Joachim Bischoff, Fritz Fiehler und Christoph Lieber – Neue kritische Theorie?

Joachim Bischoff, Fritz Fiehler, Christoph Lieber

Neue kritische Theorie

Das Projekt einer kritischen Theorie der Gesellschaft hat nichts von seiner Faszination verloren. Wie kann die “Frankfurter Schule” aber beerbt werden, die dem Individuum keine Chance in einer verwalteten Welt zubilligen wollte? Wie kann man sich ihrer Kulturkritik versichern, ohne ihren geschichtlichen Pessimismus teilen zu müssen? Horkheimer und Adorno haben sich die “Rückkehr des Marktes” nicht vorstellen können, wie wir sie gegenwärtig erleben. Bietet nun Moishe Postone eine kritische Rekonstruktion, die kapitalistischer Dynamik, veränderter Subjektivität in der Arbeit und Entfremdung gleichermaßen gerecht wird?

Alle entwickelten kapitalistischen Gesellschaften haben im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts dynamische Veränderungs- und Modernisierungsprozesse durchlaufen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schält sich immer deutlicher heraus, daß das, was seit den 1990er Jahren unter dem Stichwort Globalisierung verhandelt wird, mit sozialen Spannungen und Verwerfungen einhergeht und im Kern auf eine Zerstörung der fordistischen Lohnarbeitsgesellschaft hinausläuft: “Wir haben es mit einer Destabilisierung der Lohnarbeitsgesellschaft zu tun, die wie eine Druckwelle vom Zentrum ausgehend die ganze Gesellschaft erfaßt, mit unterschiedlichen Auswirkungen auf verschiedenen Ebenen.” [ 1 ] Diese Diagnose von Robert Castel ist nur eine unter anderen, die innerhalb gegenwärtiger Kapitalismusanalysen gehandelt wird. Daneben gibt es immer noch die nicht zu Ende gebrachte Debatte um die Krise des Fordismus und ein mögliches neues postfordistisches Regulationsregime, aber auch ein Wiedererstarken imperialismustheoretischer Argumentationen und Analysen.

Auch innerhalb bürgerlicher Kreise ist die Einschätzung des Gegenwartskapitalismus, insbesondere der USA, ein Thema (Thurow, Krugman u.a.). In diesen Kontext ist die deutschsprachige Veröffentlichung von Moishe Postones Buch “Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx” [ 2 ] einzuordnen. Bei einem Teil der politischen Linken ist diese Übersetzung des amerikanischen Originals von 1993 mit hohen Erwartungen verknüpft. Von Postone wird sich eine erneuerte werttheoretische Durchdringung des gegenwärtigen Kapitalismus versprochen und damit eine Revitalisierung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie. In der Tat läßt sich ein gewachsenes Interesse an der Kritik der politischen Ökonomie feststellen. Ein neuerlicher Rekonstruktionsversuch – wie im 20. Jahrhundert (Lukàcs, Korsch, Rosdolsky, 60er/70er Jahre) – wäre wünschenswert. Als Bestandteil des Überbaus der bürgerlichen Gesellschaft ist der Marxismus selbst geschichtlichen Konstellationen und Konjunkturen dieser Gesellschaftsformation unterworfen. Insbesondere sein Anspruch als oppositionelles Wissen, die Bewegungsgesetze dieser kapitalistischen Gesellschaft entschlüsseln zu können und darüber für die Linke das Verständnis politischer Transformationsmöglichkeiten evtl. zu schärfen, gerät zeitweilig aus dem Blickwinkel – erzeugt allerdings auch immer wieder Erneuerungsbestrebungen.

1. Fehlannahmen des “Traditionellen Marxismus”

Der Marxismus war im 20. Jahrhundert mit zwei großen Herausforderungen konfrontiert. Zum einen galt es, die Dynamik des Kapitalismus, seine krisenhafte Transformation in der Zwischenkriegszeit, seine Stabilität in der Nachkriegszeit und seine erneuten Strukturveränderungen seit Mitte der 1970er Jahre zu begreifen. Im Grunde galt es, für politökonomische Realanalysen mit der Marxschen These Ernst zu machen, “daß die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozeß der Umwandlung begriffener Organismus ist”. [ 3 ] Zum andern war die Linke angesichts des geschichtlichen Ausbruchsversuchs eines staatssozialistischen Entwicklungsweges seit 1917 damit konfrontiert, diesen gesellschaftlichen Typus zu begreifen und auf Basis der Marxschen Theorie Strukturen einer post-kapitalistischen Gesellschaft kritisch zu diskutieren. Die 1980er Jahre, in denen die schwelende Krise des Marxismus und die Reformunfähigkeit des Staatssozialismus immer offensichtlicher wurden, sowie veränderte Subjektivitätsformen der neuen sozialen Bewegungen in dieser Zeit markieren den Hintergrund von Postones theoretischem Projekt. Seine kritische Haltung zum Realsozialismus, die Unfähigkeiten der westlichen kommunistischen Parteien zu angemessenen Kapitalismusanalysen und der Mangel einer modernen intellektuellen Kapitalismuskritik faßt Postone in einer “Kritik des traditionellen Marxismus” zusammen. Dabei geht es ihm nicht um eine sozialgeschichtliche Rekonstruktion verschiedener marxistischer Strömungen, sondern um die Bewertung ihres Beitrags zum Verständnis des gegenwärtigen modernen “postliberalen” Kapitalismus. Postone “versteht die Marxsche Kapitalismustheorie weniger als eine Theorie der Formen von Ausbeutung und Herrschaft innerhalb der modernen Gesellschaft, sondern als eine kritische Theorie der Moderne selbst. Modernität ist kein Entwicklungsstand, auf den hin alle Gesellschaften sich entwickeln würden, sondern eine spezifische Form gesellschaftlichen Lebens, die aus Westeuropa stammt und die sich zu einem komplexen globalen System entfaltet hat.” /22/ Unter diesem Gesichtspunkt sind die zentralen Kategorien der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie zu überdenken. Bezogen auf diese Herausforderung konnte der “traditionelle Marxismus” keine tragfähigen Antworten liefern. Für das 21. Jahrhundert taugt diese Lesart des Marxismus noch weniger. Postone stellt drei zentrale Schwachpunkte heraus:

