit der aristotelisch appro­bierten Empfehlung an die Ukrainer hervortat, sie mö­gen sich an ihre »Pflicht zur Klug­heit« erinnern, ohne indes das böse Wort ›Kapitulation‹ auszu­spre­chen.[7] Denn: »Die friedlichen Zeiten, meinte einst Hegel, sind die leeren Blätter im Buch der Weltgeschichte. Sie nicht mit wei­te­rem Leid zu schwärzen ist die Moral der Stunde.«[8]

 

Déjà-vu.– Das alles ging laut und rasend schnell über die Bühnen des politischen Betriebs und ließ kaum Raum für die einfache Frage: Haben wir – namentlich als Ideologie­kri­tiker – das alles nicht schon einmal in der Weise gesehen, dass wir in hell­sich­tigen Augen­blicken sowohl vergangene als auch die damals noch fernen Kriege als die unseren zu erken­nen ver­mochten. Erinnern wir uns noch daran, was wir als die Totalität einer kapi­ta­listisch ver­fassten Welt verstanden haben, in der sich zwar die Staaten unter­scheiden, das Kapitalverhältnis aber überall das­selbe sein will? Unter der permanenten und globalen Nötigung des Kapital­verhältnisses ist nichts, woran wir uns erinnern können, vorbei, weil das Kapi­talverhältnis als schlechtunendliche prozessierende Präsenz die geschichts­bil­denden Kräfte der Gattung tagtäglich unterminiert. Welcher Unterschied liegt also in dem Umstand, dass eine mit einem atoma­ren Spreng­kopf bestückte Rakete von Kaliningrad nach Berlin nur ein paar Minuten Flug­zeit benötigt, während wir das gerade soeben erst zerbombte Aleppo schon wie eine zeitlich und räumlich in die Antike entrückte Ruinenstadt gleichsam archäologisch wahrnehmen? Die Kritik an Staat, Kapital und Krieg aber muss konkret und doch ortlos sein, weil überall alle eine Verantwortung für die Kriege tragen, die weltweit unter den Bedingungen von Staat und Kapital stattfinden.

Dass auch dem in Angst geratenen Kritiker die Welt seit dem 24. Februar so unabweisbar bedrohlich und abgründig fremd wer­den konnte, zeigt nur, dass sie ihm vorher wider anderslau­tender Selbstbe­schrei­bungen nicht fremd genug war. Überhaupt scheint es mög­lich, wenn nicht zur Regel geworden zu sein, als könnten kluge Texte ohne jeden Erfahrungs­ge­halt verfertigt wer­den, indem in ihnen die Text gewordene geistige Erfahrung Dritter einfach wie­deraufbereitet: zitiert, mit Wissen und Bescheidwissen ange­reichert und ummon­tiert wird. Weil wir also, was wir dachten, nicht ernst nahmen oder doch nicht ernst genug, haben wir fast genauso wie der Bundespräsident, Jürgen Kubicki oder der BND nicht bedacht, dass nicht erst seit der Annexion der Krim ein Krieg bevorstand und seit dem letzten immer ein Weltkrieg droht.

Kurz bevor diese Zeilen geschrieben wurden, hat Putin jener Brigade, die Kriegsver­brechen und massenhafte Tötungen in der Stadt Butscha begangen hat, weltöffentlich einen Ehrentitel verliehen. Am Ostermontag unter­zeichnete er das Dekret, mit dem die 64. motorisierte Infanteriebrigade den Ehrentitel einer »Garde« für »Heldentum und Tapferkeit, Entschlossenheit und Mut« erhält.[9] – Damit ist die Barbarei nun nicht mehr nur für die Zwecke inter­nationaler Gerichtshöfe dokumentiert, sondern vom Täter selbst beur­kundet worden. Das alles zwingt zur umstandslosen tätigen Hilfe für die Men­schen in der Ukraine und für die aus der Ukraine Geflüchteten bei gleichzeitiger Abstandnahme von einem jeden zur Propaganda depravierten Denken, das immer und unbedingt auf sofortige Zustimmung pocht, die Poren des vielleicht triftigen Gedankens mit Pathos verstopft, die Selbstbehauptung des Partikularen mit der Selbsterhaltung eines Ganzen verwechselt, das es noch gar nicht gibt. Wir wollen daher Abstand nehmen, auf die all­zeit mögliche Vervollständigung kuranter Lageberichte verzichten und das Wenige, was sich einem eher tastenden Denken anbot, zum Zwecke des weiteren Denkens und der Förderung tätiger Hilfe nur knapp in einigen Thesen skizzieren.

