Erinnerung an Klaus Heinrich

Wolfram Ette

 

Am 23.November 2020 ist Klaus Heinrich gestorben, Religionsphilosoph und einer der letzten Renaissance-Intellektuellen, die es an der deutschen Universität gegeben hat. Wir haben mittlerweile einiges über den faszinierenden Stil erfahren, in dem er seine Vorlesungen hielt; viel über sein widerständiges Leben, über die sehr spezifische Form der Religionswissenschaft, die er begründete und die nach seiner Emeritierung rasch zerfiel. [1] Der folgende Nachruf – wenn man ihn denn einen nennen will – nimmt einen weniger prominenten Aspekt zum Ausgangspunkt einer Erinnerung an ihn.

»Religionswissenschaft, wie wir sie hier an der Freien Universität betreiben, ist die Fortsetzung der Dialektik der Aufklärung.« So hat Heinrich es immer wieder formuliert. Die von ihm praktizierte Religionswissenschaft war eigentlich eine Art kritischer Theorie, jedoch mit einem Materialfundament, von dem ihre klassischen Vertreter nur träumen konnten: vergleichende Religionswissenschaft, Ethnologie, europäische und außereuropäische Kunstgeschichte, die weit hinter die Moderneschwelle zurückgriff, und nicht zuletzt die Psychoanalyse bis in entlegene theoretische Schulverzweigungen hinein.

Aber die Idee war immer dieselbe. Es ging Heinrich um die Kritik am europäischen Rationalismus um einer alternativen Rationalität willen, die eben das vom Rationalismus Verdrängte einbegreift, das sich in Literatur und Malerei, in der Architektur und alltagskulturellen Praktiken, in den Religionen und nicht zuletzt in einer therapeutischen Sitzung artikuliert.

Und eben auch in der Musik. Heinrich hat wenig zu ihr veröffentlicht [2] – aber abgesehen von den Dahlemer Vorlesungen ist das ja ohnehin nicht viel –, doch gelegentlich bekamen wir etwas zu hören. Die prägendste und vielleicht doch mitteilenswerte Erinnerung, die ich damit verbinde, war selbst ein Nachruf – und zwar ein Nachruf auf Luigi Nono, gehalten am 10.Mai 1993. Heinrich hatte die Nachricht von seinem Tod zwei Tage zuvor bekommen und in eine seiner Vorlesungen über das Verhältnis von transzendentalem und ästhetischem Subjekt eingeschoben; vom Thema dieser besonderen Vorlesung, Heideggers Beiträge zur Philosophie, weit entfernt und dem Projekt des über dreißigjährigen Vorlesungszyklus und dem, was in Dahlem Religionswissenschaft genannt wurde, doch wiederum sehr nah.

Ich weiß nicht, ob ich richtig wiedergebe, was Heinrich damals zu Nono, den er kannte und den er im Zusammenhang seines Prometeo-Projektes beraten hatte, im Einzelnen sagte; die schriftlichen Aufzeichnungen habe ich nicht mehr, und Heinrich bat zum Anfang dieser Vorlesung auch darum, die Tonbänder abzuschalten. Ich kann nur berichten, was bei mir angekommen ist, und dass das, was bei mir angekommen ist, meine Sichtweise auf Musik verändert hat.[3]

Nach einer biographischen Skizze wandte Heinrich sich zunächst dem Streichquartett Fragmente – Stille – An Diotima zu. Es ging ihm darum, der Vorstellung entgegenzutreten, dass Nono sich entpolitisiert habe und sich, vielleicht aus Verzweiflung über die scheinbare Unveränderlichkeit der politischen Verhältnisse, in einer Art Mystik der Stille, des Schweigens, letztlich der eines maskierten heideggerschen »Seyns« geflüchtet habe. Heinrich wies zunächst auf den Titel des Quartetts hin, also auf die begriffliche Rahmung der Stille durch die Fragmente und durch die Anschreibung Diotimas. Dadurch eben sei kein Unbestimmtes oder sogar Unbestimmbares ins Auge gefasst, sondern eine Stille, die auf der einen Seite aus dem musikalischen Material hervorgehe und auf sie reagiere und die auf der anderen Seite bestimmt sei durch die Texte aus Hölderlins Hyperion, die in der Partitur stehen, ohne zu erklingen. Es handele sich also um eine bestimmte Stille, um ein jetzt und hier nicht zu Sagendes, dass sich gleichwohl in einer spezifischen Beziehung zu dem, was die Ohren hören und das Auge sehe, befinde: kein mystisch transzendentes Sein also, sondern etwas Utopisches.

Über die Hilfestellung, die Heinrich Nono bei seinem Prometeo-Projekt gegeben hatte, verlor er, soweit ich mich erinnern kann, nicht viele Worte; später begriff ich, dass diese utopische Lesart des angeblich unpolitisch gewordenen Nono stark mit dem Prometheus-Komplex zusammenhing, der in gewisser Weise ja eine Phänomenologie der Erscheinungsformen, in denen Utopie noch möglich ist, darstellt.