a.)

Im traditionellen Marxismus wird die Widerspruchsdynamik des Kapitalismus so gefaßt, daß einem linearen, evolutionär-historischen Entwicklungsprozeß der Höherentwicklung vergesellschafteter Produktion die Form des Privateigentums als letztendlicher Fessel gegenübersteht. Abschaffung des Privateigentums und im Weiteren des Marktes führt automatisch zur Freisetzung des an sich schon vorhandenen Vergesellschaftungspotenzials der Arbeit. Treffend bemerkt Postone: “Wichtig wäre hier, die Arbeiterbewegungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts daraufhin zu analysieren, wie diese in ihrem Kampf um Selbstkonstitution und Anerkennung sowie um soziale und politische Veränderungen Gesellschaftstheorien formuliert und sich angeeignet haben. Es liegt auf der Hand, daß die traditionellen Interpretationen auf der Würde der Arbeit bestehen und zur Verwirklichung einer Gesellschaft beitragen wollen, in der die essenzielle Bedeutung der Arbeit materiell und moralisch anerkannt wird.” /120/ Für Postone trifft die politisch behauptete “Würde der Arbeit” nicht die Marxsche Sichtweise des “Kapitals als prozessierenden Widerspruch”. Dessen “Verständnis des Grundwiderspruchs im Kapitalismus bezieht sich im Wesentlichen nicht auf den Widerspruch zwischen privater Aneignung und vergesellschafteter Produktion, sondern auf den Widerspruch innerhalb der Produktionssphäre selbst, wobei diese Sphäre den unmittelbaren Produktionsprozeß und die durch die Arbeit im Kapitalismus konstituierten sozialen Verhältnisse umfaßt.” /69/ Die Veränderung der subjektiven Träger dieser sozialen Verhältnisse gerät hier nicht den Blick. Die gängige Widerspruchsformel von gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung ist die distributionstheoretische Verkürzung in der Kapitalismusanalyse des traditionellen Marxismus und läßt die Entfremdungsverhältnisse der Individuen in der bürgerlichen Gesellschaft weiter bestehen.

b.)

Ist das Privateigentum einmal aufgehoben, ist auch der Herrschaftscharakter der anonymen Marktzwänge geb rochen und läßt sich der Markt durch Planung ersetzen, die nun die Produktion steuern soll – so eine weitere These des traditionellen Marxismus. Auch in dieser vereinfachenden Sichtweise sind für Postone die Anforderungen unterschätzt, die an eine Veränderung des Zusammenhangs von Arbeit und Herrschaft bei der Überwindung des Kapitalismus gestellt werden müssen. “Die Marxsche Gesellschaftstheorie beinhaltet – im Gegensatz zur traditionellen marxistischen Auffassung – eine kritische Analyse der unter dem Kapitalismus entwickelten Form der Produktion und verweist so auf die Möglichkeit, diese Form radikal umzugestalten. Eine produktivistische Glorifizierung dieser Form kann man ihr jedenfalls nicht unterstellen.” /6l/ Wie bei der einfachen Attacke auf Privateigentum und Markt bleiben auch bei der produktivistischen Verkürzung der Marxschen Kapitalismuskritik im traditionellen Marxismus die Fragen nach der Aufhebung von entfremdeter, abstrakter Herrschaft, nach emanzipatorischer Subjektivität und nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft in postkapitalistischen Strukturen auf der Strecke. Wird die Anarchie des Marktes durch Planung zurückgedrängt, ist die Entfremdung in den sozialen Beziehungen der Individuen noch nicht aufgelöst. Dies kommt auch in einem dritten Schwachpunkt des traditionellen Marxismus zum Ausdruck, nämlich in der Staatsfrage.

c.)

