Initiative Sozialistisches Forum – Was ist Wahrheit? Was ist materialistische Kritik?

Initiative Sozialistisches Forum

Was ist Wahrheit? Was ist materialistische Kritik?

von Manfred Dahlmann

[…] Wer nach der Bedeutung des Begriffs Wahrheit fragt, nimmt vor jeder Antwort eine Unterscheidung vor: er grenzt das, was er für wahr erachtet, von allem ab, was für ihn nicht wahr ist – beziehungsweise das Problem der Wahrheit gar nicht erst berührt. Diese Negation umfasst also nicht nur das eindeutig Falsche: dieses ja gerade nicht, denn die Aussage: ‚Das ist falsch‘ beansprucht ja, eine wahre Aussage zu sein, sondern auch all das ebenso oder gerade erst recht, was sich der eindeutigen Gegenüberstellung von wahr und falsch entzieht.

Ein einfaches Beispiel zur Illustration: Die Wahrnehmung eines Gegenstandes, etwa einer Rose, vollzieht sich unabhängig von dem Urteil, ob es sich bei ihm tatsächlich um eine Rose handelt. Dieses Wahrnehmen als psychologischer Akt vollzieht sich also in einem Bereich des Nicht-Wahren, der erst im zweiten Schritt, dem der Begriffsbildung, entweder dem einen, dem Wahren, oder dem anderen, dem Unwahren, Falschen, zugeordnet werden kann.

Worauf will ich mit diesen Ausführungen hinaus? Mit diesen knappen Überlegungen zum Begriff der Wahrheit lassen sich nahezu alle Erörterungen um diesen Begriff, wie sie heutzutage im Schwange sind, als das bezeichnen, was sie sind: leeres, widervernünftiges Gerede. Wer, um ein besonders krasses, aber allseits beliebtes Beispiel anzuführen, die Aussage: „die Wahrheit gibt es nicht“, für etwas anderes hält als eine bloße Phrase, der muss sofort einsehen, dass er sich offen selbst widerspricht. Und da hilft es auch rein gar nichts, sondern führt nur noch tiefer in den Schlamassel hinein, wenn diese Leute sich rechtfertigend behaupten, sie meinten damit, dass es keine Wahrheit gebe, doch nur, dass es eine Wahrheit nicht gebe, die total sei, die also alles umfasse. Wahrheit sei nur als Teilwahrheit zu haben, sie existiere eben nicht in einem Ganzen.

Wahrheit ist überhaupt nur als ein Ganzes, als ein die Totalität umfassender Begriff zu haben. Wahrheit ist zwar nicht der einzige, aber einer der wenigen Begriffe, die, wie immer verwendet, keinen Begriff über sich kennen, der eine Totalität bezeichnen könnte, die über Wahrheit hinausweist: Dies ist leicht deutlich zu machen, wenn wir zwei andere Begriffe nehmen, die in sich ähnlich aufgebaut sind: Gott und Souveränität. Beide Begriffe müssen, wenn sie ihren Bestimmungen, ihren Bedeutungen gerecht werden wollen, den der Wahrheit in sich aufnehmen: dann ist Gott beziehungsweise der Souverän die Wahrheit, und sie, Gott oder der Souverän, bestimmen die Grenzziehung zwischen wahr und nicht-wahr.

[…]

Sein und Werden

Doch jetzt wollen wir den ersten Schritt zur Beantwortung unserer Ausgangsfrage machen: Diese Frage enthält nämlich eine Unterstellung, die eine Wahrheit behauptet, die eindeutig keine ist, da sie jeder Erfahrung widerspricht: denn wenn die Wahrheit >ist<, also: ein Sein hat, wie sich Heideggerianer auszudrücken belieben, was geschieht dann mit all dem, das sich in Veränderung befindet – und das trifft ja wohl für alles zu, was wir in der Wirklichkeit wahrnehmen. Wenn Wahrheit, wie gezeigt, total ist, muss ihre Bestimmung also nicht nur das Sein, sondern das Werden erst recht umfassen. Gibt es die Wahrheit also doch nicht, da alles im Fluss ist, der Veränderung unterliegt? Natürlich gibt es sie doch auch als Sein – denn wenn es in oder an diesen Veränderungen nicht etwas gäbe, das diesen Veränderungen selbst nicht unterliegt, also Konstanz hat, dann ließen diese sich gar nicht beschreiben, gar nicht erst als solche Veränderungen wahrnehmen.