 

»In Putins Kopf«.– So lautete der Titel der deutschen Übersetzung einer 2015 in Frankreich erschienen Studie des Philosophen Michel Eltchaninoff, welche uns Putin als einen apokalyptischen Esoteriker zeigt, als die Inkarnation des ato­mar bewaffneten ontologischen Bedürfnisses. Das bedient sich, eklekti­zistisch wie alle Formen pathischer Imagination, der russischen Folklore ein­schließlich der Begeisterung für die sogenannte russische Seele, des gefrorenen Lichterglan­zes der orthodoxen Kirche Kyrills, des Patriarchen von Moskau ›und der ganzen Rus‹, und via Nikolai Berdjajew, Iwan Iljin und Alexander Dugin der Funda­mentalontologie Marin Heideggers, dessen Schwarze Hefte bald nach ihrer Ver­öffentlichung in der Gesamtausgabe ins Russische übersetzt und  dort breit rezi­piert wurden.[10]

Putin selbst resümiert seine Meinung von sich und der Welt in seiner den Überfall auf die Ukraine vorbereitenden Rede vom 21. Feb­ruar: »Die Ukraine ist für uns nicht einfach ein Nachbarland. Sie ist inte­gra­ler Bestandteil unserer eigenen Geschichte, unserer Kultur, unseres spirituellen Raums [духовного пространства].« Hätte er in Heideggers Schwarzen Heften nachgeschlagen und vorher Alexander Dugin konsultiert, dann hätte er den philosophischen Hitler-Stalin-Pakt vielleicht so formulieren können: »Die Ukraine ist Teil unserer Geschicht­lichkeit[11], unseres gemeinsamen Schicksals als einer Schickung des Seins und unseres spirituellen Großraums von Wladiwostok bis Lissabon.« Und auf Nachfrage hätte er sich selbst als den Katechon des Seins offenbart, der den Ver­fall der Welt, der auf den Namen ›Westen‹ hört, mit dem Blut der zum Opfer entschlossenen russischen Soldaten aufhalten muss und will.[12]  Beim anschlie­ßenden Treffen von Offizieren im Wissens- mit solchen im Wehrdienst würde er dann vom Jargon der Eigent­lichkeit mühelos in den des Freikorps Wagner und der anwesenden Kadyrowzy wechseln und vor ihnen der Ukraine so zuprosten, wie nur echte Männer das können: »Ob es dir gefällt oder nicht, meine Schöne, du musst es erdulden.«[13]

 

Der Staat als Individuum.– So wie der Einzelne im Kapitalverhältnis genötigt ist, stets zwischen Hingabe und Abwehr, freigiebiger Öffnung und geiziger Ver­stocktheit, dem Flow der Gefühle und Märkte und dem Bedürfnis nach festem Grund und tiefen Wurzeln in den geschlossenen Grenzen von Heimat und Fami­lie zu oszillieren, so ist auch das Handeln des Staates im Innersten zerrissen. Als Gestalt des Souveräns muss er die Volonté générale im dialektischen Gegenstoß in sich selbst stets zugleich herstellen und ermitteln, durchsetzen und verwalten, erzeugen und gründend begründen. In der instabilen Phase zwischen zwei Krisen verdoppelt er als gewaltenteiliger Rechtsstaat den abstrakt freien Willen der Marktteilnehmer zum freien Wählervotum der Staatsbürger, das im Räderwerk der Staatsorgane zum Konzert sanfter Sachzwänge komponiert wird, in denen sich der Staat als Wächter über das leere Freiheitsgeschehen von Wert und Souverä­nität performativ realisiert. In der Krise der Verwertung aber transformiert sich die Souveränität als krisenfreie und vom Staate bewachte Reproduktion nach innen zur unmittelbaren Gewalt und für jeden sichtbaren bewaffneten Souverä­nität gegen außen (und innen). So wie sich bei Thomas Hobbes die menschlichen Individuen ohne den Levia­than im Naturzustand befinden und sich zueinander wie Wölfe verhalten, so wird auch der Staat als Individuum in der Krise seiner politischen Ökonomie zum Raubtier. Dazu bedarf er eines Personals in Gestalt marodierender Soldateska, das mit Lust tötet, vergewaltigt und plündert.