“Betrachtet man die staatliche Organisation der modernen Gesellschaft als Moment der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation und nicht als Negation des Kapitalismus, so wirft das natürlich auch das Problem der postkapitalistischen Demokratie erneut auf. Diese Analyse erklärt die für den Kapitalismus historisch-spezifischen abstrakten Zwänge und Beschränkungen aus den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Formen von Wert und Kapital. Insoweit die durch diese Kategorien ausgedrückten gesellschaftlichen Beziehungen nicht vollkommen mit Markt und Privateigentum identisch sind, ist impliziert, daß diese Zwänge weiterbestehen können, auch wenn keine bürgerlichen Distributionsverhältnisse mehr existieren.” /78/ Die Aufhebung solcher Zwänge ist durch einen sozialistischen Planstaat keineswegs gelöst. “Die postkapitalistische Gesellschaft, von der Marx spricht, muß außerdem von der Vorstellung einer vom Staat gelenkten Kapitalakkumulation abgegrenzt werden.” /77/ Postone hebt darauf ab, daß weder staatliche Planung wie im Staatssozialismus noch staatliche Regulierung innerhalb kapitalistischer Verhältnisse eine wirkliche Überwindung entfremdeter politischer Strukturen darstellen. Eine “staatsfreie” postkapitalistische Gesellschaft, in der der Staat als verselbständigtes und entfremdetes gesellschaftliches Organ in den gesellschaftlichen Zusammenhang zurückgenommen ist, verlangt nach einer zivilgesellschaftlichen Lösung, in der die Regulierung gesellschaftlicher Produktion mit wirksamen gesellschaftlichen Willensverhältnissen und freigesetzter Subjektivität verknüpft ist. Für diesen Gesamtzusammenhang von Emanzipation der Arbeit und neuen Strukturen gesellschaftlicher Arbeit /vgl. 66/ lieferte der traditionelle Marxismus weder bezogen auf die Kapitalismusanalyse noch auf Bestimmungen postkapitalistischer Gesellschaften brauchbare Überlegungen.

Auch wenn Postones Studie keinen differenzierten Überblick über das marxistische Denken insgesamt gibt und dabei höchst unterschiedliche Strömungen unter dem Titel “traditioneller Marxismus” zusammengesperrt werden, so kann er doch das durchgängig ungelöste politisch-theoretische Problem verdeutlichen: den umfassenden Entfremdungscharakter in Produktion, Distribution und politisch-staatlichen Strukturen. Begriff und Dechiffrierung dieses Entfremdungszusammenhangs in der bürgerlichen Gesellschaft markieren die zentrale Herausforderung einer modernen marxistischen Kapitalismusanalyse.

2. Sackgasse “Kritische Theorie”

In den Ansätzen des traditionellen Marxismus dominierte “eine Kritik des Marktes und des Privateigentums, die die Form der Arbeit und die den Kapitalismus charakterisierende Produktionsweise in den Sozialismus projiziert. Die Entwicklung der ‚Arbeit‘ hat, der traditionellen Theorie zufolge, mit der industriellen Produktion ihren historischen Endpunkt erreicht. Ist die industrielle Produktionsweise erst einmal von den Fesseln des Marktes und des Privateigentums befreit, dann werde diese ‚Arbeit‘ als das quasi-natürliche, konstitutive Prinzip der Gesellschaft zu sich selbst kommen.” /117/ Den verhängnisvollen Konformismus dieses Fortschrittsbegriffs, der in der Sozialdemokratie wie bei den Kommunisten verbreitet war, brachte Walter Benjamin in seinen geschichtsphilosophischen Thesen (1940) schlagend auf den Punkt: “Die technische Entwicklung galt ihr [der deutschen Arbeiterschaft] als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gelegen sei, stelle eine politische Leistung dar (…) Dieser vulgärmarxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt den Arbeitern selbst anschlägt, solange sie nicht darüber verfügen können. Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben.” [ 4 ] Dieser Arbeits- und Fortschrittsbegriff wurde sowohl durch die Entwicklung des Staatssozialismus als auch durch die krisenhafte Transformation des Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit grausam gründlich desavouiert, was ein Überdenken der strategischen Optionen erzwang. Dafür steht der Horkheimer-Kreis der 1930/40er Jahre, eine der wenigen intellektuellen Strömungen im “marxistischen” Lager, die sich der Herausforderung stellten, diesen ersten großen Transformationsprozeß des Kapitalismus im 20. Jahrhundert theoretisch zu begreifen. Gerade weil eine Intention Postones darin besteht, den Marxismus wieder auf ein theoretisches Niveau zu bringen, die zweite große Transformation des Kapitalismus seit Ende der 1970er Jahre begreifen zu können – die “so tief geht wie die Umwandlung des liberalen in den staatsinterventionistischen Kapitalismus” /35/, – lohnt für ihn auch ein Eingehen auf die kapitalismustheoretischen Analysen der frühen Frankfurter. [ 5 ] Auch sie sind noch in den Aporien des traditionellen Marxismus verhaftet. Denn “weil die Distributionsweise der zentrale Gegenstand der traditionellen Kritik ist, hat der Aufstieg des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus diese Kritik vor ernsthafte Probleme gestellt. Wenn die Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie nur auf eine sich selbst regulierende, über den Markt vermittelte Wirtschaft und auf die private Aneignung des Mehrprodukts Anwendung finden können, dann bedeutet die zunehmende Intervention des Staates, daß diese Kategorien immer weniger der gesellschaftlichen Realität entsprechen. Daraus folgt, daß die traditionelle Theorie immer weniger in der Lage ist, den postliberalen Kapitalismus geschichtlich zu kritisieren.” /33/ Der Versuch des Horkheimer-Kreises, den postliberalen Kapitalismus zu begreifen, endete in einer “geschichtspessimistischen Wende”, deren politökonomische Grundlagen Postone in den Beiträgen Friedrich Pollocks ausmacht. Seine Thesen zum “Staatskapitalismus” bleiben gerade in ihrer Negation zum klassisch liberalen Konkurrenzkapitalismus immer noch insgeheim auf die “distributionstheoretischen” und “produktivistischen” Mißverständnisse des traditionellen Marxismus bezogen. Pollock geht zwar über die impliziten Sozialismustheoreme des traditionellen Marxismus hinaus, insofern er zeigen kann, “daß die Abschaffung von Markt und Privateigentum für die Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus nicht ausreicht”. /163/ Aber im Gegenzug kann er die “Kennzeichnung der postliberalen antagonistischen Gesellschaft als kapitalistisch nicht mehr hinr eichend begründen”, /ebd./ Daraus ziehen die Kritischen Theoretiker für eine an Marx orientierte Kapitalismuskritik wie Sozialismuskonzeption gravierende Schlußfolgerungen: Zum einen ist die Emanzipationsgeschichte der Arbeit an ihr Ende gekommen. In der postliberalen verwalteten Welt des heraufziehenden Fordismus ist “die ‚Arbeit‘ zu sich selbst gekommen. Die Totalität ist verwirklicht, das Ergebnis aber alles andere als emanzipatorisch. Diese Analyse [der Frankfurter] unterstellt, daß dieses Ergebnis seinen Grund im Charakter der ‚Arbeit‘ haben muß. Galt ‚Arbeit‘ zuvor als Ort der Freiheit, erscheint sie nun als Ursache der Unfreiheit.” /169/ Für Postone sind dieser Umschlag in Geschichtspessimismus und das Abschreiben von Individualität und Subjektivität als gesellschaftsveränderndes Potenzial nicht ausgewiesen und erklärt. Vielmehr konstatiert er, daß sowohl die naiv optimistischen Positionen der II. Internationale wie die pessimistische der kritischen Theorie hier ein Verständnis der Arbeit im Kapitalismus an den Tag legen, “das hinter das Niveau der späten Marxschen Kritik an Ricardo und Hegel zurückfällt”. /ebd./