Was ich hier in diesen kurzen Sätzen dargestellt habe, beschreibt nichts anderes als die erste große Krise des abendländischen Denkens: Nach Wahrheit fragen, kann nur heißen, nach einem Begriff zu fragen, der den Gegensatz von Sein und Werden, Konstanz und Prozess, gleichermaßen umfasst.

Diese erste Krise wurde bekanntlich von Sokrates überwunden und durch eine Methode des Denkens und Argumentierens gelöst, die seitdem eben die sokratische heißt. […] Durch die Figur des Sokrates hindurch fragt Platon also danach, wie der Begriff der Wahrheit so gefasst werden kann, dass er auch die Gegensätzlichkeit von Sein und Werden in sich erfasst. Für ihn existiert deshalb neben der Welt der irdischen Dinge eine Welt der Ideen, die das Unveränderliche am Veränderlichen repräsentieren. Der Mensch hat Teil an beiden Welten (an der Welt der Ideen dank seiner Seele, der Welt der Wirklichkeit über seine Sinneswahrnehmungen) und ihm stellt sich die Aufgabe, durch den Gebrauch der ihm dank seiner Teilhabe an den Ideen mitgegebenen Vernunft, sich so zu verhalten, dass die Ordnung in dieser Welt (und Platon meint damit immer: die politische) dem von der Vernunft vorgegebenen idealen Zustand möglichst nahe kommt. Auf dieser Grundlage entwickelt Platon eine ausgefeilte Tugendlehre, deren Praxis sicherstellen soll, dass die widerstreitenden Tendenzen im Zusammenleben der Menschen sich zu einer vernünftigen Einheit: einer >Wahrheit<, zusammenfinden.

In der Nachfolge bemüht sich Aristoteles, Platons strikte Absonderung der geistigen von der materiellen Welt zu überwinden. Die Welt der Ideen nimmt bei ihm den Charakter einer Logik an, der sich die materiellen, der Veränderung unterliegenden Dinge einfügen. Wobei eindeutig festgehalten werden muss, dass Aristoteles weit davon entfernt ist, Logik und Empirie im Sinne des modernen Positivismus ineinander aufgehen zu lassen. Im Gegenteil: Die Trennung von Sein und Werden selbst wird an keiner Stelle angetastet; ihre Einheit findet sich in einem Ganzen, in einem göttlichen Allgemeinen, in dem die Wahrheit ihren Ort hat, und die Vernunft hat auch bei Aristoteles die Aufgabe, diese Wahrheit in eine Tugendlehre zu fassen, die die Menschen zu einem vernünftigen Ganzen synthetisieren. […]

Dies ist keinem historischen Zufall zu verdanken, einer besonderen Charaktereigenschaft der alten Griechen natürlich erst recht nicht, sondern dem Umstand, dass ihre philosophische Reflexion sich auf einen für ihren gesellschaftlichen Zusammenhalt zentralen Sachverhalt bezog, einen Sachverhalt, in dem sich genau dieses Verhältnis von Sein und Werden auf eine nicht rein geistige, sondern empirische Einheit bezog: das Geld. Im Geld vollzieht sich die Einheit von Sein und Werden. Im Tausch von Waren findet eine Bewegung von Dingen statt, denen im Verlauf dieser Bewegung unterstellt werden muss, sie blieben von jeder Veränderung, denen alle Dinge in Wirklichkeit ja immer unterliegen, verschont. Und der Bezugspunkt dieser Gegensätze von Sein und Werden ist eine Einheit, die völlig abstrakt ist, ist der Wert, der aber im Geld empirisch als etwas erscheint, das in dieser Form in der Natur, oder gar im Menschen selbst, nicht vorkommt. Die Reflexion der Philosophen findet natürlich weiterhin außerhalb des Geldes statt, ihre Begriffe führen weiterhin auch ein Eigenleben, und dennoch fassen sie die Welt in genau der Weise, in der Geld sich in der wirklichen Welt reproduziert. So weit dieser Exkurs; jetzt muss noch einiges zu den Religionen, beziehungsweise deren Theologen gesagt werden, also der Art und Weise, wie sie das Problem der Wahrheit fassen.