Die von Hegel als Fortgang in die neue »Unmittel­barkeit« des Krieges bestimmte Kontraktion der Vermittlungsleistungen der Sitt­lichkeit im kriegerischen Staat bedarf der Transformation des in seine geteilten Gewalten ausgelegten Staatsapparates in einen tendenziell durch eine Führer­bande oder einen einzelnen Führer repräsentierten Lumpenstaates. Thorsten Fuchshuber hat den russischen als vertikal organisierten und auf Putin zentrierten Racketstaat näher bestimmt.[14]

 

Die Krise Russlands.– Die Krise Russlands erklärt sich zunächst daraus, dass die durch Gorbatschow nach dem Augustputsch 1991 erklärte Kapitulation gegenüber dem damals noch hegemonial geordneten und vergleichsweise star­ken Westen der Russischen Föderation und den anderen ehemaligen Republiken der UdSSR weder ökonomisch Perestrojka im Sinne blühender Landschaften noch politische Glasnost in Gestalt einer durchsichtigen Gewaltenteilung nach westlichem Vorbild brachte. Vielmehr befindet sich Russland seit Jahren in einer Phase der Stagnation, deren Ende nicht abzusehen ist. Das größte Flächenland und die zweitgrößte Militärmacht der Erde gelangte gemessen am Bruttoinlands­produkt im Vergleich der größten Volks­wirtschaften der Welt nur auf den 12. Platz knapp vor Brasilien. Die Orien­tierung der Wirtschaft an der Rohstoffge­winnung und an einer Rüstungsindustrie, welche hinsichtlich der Pro­duktion der eigenen Militärmaschinerie nicht kapitalproduktiv sein kann, Geburten­rückgang und die Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte, die damit einhergehende Ver­schlechterung des Lebensstandards der unteren und mittleren Schichten und nicht zuletzt die entwick­lungshemmende Verflechtung von Staat und Wirtschaft[15] verwiesen die russi­sche Nationalökonomie hinsichtlich des BIP/Einwohner auf den 13. Platz noch hinter die Türkei. So folgte aus der strategisch gemeinten Parole ›Wandel durch Handel‹ für Russland wesentlich die Ökonomie eines die Öl- und Gasrente bewa­chenden Staates, der als Komplize westlicher Staaten, vor allem Deutsch­lands, seine Bodenschätze exportierte, ohne wie China zugleich sein industriel­les Kapital auch nur perspek­tivisch auf Welt­marktniveau entwickeln zu können. Das kann auch nicht überraschen, da der Handel mit Rohstoffen kaum Einfluss auf die Produktionsverhältnisse des exportierenden Landes haben kann, da er sich wesentlich in die Realisierung der Grundrente in Devisenform erschöpft.

Die Schwäche Russlands resultierte also nicht aus der Nato-Osterweiterung, sondern aus der globalen Kapital-Erweiterung, die sich in der Expansion des Weltmarktes vor allem durch den Aufstieg Chinas zu einer politisch-militä­ri­schen und ökonomischen Weltmacht und als massenhaftes Bedürfnis nach Kon­sum-, Gewerbe- und Meinungsfreiheit in den ehemaligen Staaten der UdSSR Ausdruck und Geltung verschaffte. Dabei konnte Russland aus den genannten Gründen nicht mithalten.