Zum andern wird mit der These vom Primat des Politischen innerhalb der Theorie eines postliberalen Staatskapitalismus eine neue Qualität von Herrschaft behauptet, die an die Stelle der Marxschen Auffassung von abstrakter Herrschaft, sachlicher Abhängigkeit und gesellschaftlicher Unbewußtheit – Formen, die nur in einer funktionierenden Marktgesellschaft Gültigkeit besessen hätten – die Annahme bewußter Kontrolle eines postliberalen Planstaates setzt. Für Postone wird auch in dieser Schlußfolgerung verkannt, daß bei Marx die Bedeutung der Strukturen abstrakter Herrschaft “über den Markt und die Zirkulationssphäre (…) hinausgeht” /200/, und – wie der Realsozialismus ja gezeigt hat – reichte das sozialistische Planprinzip “an und für sich nicht hin, das System abstrakter Herrschaft – die den Kapitalismus kennzeichnende unpersönliche, nicht-bewußte, unfreiwillige, vermittelte Form von Notwendigkeit – zu überwinden”. /20l/ Postone will einen Neuansatz des Marxismus, eine entwickelte kritische Theorie, voranbringen, in der die bisherigen Sackgassen verlassen werden und eine umfassende Kritik des Kapitalismus wieder möglich wird. Seine “Interpretation der Marxschen Kritik soll also deren Systematik rekonstruieren und ihre Logik wiederherstellen”. /45/ Es handelt sich gleichwohl indirekt auch um eine entwickelte Theorie des gegenwärtigen Kapitalismus. Gestützt auf “einige Abschnitte” in den Marxschen Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie soll eine Analyse des modernen Kapitalismus im 21. Jahrhundert ermöglicht werden.

3. “Grundrisse” als Schlüssel

Die Grenzen des traditionellen Marxismus wie die pessimistische Wende der Kritischen Theorie basieren für Postone auf “einer Gesellschaftskritik vom Standpunkt der ‚Arbeit‘”. /142/ Dagegen grenzt er entschieden einen qualitativ anderen gesellschaftskritischen Zugang ab: Die “Kritik der historischen Besonderheit der Arbeit im Kapitalismus”. /ebd./ Diese gilt es zu leisten. “Zur Debatte steht das Niveau, von dem aus die Kritik den Kapitalismus attackiert – ob er als eine Gesellschaftsform anstatt bloß als eine Form von Klassenherrschaft verstanden wird und ob gesellschaftliche Werte und Vorstellungen in den Begriffen einer Theorie gesellschaftlicher Konstitution behandelt werden anstatt auf funktionalistische (oder idealistische) Art und Weise.” /115/ Postone will explizit den gesellschaftstheoretischen Gehalt der Marxschen Theorie zum Tragen bringen. In den Formeln des traditionellen Marxismus – Markt/Plan, Privateigentum/Staat, vergesellschaftete Produktion/private Aneignung, etc. – wird der gesamtgesellschaftliche Zusammenhang des modernen Kapitalismus auf einzelne Strukturen heruntergebrochen, die es lediglich abzuschaffen gilt, um vorhandene Produktivkräfte freizusetzen. Entfremdungsprozesse und handelnde Subjekte bleiben in dieser Betrachtung auf der Strecke. Zwar wollten die Vertreter der Frankfurter Schule diese Defizite beseitigen, endeten aber in der Diagnose einer repressiven, widerspruchslosen gesellschaftlichen Totalität angepaßter und konformistischer Individuen. Postones Zentralthese: “Die Kategorien der Marxschen kritischen Theorie können die Basis einer historischen Theorie der Subjektivität bilden, wenn sie als Kategorien strukturierter Praxisformen interpretiert werden, die Bestimmungen sowohl von sozialer ‚Objektivität‘ als auch von ‚Subjektivität‘ sind (anstatt allein als Kategorien sozialer ‚Objektivität‘ oder gar als rein ökonomische). In dieser Lesart könnte die Analyse des dynamischen Charakters des Kapitalismus gleichzeitig eine Analyse der geschichtlichen Transformation von Subjektivität sein.” /73/ Für Postone erlaubt eine solche Rekonstruktion der Marxschen Theorie, andere Aspekte der Moderne-Kritik zu integrieren, die wie Simmels Analyse zur wachsenden Kluft von objektiver und subjektiver Kultur, Durkheims Untersuchung der Zunahme gesellschaftlicher Anomien und Webers Analyse der Rationalisierung gesellschaftlicher Lebenssphären auf ihre Art auf Formwandlungen des Kapitalismus von liberalen zu organisierten Formen reagieren. Der Marxismus könnte sich so als durchaus leistungsfähige kritische Theorie der Moderne erweisen. Es zeichnet Postone aus, daß er für ein solches Unterfangen den Dreh- und Angelpunkt innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie freilegt: es ist die geschichtliche wie gesellschaftstheoretische Dimension des Zusammenhangs von Arbeit und Entfremdung im Kapitalismus. Dafür greift Postone nun auf den Marxschen Rohentwurf der Kritik der politischen Ökonomie von 1857/58 zurück. [ 6 ]