Monotheismus

[…] Die Wahrheit muss Gegensätzliches in sich einschließen, ansonsten ist sie keine. Statt in Gott, wie Aristoteles, alle Gegensätzlichkeit einzuschließen, um sie dann aus dem Denken ausschließen zu können, was Gott zu einem unbegreiflichen Wesen macht, kann man Wahrheit aber eben auch als Ausdruck einer prinzipiellen Trennung Gottes von den Menschen begreifen, und dem Denken stellt sich nun die Aufgabe, diese Trennung in seinem Leben zu verarbeiten: in der Form der von Gott erlassenen Gesetze, und nicht, wie bei den alten Griechen, und später auch noch den antiken Römern, einer Tugendlehre, deren Erkenntnis eine ausgefeilte philosophische Reflexion (wie gezeigt: auf das Geld) voraussetzt. Und dieses Geld gab es als allgemein durchgesetztes Tauschmittel auf dem Gebiet, auf dem der Monotheismus entstand, noch nicht.

[…]

Wir kommen um einen längeren Exkurs zur Behandlung der Religionsgeschichte in der Wissenschaft nicht herum, wenn wir verstehen wollen, warum der Monotheismus, also dessen Begriff von Wahrheit, insbesondere der christliche, derartig erfolgreich sein konnte. Alle gängigen Erklärungen dieser Geschichte sind philosophisch unzureichend, was heißt: sie sind grundsätzlich falsch. Denn sie gehen von einem Wahrheitsbegriff aus, der seine Existenz allein der Logik des Kapitals verdankt: Heutzutage wird eben nicht mehr gefragt, was Wahrheit ist, sondern wahr ist fraglos nur das, was die Wirklichkeit, so wie sie empirisch gegeben ist, in die Form allgemeiner Gesetze zu gießen erlaubt, die in sich widerspruchsfrei formuliert werden müssen. Ich führe das nicht weiter aus, sondern stelle fest: Wer mit diesem modernen Wahrheitsbegriff die Geschichte des Monotheismus untersucht, muss in diese Geschichte entweder anthropologische Konstanten (etwa ein Grundbedürfnis des Menschen nach Religion, oder Spiritualität, wie das heute meist heißt) oder allgemeine Gesetzmäßigkeiten (evolutionstheoretische meist, wie die, dass alle Veränderungen in der biologischen Natur einem dieser Natur immanenten Prinzip folgen: sei es dem Überleben, sei es der Reduktion von Komplexität, sei es gar der ständigen Höherentwicklung der Arten oder Gattungen oder wie immer auch formuliert) hineingeheimnissen. Da aber schon die empirische Ausgangslage diesen Konstanten und Gesetzen nie tatsächlich entspricht, ergibt sich das für die neuzeitliche Wissenschaft ja charakteristische Problem, das Ineinandergreifen von Datenlage und allgemeinen Gesetzen ständig neu interpretieren zu müssen, obwohl man doch wissen müsste, dass dieser Prozess prinzipiell unendlich ist.

An dieser Stelle will ich vor einer anderen Projektion ausdrücklich warnen, die bei meinem Thema gang und gäbe ist, und ebenfalls unsere heutigen Verhältnisse in vergangene rückprojiziert. Uns ist die Trennung von Theorie und Praxis quasi zur zweiten Natur geworden – und so ist man versucht, etwa das, was die Griechen Tugend nannten (und die Juden Gesetz) auch als eine Variante dieses Gegensatzes von Theorie und Praxis zu behandeln. Doch diese Trennung ist allen nicht-kapitalistischen Formen der Vergesellschaftung absolut fremd, so fremd wie die von Subjekt und Objekt: Die Suche nach der Wahrheit in jenen Gesellschaften ist unmittelbar mit der Frage verknüpft, ob aus ihr sich das richtige Verhalten erschließen lässt – während diese Frage nach dem richtigen Verhalten, heutzutage Ethik genannt (aus Gründen, auf die ich später noch kurz eingehen werde), sich im Kapitalismus nicht aus irgendeiner Wahrheit im allgemeinen ergibt, sondern Begründungen erfährt, die willkürlich zu nennen noch ein Zuviel an Vernunft unterstellt. Es gibt also in anderen Gesellschaften als der kapitalistischen keine Theorie auf der einen, der eine Praxis auf der anderen Seite gegenüberstünde, die in wechselseitigem Bezug aufeinander widerspruchslos ineinander aufzugehen hätten, sondern göttliche oder vernunftgemäße – oder göttlich und vernünftig zugleich – begründete Gebote, denen der Mensch, und dies gilt allgemein, bedingungslos zu gehorchen hat.