 

Kriegsziele.– Im Handeln des russischen Staates tritt dem Westen die eigene verdrängte blutige Geschichte und der Ausnahmezustand als staat­liche Gewalt entgegen, der hier aus der Ent­koppelung der russischen Politik von einer im Weltmaßstab unproduktiven Roh­stoff- und Vorkriegswirtschaft entstand. Das halbautomatische Staatssub­jekt Kapi­tal (Heinz Langerhans) lässt die Logik der Ökonomie zugunsten einer Logik der Politik hinter sich und erkennt in dieser Logik alsbald im Sinne Carl Schmitts das Wesen des Politischen überhaupt: die Unterscheidung von Freund und Feind in der Feindbestimmung. An diesem Punkt, den Russland lange vor der Annexion der Krim schon im Georgienkrieg 2008 erreicht hatte, verschob sich die Logik des Politischen notwendig in die des imperialistischen Krieges, da Russland nur durch eurasischen Raumgewinn im Sinne von »Meer und Land« (Carl Schmitt) im Konzert der Großmächte beste­hen kann. Der Ausdehnung seiner Landmacht hin zum Meer diente schon Russlands Eintritt in den syrischen Bürgerkrieg im Jahre 2015; dort war eines der Kriegsziele die langfristige Siche­rung des Mittelmeerhafens in Tartus, des einzigen Stützpunktes, den die russische Marine im Mittelmeer unterhält.

Die Kriege Putins dienen also im Äußeren der Beherrschung von großen Räu­men, um so als atomar bewaffnete Großmacht in der Konkurrenz der USA, Chinas und Europas bestehen zu können. Nach der Abdankung der USA als Hegemon unter Obama kam es für Putins Russland in einer ›multipolar‹ werden­den Welt darauf an, nicht nur als Kettenhund Chinas im Konzert der Groß­mächte mitspielen zu können. Wirtschaftlich wird die Allianz mit China durch die Synchronisation der Neuen Seidenstraße mit der Eurasischen Wirtschafts­union realisiert.

Im Inneren folgt Putin einer Strategie, die der Historiker Hans-Ulrich Wehler in Bezug auf das deutsche Kaiserreich unter dem Begriff des ›Sozialimperialismus‹ zu fassen suchte.[16] Wehler erkennt in raumorientierten imperialistischen Bestrebungen das außenpolitische Ziel, ein innenpolitisches zu lösen, nämlich gegen die privilegierten Gruppen im Inneren gerichteten Affekte und Impulse unzufriedener Bevölkerungsschichten auf den äußeren Feind umzulenken. Zugleich sollten diese durch direkte oder vermittelte Teilhabe an der Kriegsbeute aus fernen Ländern für die Entbehrungen im eige­nen Land entschädigt werden.

 

Israel.– Die russisch-israelische Journalistin und ehemalige Knesset-Abge­ordnete Ksenia Svetlova veröffentlichte am 2. März in der Online-Ausgabe des Tablet Magazine eine Analyse der gefährlichen Folgen des Ukraine-Krieges für Israel. Unter dem Titel Russia’s Next Target for Intimidation Could Be Israel[17] kommt sie zu dem Schluss, dass das vom Westen sanktionierte und auf neue Märkte in Asien angewiesene Russland demnächst wahrscheinlich eine größere Nähe und Partnerschaft mit dem Iran suchen wird. In dieser Per­spektive würde die labile Koordination der israelischen und russischen Luftwaf­feneinsätze in Syrien mittelfristig unmöglich und dadurch die Hisbollah gestärkt werden, die vom Iran finanziert und mit iranischen, russischen und chinesischen Waffen ausgestattet die Vernichtung des Staates Israel anstrebt.