Die “Grundrisse” machen für ihn deutlich, “daß Marx, wenn er die Aufhebung der kapitalistischen Widersprüche mit der Feststellung beschreibt, daß ‚die Arbeitermasse selbst ihre Surplusarbeit sich aneignen muß‘, nicht nur die Enteignung des Privateigentums und die Verwendung des Mehrprodukts auf rationalere, menschlichere und effizientere Weise im Sinn hat. Die Aneignung, von der er spricht, geht weit darüber hinaus, bezieht sie doch auch die reflexive (Herv. von uns) Anwendung der unter dem Kapitalismus entwickelten Produktivkräfte auf den Produktionsprozeß selbst mit ein”. /59/ In der Tat dechiffriert Marx die “große geschichtliche Seite des Kapitals” (GR 231) in den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie – lange vor der Beckschen Regenbogensoziologie und den Moderne-Sozialisten – als reflexive Modernisierung, ein Erbe, was der traditionelle Marxismus verspielt hat: “Als das rastlose Streben nach der allgemeinen Form des Reichtums treibt aber das Kapital die Arbeit über die Grenzen ihrer Naturbedürftigkeit hinaus und schafft so die materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, die ebenso allseitig in ihrer Produktion als Konsumtion ist und deren Arbeit daher auch nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist.” (GR 231)

Postone rückt ins Zentrum seiner Untersuchung der Marxschen Kapitalismusanalyse einen entscheidenden Abschnitt der “Grundrisse”, der überschrieben ist: “Widerspruch zwischen der Grundlage der bürgerlichen Produktion (Wertmaß) und ihrer Entwicklung selbst.” (GR 592) Hier kann er verdeutlichen, daß die Dynamik der kapitalistischen Reichtumsproduktion die Möglichkeit eines anderen Produktionsprozesses impliziert, eines Prozesses, der auf einer neuen, emanzipatorischen Struktur gesellschaftlicher Arbeit basiert. Ebenso ist hierin eine gesellschaftliche Individualität thematisiert, die die Antinomien zwischen einem atomisierten Individuum und einer Kollektivität als einer Art “Übersubjekt” überwindet. “Innerhalb de r Marxschen Analyse kann die Arbeit das gesellschaftliche Individuum nur konstituieren, wenn das Potenzial der Produktivkräfte in einer Weise genutzt wird, die die Organisation des Arbeitsprozesses vollständig revolutioniert. Die Menschen müssen in der Lage sein, aus dem unmittelbaren Arbeitsprozeß, in dem sie zuvor als Teile arbeiteten, herauszutreten, und dazu, ihn von oben zu kontrollieren.” /66/ Damit hat Postone den zentralen Fluchtpunkt der Marxschen Analyse bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftungsprozesse getroffen: eine geschichtlich neu erzeugte Subjektivität in der Arbeit: “In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint.” (GR 593) Das moderne Arbeitssubjekt tritt neben den Produktionsprozeß und seine Arbeit kann sich tendenziell “in mehr überwachende und regulierende Tätigkeit verwandeln”. (GR 597) An die Stelle von Kontrolle und Disziplin des lebendigen Arbeitsvermögens als “dressierter Naturkraft” treten Kooperation und Bildung, “was in einem höhern Zustand als self direction, zweckmäßiges Verhalten u.s.w.” [ 7 ] zu subjektiven Produktionsvoraussetzungen sich ausbildet.