Weil es für das Verständnis des Ganzen dienlich sein kann, sei hier auf die gerade erwähnte Trennung von Subjekt und Objekt als eine für die kapitalistische Gesellschaft charakteristische, aber eben nur in ihr geltende Trennung etwas näher eingegangen.

Diese Trennung, das erfährt jeder Oberschüler hier im Westen, beschreibt, was in der sogenannten Kopernikanischen Wende mit dem Menschen passierte: War er zuvor zwar von Gott getrennt, aber von diesem Gott gegenüber aller ihn umgebenden Natur privilegiert worden, so sah er sich nun einer Natur gegenüber, der er zwar das Vermögen zur Erkenntnis voraus hatte, er sich selbst aber ansonsten nur als eines ihrer flüchtigen Momente, nur als so etwas wie eine Laune dieser Natur begreifen konnte. Die Trennung von Gott und Mensch wurde im Verlauf der Kopernikanischen Wende ersetzt durch die von Subjekt und Objekt, dies aber immer mehr in der hier schon angedeuteten Weise, dass Wahrheit nicht emphatisch als das synthetische Moment dieser Trennung begriffen wurde (wie etwa bei Kant als Transzendentalsubjekt), nicht, wie in der sokratischen Methode, so, Ideen als das Moment zu begreifen, das Sein und Werden synthetisiert, sondern eben in der Weise, wie schon die Trennung von Gott und Mensch theologisch begriffen wurde: so wie hier die eine Seite des Getrennten, Gott, gleichzeitig als das Vermittelnde Dritte begriffen wurde, so wird nun, in der kapitalistischen Gesellschaft, eben auch die eine Seite des Subjekt/Objekt-Gegensatzes, die des Objekts, genauer: die Natur, in die der Mensch zweifellos eingebettet ist, in den Rang des synthetisierenden Dritten erhoben. Wenn wir heute statt von Wahrheit, so, wie die Wissenschaften, also von Objektivität reden, dann haben wir tief innerlich längst akzeptiert, dass die Trennung von Subjekt und Objekt nicht auf ein synthetisierendes Drittes verweist, analog dem von Sein und Werden in der griechischen Philosophie, sondern darauf, dass das, was wir das Subjekt zu nennen belieben, nichts weiter ist, als ein Moment des Objekts, dem, um vollständig zum Objekt zu werden, nur noch eine gewisse Widerspenstigkeit anhaftet, die sich schon noch geben wird (und im Nationalsozialismus auch schon einmal gegeben hat): dann zum Beispiel, wenn alle Regungen dieses Subjekts als von Genen determiniertes Verhalten nachgewiesen werden können. Wer statt von Wahrheit von Objektivität spricht, redet somit im Grunde genauso wie Heidegger, wenn der von dem Seienden raunt, das sich in der Zeit bewegt, und darin dem Wissenden – dem, wie er es nennt: Daseienden – zeigt, dass es >ist<.

Vereinheitlichung der Seelen

Ich beende diesen Exkurs im Exkurs und kehre zum Problem zurück, Begriffe und Zustände, die nur im Kapital existieren, in andere Gesellschaften rückzuprojizieren. Es gibt einen, auch für mich bis hier schon und im Folgenden erst recht zentralen Begriff, in dem diese Gefahr der Projektion unmittelbar angelegt ist: eben den Begriff von Gesellschaft, so wie ich ihn gerade auch verwendet habe. Eine andere Gesellschaft als die kapitalistische hat es aber nirgendwo gegeben. […] Der Begriff der Gesellschaft setzt immer voraus, dass atomisierte Individuen sich in einer Form aufeinander beziehen, die abstrakt ist: so abstrakt wie ein allgemeines, parlamentarisch erlassenes Gesetz, so abstrakt wie eine ethische Norm, so abstrakt wie das Geld. So sehr der Begriff der Gesellschaftlichkeit heute nahezu allgemein nur noch soziologistisch verwendet wird, nämlich so, als stecke das Problem (also: wie gelingt es dem Kapital, Individuen zur Gesellschaft zu synthetisieren) nicht im Begriff selbst schon unaufgehoben mittendrin, sondern so, als ob alle Probleme sich ohne Reflexion auf die gesellschaftliche Synthesis, also ohne Bezug auf den spezifisch kapitalistischen Zusammenhalt der Individuen untereinander, lösen ließen.