Dies dürfte allerdings nur eine der naheliegenden Risiken sein, die für die Existenz Israels zu befürchten sind. Allgemein ergeben sich größere Gefahren aus einer globalen Konstellation, in der kein Hegemon in der Lage sein wird, einen expandierenden und seine Expansion unbedingt benötigenden Weltmarkt vor räuberischer Erpressung, raumgreifenden und gewaltsamen Kurzschlüssen durch China, Russland oder eine atomar bewaffnete Regionalmacht zu schützen.

Damit verliert das Kapital als Vermittlung um der Vermittlung willen seine über den Weltmarkt global wirksame Resistenz­kraft gegen die Unmittelbarkeit der Gewalt, was nichts anderes bedeuten kann, als dass Israel als der einzige Staat, dessen Räson in permanenter Notwehr besteht,[18] die Juden und die als Juden Verfolgten womöglich nicht mehr wird schützen können. Dies gilt umso mehr, als zu erwarten ist, dass der Politik gewordene ontologische Wahn eines Putin mit den faschistischen Kräften im Lande auch antisemitische Affekte gegen die Juden zunächst erlauben und dann mehr oder weniger vorsätzlich mobilisieren wird. Das läuft sich bereits warm, wie die aus der antizionistischen Propaganda bekannte Denunziation der Ukraine als eines »Gebildes«, die russische Agitation gegen »vaterlandslose Gesellen« und »Globalisten« oder die öffentlich bekundete Erkenntnis Sergej Lawrows zeigen, dass »Hitler auch jüdisches Blut« habe und bekanntlich die eifrigsten Antisemiten selbst Juden seien.

 

Was tun, was lassen? – Man muss lernen, die Frage was zu tun sei, hin und wieder als eine Gestalt der Unwahrheit und als unanständig zurückzuweisen, und zum hun­dertsten Mal sich und andere daran erinnern, dass das Kapitalverhältnis eben nicht nur Waren-, sondern wesentlich auch Denk- und mithin Willensform ist. Die Waren können ohne den Hüter, der sie besitzt, »nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen«.[19] Auch die Gedanken können sich nicht selbst denken, son­dern müssen gegen die aus der Psychoanalyse bekannten und höchst raffinierten Techniken jener Abwehr gedacht werden, mittels derer das­selbe Indivi­duum sich selbst gegen die Möglichkeit seiner Verantwortung eindämmert und am Denken, jedenfalls am aufrichtigen Denken, hindert. Weil es sich längst selbst belogen hat, bevor andere zu belügen es sich anschickt, muss man also zunächst gegen sich selbst denken und nicht immer so tun, als käme es auf den Einzelnen an und als sei man auf Abruf zu irgendeinem Tun oder Unterlassen berufen. Nicht mehr wollte Wolfgang Pohrt unter dem miss­verständlichen Titel Kapitalismus Forever sagen, als er das Einverständnis der Menschen mit dem Kapital mit dem Schluss­satz quittierte: »Dagegen kann man nichts machen.«[20] Dagegen kann man nichts machen, weil man die Freiheit, gegen das Kapital zu denken, eben nur als Freiheit denken kann.

Dass Putin den Krieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen den liberalen Kapitalismus der westlichen Staaten führt, wird die Kritik der politischen Ökonomie noch mehr von den Rändern der öffentlichen Diskussion in die letzten Winkel einsamer Denkerinnen und Denker abdrängen. Denn nun erscheint der Westen auch denen, die einmal mehr wussten, endgültig als die beste aller möglichen Welten. Gegen Putins Imaginationen gilt dann der Westen als der wahre Katechon, der die Barbarei aus dem Osten aufhält, damit sich irgendwann einmal die Revolution, die längst niemand mehr als not­wendig erkennt oder gar ersehnt, doch noch ereignen könnte. Und schon die Erinnerung an den Begriff der Totalität, der Gedanke also, der Imperialismus des auto­ritären Ostens sei als Ausdruck der Ungleichzeitigkeit der kapitalen Vergesellschaftung auf den prosperierenden liberalen Westen in der Zeit zwischen zwei Krisen zu beziehen, wird mut­maßlich dem schlichten Verweis begegnen: man wolle wohl erstens Putin entschuldigen und solle zweitens doch froh sein, dass man hierzulande Adorno jederzeit frei in jedem beliebigen Café bei einer Tasse Espresso und ohne Beschuss lesen dürfe.