So weit, so gut. Die Herausstreichung dieser im traditionellen Marxismus verschütteten Dimension der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie durch Postone ist verdienstvoll. Aber dabei bleibt Postone nicht stehen. Sie markiert für ihn nur die Ouvertüre zu einer weitergehenden werttheoretischen Interpretation. Denn eine Sache ist die historische Dynamik und Entwicklungsdimension gesellschaftlicher Arbeit und der Subjekte im Kapitalismus. Eine andere ist die Frage nach der Entfremdung und den abstrakten Herrschaftsverhältnissen im Kapitalismus. Und dies hängt an der Fassung des Wertbegriffs. Unser kritischer Einwand gegen die Argumentation von Postone lautet: Das Kapital kündigt eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an. Das betonen wir mit Postone. Im Unterschied zu ihm unterstreichen wir: “Die Schranke des Kapitals ist, daß diese Entwicklung gegensätzlich vor sich geht… Diese gegensätzliche Form selbst aber ist verschwindend und produziert die realen Bedingungen ihrer eigenen Aufhebung … Die Universalität der Individuen nicht als gedachte oder eingebildete, sondern als Universalität seiner realen und ideellen Beziehungen. Daher auch Begreifen seiner eigenen Geschichte als eines Prozesses.” (GR 440)

4. Springpunkt: transparente versus entfremdete Gesellschaftlichkeit?

Der gängigen Theorie zufolge “stellt die Werttheorie von Marx dem Wesen nach eine verfeinerte und konsistentere Version der Arbeitswerttheorie von Ricardo dar. Demnach komme bei ihm auch dem Wertgesetz eine ähnliche Funktion zu: die Mechanismen der Distributionsweise des Laissez-Faire mittels der Arbeit zu erklären”. /93/ Wird der Wert lediglich als eine Kategorie des Marktes und der Distributionsweise charakterisiert, lassen sich Probleme der Arbeit und Entfremdung auf bequeme Art und Weise für sich lösen. Zurückdrängung des Marktes schaffe bewußte, nichtentfremdete Strukturen gesellschaftlicher Regulierung. Aber Postone beharrt zu Recht darauf, daß bei aller Dynamik und Transformation kapitalistischer Produktionsverhältnisse Entfremdung und sachliche Abhängigkeit noch nicht aus der Welt geschafft sind. Er sieht einen immanenten Zusammenhang vom Charakter der Arbeit und Entfremdung. “Das Verständnis abstrakter Herrschaft ist eng an die Interpretation des Werts gebunden. Ich werde zeigen, daß der Wert – als eine Form des Reichtums – den Kern von Strukturen abstrakter Herrschaft bildet.” /200/ Für Postone geht Marx gerade durch eine formationsspezifische Fassung des Wertbegriffs qualitativ über die klassische politische Ökonomie hinaus. Worin besteht aber nach Postones Marxinterpretation die spezifische Gesellschaftlichkeit der Arbeit im Kapitalismus? Gemeinhin wird der Kapitalismus als ein System “unabhängiger Privatarbeiten” (MEW 23/57) charakterisiert. Postone grenzt sich nun entschieden von einer Lesart ab, daß Marx dieses System von einem Standpunkt unmittelbar gesellschaftlicher Arbeit aus kritisiert. Vielmehr zielt Postone auf die These: “In der späten kritischen Theorie von Marx ist die Arbeit im Kapitalismus unmittelbar gesellschaftlich, weil sie als gesellschaftlich vermittelte Tätigkeit agiert.” /88/ In einem Vorgriff auf die noch einzulösende Untersuchung der Dynamik des Kapitals bemüht Postone hier die Marxschen Thesen aus dem dritten Band des “Kapital” (5. Kapitel: Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals) über den Zusammenhang der Ökonomie der lebendigen und der toten Arbeit, die sich darin resümieren, daß es “in der Tat gerade dieser unmittelbare gesellschaftliche Charakter der Arbeit (ist), der diese Verschwendung von Leben und Gesundheit der Arbeiter erzeugt” (MEW 25/99; zit. bei Postone S. 88) – und damit nach wie vor Entfremdung. Postone schlußfolgert hieraus: “Wir sind an einen Punkt gelangt, von dem aus sich ein bemerkenswerter Gegensatz erschließt. Folgt man den Interpretationen des Werts als einer Kategorie des Marktes, so ist die Arbeit in allen Gesellschaften außer der kapitalistischen unmittelbar gesellschaftlich. Marx zufolge hat die Arbeit dagegen nur im Kapitalismus eine unmittelbar gesellschaftliche Dimension. Was den traditionellen Auffassungen zufolge durch die Aufhebung des Kapitalismus realisiert werden würde, ist somit genau das, was nach Marx abgeschafft werden sollte.” /88/