Diese ‚Gesellschaften‘ haben aber, und hieraus ergibt sich die Berechtigung dieses Begriffs auch für sie, das Problem der Synthesis von Gesellschaft gehabt und gelöst – wenn auch auf eine historisch je spezifische Weise. […]

Der Gott der Juden aber war souverän, und das ohne Waffen. Der Gehorsam der Juden ihren Autoritäten gegenüber erfolgte aus Einsicht, aus Vernunftgründen, nicht aus Zwang – analog wie bei den griechischen Philosophen, die aber, selbst in den Hochzeiten Athens, nur eine politisch unbedeutende Minderheit in ihren Gesellschaften waren. […] In Jesus repräsentiert sich die Synthesis von Gott und Welt. Von hier aus muss nun, wenn sich diese Konstruktion als zumindest auf den zweiten Blick vernünftig darstellen soll, die Anmaßung, die diese Behauptung dieses Jesus, Gott und Mensch zugleich zu sein, zweifellos darstellt, relativiert werden. Und dazu gibt es nur eine Möglichkeit: Der Begriff Gottes muss so gefasst werden, dass er die Einheit bleibt, die er für die Juden ist, und die die Jesus-Anhänger auch nicht infrage stellen wollten, aber doch auch zulässt, dass dieser eine Gott auch als ein Zweifaches denkbar wird. Gott, – ich komme zum Problem der Wahrheit zurück –, begriffen als die Einheit, die Synthesis, kurz: die Wahrheit der Trennung von Gott Vater und Gott Sohn, stellt die Lösung des Problems dar, Jesus als Gott darstellen zu können, ohne hinter alles zurückzufallen, was das Alte Testament als unhintergehbare Wahrheit über den einen Gott geoffenbart hatte.

[…]

Ab dem 9. Jahrhundert erstarkt dann im ehemaligen westlichen Teil des alten Roms die weltliche Herrschaft wieder und der zuvor existierende Gottesstaat möchte am weltlichen Reichtum nur allzu gerne partizipieren. Aber er ist so fest als reiner Gottesstaat in den Seelen der Gläubigen verankert, dass er seinen Charakter, selbst wenn er es wollte – und immer dann, wenn er es wollte, zeigte sich dieses Unvermögen historisch praktisch –, nicht in einen weltlichen Souverän, in eine auch säkulare Wahrheit, transformieren konnte. Und so entstanden neben ihm weltliche Mächte, die ihm an Reichtum ebenbürtig waren, und militärisch hoch überlegen, aber eben nicht auch in den Seelen der Untertanen verankert waren. Es existierten somit zwei Wahrheiten auf demselben Gebiet in denselben Personen nebeneinander, beide aber waren vom Prinzip her logisch gezwungen, die Einheit in einer realen Synthesis für sich allein realisieren zu wollen, werden beständig aber darauf gestoßen, sie nicht verwirklichen zu können. Dieses westliche Abendland befand sich in einer tiefen Krise, die historisch ebenfalls einzigartig war. Wir kennen die Lösung, eine Lösung, die, und das gilt bis heute, keiner bewusst je angestrebt hat: es entstand das Kapital als die Synthesis, in der sich eine welthistorisch neue Wahrheit, ein sich selbst reproduzierendes System, ein in sich widersprüchliches „automatisches Subjekt“ historisch durchsetzte, dessen Souverän so abstrakt ist wie nur noch der monotheistische Gott, aber eben in sich auch so differenziert, wie eben nur der trinitarisch verfasste katholische Gott. In dieser neuen Einheit aller negativ sich ausschließenden Differenzen ist Souveränität in den Prozess der Verwandlung von Geld in mehr Geld inkarniert. Geld ist zu Kapital geworden.