Dass viele Ukrainer freiwillig und unter Einsatz ihres Lebens gegen die rus­sischen Invasoren kämpfen, gibt schmerzhaft zu denken und beschämt zugleich. Es beschämt, weil es uns vor Augen führt, dass wir uns als Kritiker noch nicht einmal im Den­ken aufs Spiel setzen. Es ist daher nicht an uns und es ist auch nicht an der Zeit, aus sicherer Entfernung die Gründe der Kämpfenden zu unter­suchen und zu wägen. Auch dort, wo wir Nationalismus, Identifikationen und einen unaufgeklärten Begriff von Freiheit erkennen, sollten wir bedenken: Die Ukra­iner identifizieren sich als Opfer gegen eine fortgesetzte Aggression, die schon vor dem durch Hunger bewirkten Massenmord in den 30er Jahren des vorigen Jahrhun­derts begann und sich im Bewusstsein der Ukrainer bis zur Auslöschung Mariupols fortsetzt. Insofern ging die identifizierende Gewalt vom Aggressor aus und wird in seiner Abwehr von den Opfern nur wiederholt. Es ist, mit anderen Worten, der Feind, der hier Nation Building betrieb und den Begriff der Nation insofern als rational erscheinen lässt, als in ihm die Leiderfahrung von drei Genera­tionen und 100 Jahre ukrainischer Geschichte aufgespeichert ist.

Im Übrigen kann und soll man den Opfern des Krieges selbstverständlich auf jede erdenkliche Weise so beistehen, wie man es bei Flüchtenden aus Syrien, Afghanistan oder dem Sudan längst hätte tun müssen: man soll sie finanziell unterstützen, wenn immer möglich bei sich auf­nehmen und ihnen mit allem, was notwendig ist, gegen die grausame Trost­losigkeit des Krieges zu helfen versuchen.

 

ISF Freiburg
16. Mai 2022

 

 

 

Anmerkungen

[1]     Jörg Kronauer: Go East! Versuch, ein wenig Ordnung in die nicht nur propagandistische Aggression der Nato gegen Russland zu bringen. In: Konkret 3/2022, S 12-16.

[2]     www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/afd-ukraine-russland-101.html.

[3]     »Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat …«
In: Zeit Online, 04.04.2022.

[4]     Kubicki, ganz Anwalt und schamlos wie immer, äußerte auf die Frage, ob er sich wie Stein­meier in Putin geirrt habe: »Nein, das würde voraussetzen, dass ich ein festes Bild von Putin gehabt hätte.« In: Der Spiegel, 09.04.2022, S. 29.

[5]     RedaktionsNetzwerk Deutschland am 10.03.2022. www.rnd.de/politik/putins-angriff-auf-die-ukraine-was-wusste-der-bnd-CS6OCNX6ERAKPKDFWAEUMWLQTU.html.

[6]     Als Ausnahme seien hier verschiedene Arbeiten von Thorsten Fuchshuber genannt, der 2019 in einer umfassenden Arbeit zur kritischen Theorie der Bandenherrschaft eine Analyse des ver­tikalen Putinismus vorgelegt hatte: Rackets. Theorie der Bandenherrschaft. Freiburg 2019, S. 550 ff. Lesenswert ist auch der Essay von Alex Gruber, der bereits kurz nach der russischen Annexion der Krim die esoterisch fundamentalontolo­gischen Phraseologie von Alexander Dugin analysierte, der bis vor kurzem als einer der wich­tigsten Stichwortgeber Putins galt: „Nun beginnt der Kampf um die Postmoderne“. Alexander Dugin und der russische Aufstand gegen die Vernunft. In: sans phrase 5/2014, S. 41 ff.