Postone geht der Entwicklungsdimension der Gesellschaftlichkeit der Arbeit im Kapitalismus, wie sie gerade in charakteristischer Weise in der Bewegung der aufgehäuften toten Arbeit, des konstanten Kapitals oder noch genauer des gesellschaftlichen Fixkapitals zum Ausdruck kommt, zunächst nicht weiter nach, sondern schiebt einen zweiten Begründungsschritt in puncto spezifische Gesellschaftlichkeit der Arbeit im Kapitalismus nach. “Das vorliegende theoretische Problem besteht darin, die Kategorie der abstrakten Arbeit so rekonstruieren, daß sie die Grundlage einer Kritik der Produktionsweise bildet.” /229/ Die nähere Betrachtung erhellt nun, wie Postone die bürgerlich-kapitalistische Produktionsweise von nicht-kapitalistischen Gesellschaftsformationen abgrenzt. Natürlich hat für Postone die Arbeit in allen Gesellschaftsformationen einen gesellschaftlichen Charakter. Aber “in nicht-kapitalistischen Gesellschaften sind die arbeitsförmigen Tätigkeiten in dem Maße gesellschaftlich, in dem sie in die Matrix der transparenten gesellschaftlichen Verhältnisse (Herv. von uns) eingebettet sind. Diese ist das konstituierende Prinzip dieser Gesellschaften.” /233/ Postone verfällt hier in eine beliebte Manier kritischer Gesellschaftstheorie, Maßstäbe von Gesellschaftlichkeit zu konstruieren und äußerlich an Gesellschaftsformationen anzulegen. Gemeinhin wird der Kapitalismus ausgehend von angeblich unentfremdeten früheren oder zukünftigen Lebensformen als entfremdet qualifiziert Marx dechiffrierte dies als jene romantische Sehnsucht nach ursprünglicher Fülle, die die bürgerliche Gesellschaft als berechtigter Gegensatz bis an ihr seliges Ende begleiten wird (vgl. GR 80). Postone dreht die Sache einfach um. “Von der Warte der kapitalistischen Gesellschaft aus ließen sich die Verhältnisse vorkapitalistischer Formationen als persönliche, manifest gesellschaftliche und qualitativ besondere Beziehungen, das heißt differenziert bezüglich der Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Gruppierungen, sozialem Status usw. beschreiben.” /233/ Dreh- und Angelpunkt der Postoneschen Argumentation bildet seine Unterscheidung von gesellschaftlicher Arbeit und einer Matrix sons tiger sozialer Beziehungen. “Im Kapitalismus ist es die Arbeit selbst, welche die gesellschaftliche Vermittlung konstituiert, und nicht eine derartige Matrix von Beziehungen. Das bedeutet, daß der Arbeit kein gesellschaftlicher Charakter aufgrund transparenter gesellschaftlicher Verhältnisse zukommt (…) Anders ausgedrückt: im Kapitalismus begründet die Arbeit ihren eigenen gesellschaftlichen Charakter vermöge ihrer historisch spezifischen Funktion als einer gesellschaftlich vermittelnden Tätigkeit. In diesem Sinne wird Arbeit im Kapitalismus zu ihrem eigenen gesellschaftlichen Grund.” /234/ Soziale Verhältnisse jenseits und neben der gesellschaftlichen Arbeit ermöglichen Postone zufolge also unentfremdete Strukturen, was nur so verstanden werden kann, daß Postone also mythologische, religiöse und politische Abhängigkeiten in vorbürgerlichen Lebensformen als nicht-entfremdet qualifizieren muß. Erst die Verallgemeinerung von Arbeit zu einem System gesellschaftlicher Arbeit produziert Entfremdung, was wiederum impliziert, daß Postone für den Kapitalismus keine weiteren sozialen Verhältnisse mit anderen Qualitäten als die der gesellschaftlichen Arbeit ausdifferenziert. [ 8 ] Und so kommt Postone zu dem Schluß: “Entfremdete Arbeit konstituiert also eine gesellschaftliche Struktur abstrakter Herrschaft, doch sollte diese Arbeit nicht notwendig mit Mühsal, Unterdrückung oder Ausbeutung gleichgesetzt werden. Die Arbeit eines Leibeigenen, von der ein Teil dem Feudalherrn ‚gehört‘, ist an und für sich nicht entfremdet: Beherrschung und Ausbeutung sind dieser Arbeit selbst nicht immanent. Genau aus diesem Grund beruhte die Ausbeutung unter solchen Bedingungen auf unmittelbarem Zwang – und mußte es auch. Nicht-entfremdete Arbeit ist in Gesellschaften, in denen ein von nicht-arbeitenden Klassen angeeigneter Überschuß existiert, notwenig mit unmittelbarer gesellschaftlicher Herrschaft verbunden.” /248/ Postone wirft gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und soziale Entfremdung unscharf durcheinander und kommt darüber zu der fragwürdigen These: “Die für den Kapitalismus charakteristische abstrakte Herrschaft und Ausbeutung der Arbeit gründen letztlich nicht in der Aneignung des Überschusses durch nicht-arbeitende Klassen, sondern in der Form der Arbeit im Kapitalismus.” /249/

Hier zeigt sich die gravierende Schwäche in Postones Argumentation, warum er den jeweiligen Zusammenhang von Arbeit – Herrschaft – Entfremdung in vorbürgerlichen und kapitalistischen Verhältnissen nicht auf die Reihe kriegt. Das missing link ist die Verwandlung vorbürgerlicher Arbeit in Lohnarbeit, deren Verallgemeinerung und die Möglichkeit einer umfassenden bewußten Vergesellschaftung: Die historischen Existenzbedingungen des Kapitals und damit auch seiner spezifischen Herrschafts- und Entfremdungsstrukturen “sind durchaus nicht da mit der Waren- und Geldzirkulation. Es entsteht nur, wo der Besitzer von Produktions- und Lebensmitteln den freien Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Markt vorfindet, und diese eine historische Bedingung umschließt eine Weltgeschichte. Das Kapital kündigt daher von vorneherein eine Epoche des gesellschaftlichen Produktionsprozesses an.” (MEW 23/184) Marxistische Epochentheorie hat immer auszugehen von “der richtigen Fassung des Gegenwärtigen”, was “dann auch den Schlüssel für das Verständnis der Vergangenheit (bietet)”. (GR 365) Dann ergeben sich drei zentrale Marxsche Thesen:

1.