So weit die historischen Fakten. Fakten, die der Positivist als ontologisch gegeben hinnimmt, weil er, wie gesagt, danach, wie die Genesis dieser Fakten, also die Realisation des automatischen Subjekts, logisch und historisch möglich geworden ist, gar nicht erst fragt. Um die Antwort auf diese Frage aber geht es mir, und bezogen auf das Kapital gilt erst recht, was für die Entstehung von Philosophie und Geld, was für die Entstehung des Monotheismus galt: Es setzt sich ein Begriff von Wahrheit gesellschaftlich durch, ohne dass den beteiligten Akteuren bewusst wäre, inwieweit sie mit ihrem Verhalten und Denken an einer Verallgemeinerung historisch bestimmter, spezifischer gesellschaftlichen Synthesis mitwirken, die sich erst im Nachhinein, also nachdem sie sich durchgesetzt hat, als den vorangegangenen überlegen erweist. Für das Kapital gilt dies in besonderem Maße, denn, wie wir wissen, diese Gesellschaft ist noch nicht einmal in der Lage, einen Begriff von sich zu entwickeln, der sich über das hinaus verallgemeinern könnte, was einzelne Philosophen und einige ihrer Schüler entwickelt haben.[…]

[…]

Warum also konnte sich die Wahrheit des Kapitals universal durchsetzen, obwohl doch aller Welt bis heute, und in den ersten Jahrhunderten seiner Genesis erst recht, das Prinzip dieser Synthesis ein Buch mit sieben Siegeln war? Was war die logische Bedingung der Möglichkeit seiner Genesis? Worin liegt die historische Überlegenheit des Kapitals gegenüber allen anderen bisher realisierten Formen gesellschaftlicher Synthesis?

Die säkulare Lesart der Trinität

Ich mache es kurz: Historisch spielte das Trinitätsdogma allenfalls eine kleine Rolle ganz am Rande der Entstehungsgeschichte des Kapitals. Aber ohne das Trinitätsdogma der katholischen Kirche hätte das Kapital gar nicht erst entstehen können. Ich wiederhole, um jedes Missverständnis auszuschließen: ich meine dies in einem strikt logischen, das heißt nicht historischen Sinne. Was heißt das?

Ich habe es oben gezeigt: Gott musste trinitarisch verfasst sein, wenn man die Gottesnatur von Jesus aufrechterhalten wollte. Mehr noch: Nur unter dieser Bedingung ließ sich der augustinische Gottesstaat legitimieren. Wenn es sich bei diesem Trinitätsdogma nun nur um die irrationale Marotte handeln würde, als die der Protestantismus, im Einklang mit dem Islam und dem heutigen logischen Positivismus es behandelt, kann nicht verstanden werden, warum denn den Kirchenvätern – allesamt im übrigen Philosophen und Theologen, die ihren Platon und Aristoteles sehr gut kannten – dieses Dogma so wichtig war, dass sie lieber jedes Schisma in Kauf nahmen, als es dem gemeinen Menschenverstand anzupassen. Und dies gilt für die katholische Kirche bis heute.

Der Grund: An die Auferstehung von Jesus, an dessen Wundertaten, auch an seine Gottesnatur und ebenso an die unbefleckte Empfängnis Marias muss man, nimmt man diese Behauptungen allein für sich, glauben. Jedes Wissen, wie es natürlich auch schon jedem gewöhnlichen Römer zur Verfügung stand, kann diesem Glauben aber mit dem Appell an den Verstand sehr schnell den Garaus machen. […] Was wird aus diesem Gott, was passiert in ihm, wenn ich dessen konkrete Bestimmungen: Vater, Sohn und Heiliger Geist zu sein, Bestimmungen, die ihn in die gesellschaftliche Wirklichkeit, die auch und gerade im Gottesstaat auf Gehorsam und Verehrung angewiesen ist (ich erinnere an die zehn Gebote), einbinden, streiche? Der erste, von dem bekannt ist, dass er sich an dieses Unterfangen heranwagte, und damit bei seinen Zeitgenossen, Freunden wie Gegnern, auch Anerkennung und Verbreitung fand, war Petrus Abälard am Beginn des 12. Jahrhunderts. Abälard kam auf die Idee, die im Trinitätsdogma angelegte vertikale Struktur, also das Verhältnis von Vater, der auf jeden Fall, wie man Trinität auch fassen will, oben steht, zum Sohn, der, gerade auch wegen seiner Repräsentanz von Welt in Gott, unten anzusiedeln ist, diese Struktur um die Mitte dieses Verhältnisses, eben die Vermittlung durch den Heiligen Geist, quasi um 90° zu drehen, und so Trinität als horizontale Linie zu fassen, die einer säkularen Bestimmung gar nicht mehr bedarf: Das zu Vermittelnde, die Wahrheit also, ist das Eine, das sich gegen sein anderes, seine Negation, abgrenzen muss. Das zusammen genommen ist der Kern einer Synthesis, die Wahrheit verbürgt. Dies gelesen als Abälards Antwort auf den zentralen Widerspruch in der Gesellschaft seiner Zeit, den zwischen zwei verschiedenen Begriffen von Souveränität, dann lautet dessen Lösung: Der Gegensatz zwischen Kirche und Staat ist prinzipiell unlösbar, muss so hingenommen werden wie der zwischen Sein und Werden. In der Einheit dieses Gegensatzes bildet sich aber eine synthetisierende Souveränität aus, die ihm immanent ist. Diese wird dann, einige hundert Jahre später, von Marx Kapital genannt werden.