[7]     Steven Geyer am 13.03.2022 in der Frankfurter Rundschau.
www.fr.de/meinung/keine-kapitulation-91407570.html.

[8]     Richard David Precht: Wo bleibt der Schritt zur Vernunft? In: stern. 17.03.2022, S. 101.

[9]     Spiegel Online, 19.04.2022.

[10]   Ulrich Schmid hat die positive Rezeption Heideggers in Russland seit den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts nachgezeichnet und Heidegger mit zahlreichen Belegen als den Erfinder einer Art von philosophischem Hitler-Stalin-Pakt kenntlich gemacht. Ders.: Heidegger in Russland. Rezeptionslinien und Aktualisierungen. In: Osteuropa Nr. 1-2/2020, S. 61-83. www.alexandria.unisg.ch/260210/.

[11]   Adorno hat auf die Masche der Fundamentalontologie, Geschichte zur Geschichtlichkeit zu ontologisieren, aufmerksam gemacht: »Die Ambivalenz der Seinslehre: von Seiendem zugleich zu handeln, und es zu ontologisieren, also es durch Rekurs auf seine characteristica formalis all seines Unbegrifflichen zu enteignen, bestimmt auch ihr Verhältnis zur Geschichte. Auf der einen Seite wird durch deren Transposition ins Existential der Geschichtlichkeit das Salz des Geschichtlichen entfernt, der Anspruch aller prima philosophia auf eine Invariantenlehre ausgedehnt über das, was variiert: Geschichtlichkeit stellt Geschichte still ins Ungeschichtliche, unbekümmert um die geschichtlichen Bedingungen, denen innere Zusammensetzung und Konstellation von Subjekt und Objekt unterliegen.« Theodor W. Adorno: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 1975, S. 134 f.

[12]   Vgl. den ideologiegeschichtlich aufschlussreichen Artikel von Volker Weiß in der Süddeutschen Zeitung vom 08.04.2022: Putin verstehen. Von Alexander Dugin zu Carl Schmitt: Das sind die Ziele von Russlands Eroberungskrieg.

[13]   Kerstin Holm: Obszöne Weisheiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10.02.2022. www.faz.net/aktuell/feuilleton/putin-zitiert-obszoene-folklore-und-droht-der-ukraine-17795210.html. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang auch daran, wie lustig Gerhard Schröders Freund es schon vor 15 Jahren fand, Angela Merkel im Kreml mit seinem Labrador zu erschrecken.

[14]   Wie Anmerkung 6.

[15]   Jan Emendörfer: Die militärische Großmacht Russland ist wirtschaftlich nur Mittelklasse. In: RedaktionsNetzwerk Deutschland. 20.01.2022. www.rnd.de/wirtschaft/russland-militaerische-grossmacht-ist-wirtschaftlich-nur-mittelklasse-V3X4OK453BDCXJ2452T7ZG7USY.html.

[16]   Vgl. hierzu und generell zur Frage der Kriegsziele Russlands Jan Gerber: Warum Russland Krieg wollte. In: Jungle World Nr. 14/2022 v. 07.04.2022.

[17]   www.tabletmag.com/sections/israel-middle-east/articles/russia-next-target-for-intimidation-could-be-israel.

[18]   Notwehr setzt nach § 32 Abs. 2 StGB voraus, dass ein rechtswidriger Angriff abgewehrt wird, der noch »gegenwärtig« ist. Unter allen Staaten befindet sich allein Israel seit seiner Gründung im Zustand andauernder und täglicher, also gegenwärtiger Bedrohung. Allein Israel wird also fortgesetzt gegenwärtig angegriffen.

[19]   Karl Marx, Friedrich Engels: Werke. Band 23. Das Kapital. Berlin/DDR 1968, S. 99.

[20]   Wolfgang Pohrt: Kapitalismus Forever. Über Krise, Krieg, Revolution, Evolution, Christentum und Islam. Berlin 2012, S. 111.