Dann sprach er über das für Maurizio Pollini geschriebene späte Stück .....sofferte onde serene... für Klavier und Tonband. Entscheidend daran war, dass Heinrich ein Bild fand: Für ihn war dieses Stück eine venezianische Vignette – Nono war Venezianer; auch Heinrich liebte die Stadt sehr; er und seine Frau waren fast jedes Jahr dort –, die von den Kanälen handelt, durch die diese Stadt sich von jeder anderen unterscheidet: von den Kanälen, die das Tiefe und das Hohe, Oberwelt und Unterwelt, unterscheidend und verbindend in materieller Reflexion aufeinander beziehen; die Kanäle, in denen die Paläste der Oberwelt sich spiegeln, die doch aus der Tiefe, aus all dem Schlamm und dem Schmutz als ihrem Grund herausgebaut sind. Heinrich besprach diese zugleich »leidende« (sofferte) und »heitere« (serene), von Spannungen erfüllte, sie aber in sich ausbalancierende Wellenbewegung (onde) als Figur dessen, worum es in seinen Vorlesungen immer wieder ging: um ästhetische Subjektivität.

Ästhetische Subjektivität, die in den Künsten, den Religionen, ja in gewisser Weise sogar im psychoanalytischen Gespräch zwischen Arzt und Patient zu Tage tritt, war für ihn der Gegenbegriff zur transzendentalen Subjektivität, in der das Subjekt sich selbst als eine von empirischen Beimengungen, Ambivalenzen und Ängsten möglichst freie Form, letztlich als rationalistische Konstruktion entwirft. Das ästhetische Subjekt steht dagegen im Bündnis mit alldem, was der europäische Rationalismus unterdrückt und auszuschließen versucht. Heinrich nannte es den »Triebgrund der Wirklichkeit«: ein fast schon religiöser Begriff, der aus der Überzeugung sich herleitete, dass alles lebendig sei; im Grunde nicht »Sein«, sondern »Willen«, dem weder durch philosophische Sätze des Typs »A = B« noch durch Regression und Rausch, die sich an ihn verlieren, zu begegnen ist, sondern allein im »Bündnis«, das Nähe und Distanz verbindend und trennend vermittelt, den Triebgrund weder verdrängt noch ihn verfehlt. .....sofferte onde serene... Im zwischen Leiden und Heiterkeit »fluoreszierenden« Hin- und Widerspiel der Wellen/der Töne4, und – ich setze fort –: in den Kontrasten zwischen der Höhe und der Tiefe, Himmel und Schlamm, in den Spiegelungseffekten zwischen Klavier und Tonband, »natürlichem« und elektromagnetischem Ton, die sich irgendwann unterscheiden lassen, fand Heinrich etwas von dieser sich nicht formal, sondern im Stoff selbstbegegnenden Subjektivität; das versuchte er uns irgendwie zu erklären.

Ich war fasziniert. Etwas sehr Grundsätzliches über Musik ging mir auf. Ich begann, Musik als Gestalt von Subjektivität zu hören. Gewissermaßen als ein sich mit sich selbst unterredendes individuelles und kollektives Ich. Und in diesem Betracht gab es erst einmal kein besser oder schlechter. Da war alles von Interesse. Diesen universalen Anspruch vermittelte Heinrich, auch wenn er – gerade in musicis – nicht über alles sprechen konnte. Alles war potenziell wichtig: als Gestalt ästhetischer Subjektivität, das heißt als Verkörperung des Widerstandes gegen den rationalistischen Subjektbegriff. Nono war wichtig, aber auch Popsongs; europäische und außereuropäische Volksmusik, Techno und Hiphop; die franko-flämische Vokalpolyphonie, der bachsche Kontrapunkt, die Sonatenhauptsatzform und ihr Zerfall, die italienische Oper (die Heinrich liebte) und Wagner (den er nicht mochte). Und so weiter. All das war wichtig; um all das hatten wir uns zu kümmern nach unserem Vermögen. Denn es waren nicht mehr einfach Daten, die man beschreiben und dann in einem musikgeschichtlichen Handbuch auflisten könnte. Es sind je und je Entwürfe von uns selbst, die sich in der Geschichte der menschlichen Gattung abgelagert haben, erinnert und weiter durchgearbeitet werden müssen.

 

[1] Die wichtigsten Nachrufe finden sich auf der Klaus-Heinrich-Seite de ca-ira-Verlags versammelt, der sein Werk seit 2020 vertritt.

[2] Die zwei einzigen ›offiziellen‹ Texte sind: »La fiamma di costanti affetti. Notiz über die italienische Oper und»Musik und Religion«; beide in: dämonen beschwören/katastrophen auslachen. Reden und kleine Schriften 3, Frankfurt a.M./Basel 2013, S.11-20 u. 21-42.

[3] Nach der Abfassung des Nachrufs erhielt ich doch noch eine Mitschrift der Vorlesung; der Nono betreffende Abschnitt findet sich in sans phrase 16 (2020), S.44-50. Eine Überprüfung hat keine gravierenden Abweichungen ergeben. Aber meine Extrapolation von der musikalischen auf die ästhetische Subjektivität findet sich nicht in der abgedruckten Partie. Vielleicht stand sie erst am Beginn des Wiedereinsatzes der regulären Vorlesung über Heidegger; vielleicht erinnere ich etwas, das so nie war – ich hoffe, in Heinrichs Sinne.

[4] Vgl. Heinrich, Erinnerung an Luigo Nono (Anm.2), S.49f.