Einheit und Differenz im Kapital

Man erhält, folgt man diesem Abälard, also die Grundstruktur dessen, was ich als Wahrheit hier immer wieder herauszustellen versucht habe: Differenz setzt Einheit voraus, so wie Einheit Differenz. Man erhält so nichts anderes zum Resultat als das, was sehr viel später Hegel als die ‚Natur‘ eines jeden Begriffs ermittelt, und dann Marx als die Grundlage des Kapitals beschreibt, nämlich die Totalität zu sein, in der sich die Individuen als Subjekte vergesellschaften. Und zwar als gleiche und freie – das heißt auf einer horizontalen Ebene, die so erscheint, als existiere in ihr die vertikale, also auf Herrschaft und Ausbeutung beruhende Ebene gar nicht mehr. Die somit so erscheint, als habe der Wert keine Substanz, existiere also in einer Form, die keinen Inhalt hat.

Das Kapital war logisch möglich und erwies sich als allen anderen gesellschaftlichen Synthesen hoch überlegen, weil es in sich so strukturiert ist, wie der einzelne Mensch zu denken gezwungen ist, sobald er sich auf die Suche nach Wahrheit begibt. Der Monotheismus erwies seine Überlegenheit gegenüber den säkular verfassten Imperien, weil er die innere Verfasstheit der Individuen, ihre seelischen Motive, für die Erneuerung gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse einsetzen konnte, Verhältnisse, die keinen evolutionären Fortschritt bedeuteten, keine Vermehrung materieller Reichtümer zur notwendigen Folge hatten, sondern erfolgreich waren, weil im Monotheismus die Angstbewältigung der Individuen unmittelbar in die Herrschaft eingebunden wurde.

Im Kapital ist dann daraus eine Wirklichkeit entstanden, die dem Denken natürlich auch äußerlich bleibt, aber in sich genau so strukturiert ist, wie der einzelne Mensch denkt: reflexiv und trinitarisch. Auf diese Weise kann das Denken von sich umstandslos abstrahieren und sich in ein Gott analoges Allgemeines projizieren, was gleichbedeutend ist mit Angstbewältigung: es schließt sich im Kapital statt in Gott kurz und erreicht dasselbe. Dieser subjektiven Einbindung tritt dann im Zuge der ursprünglichen Akkumulation auch noch die Produktion ungeheuren Reichtums an die Seite, die aufgrund dieser inneren Einbindung nun möglich geworden ist: Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil die abstrakte, horizontale Fassung der Trinität die geistige Grundlage für die Entdeckung der Naturgesetze geschaffen hatte, die, in Technologie transformiert, es dann auch noch berechtigterweise erlaubte, vom Kapital als einem Fortschritt in der Menschheitsgeschichte zu sprechen. […] Zum Schluss auch klärt sich die an all das anschließende Frage, was denn die Wahrheit der Kritik ist: sie steht negativ zur Wahrheit des Kapitals und kann sich nur als wahr erweisen, wenn sie als Kritik überflüssig geworden ist, was heißt, wenn es einmal wahr geworden sein sollte, dass eine gesellschaftliche Synthesis existiert, die nicht auf Ausbeutung und Herrschaft beruht.

Auszug aus dem Vortrag den Manfred Dahlmann am 16. Dezember 2009 im Rahmen des jour fixe der Initiative Sozialistisches Forum (ISF) Freiburg gehalten hat. Im Heft 9 der Zeitschrift sans phrase wurde der Vortrag leicht bearbeitet abgedruckt.