Die Lohnarbeit ist zwar die Beseitigung vorbürgerlicher (persönlicher) Abhängigkeitsverhältnisse, aber zugleich die Auflösung gesellschaftsgeschichtlicher Abhängigkeitsverhältnisse “in eine allgemeine Form (…) das Herausarbeiten des allgemeinen Grundes” (GR 81) von Abhängigkeiten innerhalb eines Systems gesellschaftlicher Arbeit überhaupt. Denn erst in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft ist “die Arbeit nicht nur in der Kategorie, sondern in der Wirklichkeit als Mittel zum Schaffen des Reichtums überhaupt geworden und hat aufgehört als Bestimmung mit dem Individuum in einer Besonderheit verwachsen zu sein”. (GR 25)

2.

Genau Letzteres trifft für vorbürgerliche Formationen zu. “Wir haben gesehen, daß das Eigentum an den Produktionsbedingungen gesetzt war als identisch mit einer bornierten, bestimmten Form des Gemeinwesens; des Individuums also in solchen Eigenschaften – bornierten Eigenschaften und bornierter Entwicklung seiner Produktivkräfte –, um solches Gemeinwesen zu bilden.” (GR 439) In vorbürgerlichen Gesellschaften ist die subjektive Komponente der Produktivkraft noch nicht unter einem objektiven System immanenter Produktivkraftsteigerung subsumiert. Deshalb kann Marx zu Recht davon sprechen, daß sich hier “die Individuen nicht als Arbeiter, sondern als Eigentümer – und Mitglieder eines Gemeinwesens, die zugleich arbeiten” (GR 375), verhalten. Diese Struktur von arbeitendem Individuum und Gemeinde/Stammesmitglied etc., wo sich die gesellschaftlichen Lebenssphären noch vermischen und sich noch keine klare Basis-Überbau-Struktur herausgebildet hat, versuchte Postone mit seinem Begriffspaar von Arbeit und Matrix sozialer Beziehungen zu fassen. Dieser Zusammenhang wird über Surplusproduktion und verschiedene Ausbeutungsformen aufgelöst und erreicht erst mit der weltgeschichtlichen Epoche der Lohnarbeit einen Zustand, “wo die freie, ungehemmte, progressive und universelle Entwicklung der Produktivkräfte selbst die Voraussetzung der Gesellschaft und daher ihrer Reproduktion bildet”. (GR 438)

3.

Das Sahnestück der Marxschen Formationstheorie besteht nun noch darin, daß als Pendant zum System der Lohnarbeit mit all ihren Abhängigkeiten, Ausbeutungsstrukturen und Entfremdungen diese bürgerlich-kapitalistische Epoche eine spezifische Illusion ausprägt, “daß ursprünglich die Menschen nur als Warenbesitzer einander gegenübertreten und daher jeder nur Eigentümer ist, soweit er Arbeiter ist. Dies ‚ursprünglich‘ ist, wie gesagt, eine aus dem Schein der kapitalistischen Produktion entspringende Delusion, die historisch nie existiert hat. Überhaupt tritt der Mensch (isoliert oder sozial) immer als Eigentümer auf, ehe er als Arbeiter auftritt…” (MEW 26.3/369)

Im modernen Kapitalismus gehören Lohnarbeit und die spezifischen Illusionen freier und gleicher Warenbesitzer zusammen. “Einsicht in diesen Prozeß = … das Kapital (ist) nicht nur … Kommando über fremde Arbeit…, sondern daß es die Macht ist, sich fremde Arbeit ohne Austausch, ohne Äquivalent, aber mit dem Schein des Austausch, anzueignen.” (GR 449) Von dieser gerade Subjektivitäts- und Bewußtseinsformen prägenden sozialen Struktur ist bei Postone nicht die Rede. Er ahnt zwar, daß “die Marxsche kritische Theorie eine komplexe Analyse der reziproken Konstitution von System und Handlung in der kapitalistischen Gesellschaft enthält”. /246/ Aber materialiter eingelöst ist dieser Zusammenhang bei Marx in dem in vielen Kapitalinterpretationen unverstanden gebliebenen “dialektischen Umschlagen” des “Appropriationsgesetzes in der einfachen Zirkulation” /GR 90l/ in die Aneignung fremder Arbeit. [ 9 ] Ohne diesen Umschlag im kapitalistischen Aneignungsgesetz lassen sich die Widersprüche und Ambivalenzen im Handeln und Denken bürgerlicher Individualität nicht begreifen.

5. Wertbegriff ohne Lohnarbeit und Ausbeutung?

Postone ging von dem “Widerspruch zwischen der Grundlage der bürgerlichen Produktion und ihrer Entwicklung selbst” – wie Marx sie in den “Grundrissen” skizzierte – aus und vermochte die zivilisatorischen Tendenzen gesellschaftlicher Arbeit im Kapitalismus zu benennen. Aber auf die werttheoretischen Grundlagen, die Marx dort selbst anführt, kommt er zunächst nicht zurück, sondern verstrickt sich in Ausführungen zu Wert, abstrakter Arbeit, Herrschaft und Entfremdung jenseits von Mehrwer tproduktion und Ausbeutung. Der Widerspruch bleibt unaufgelöst: “Der Diebstahl an fremder Arbeitszeit, worauf der jetzige Reichtum basiert, erscheint miserable Grundlage gegen diese neuentwickelte, durch die große Industrie selbst geschaffen” (Marx, GR 593, zit. bei Postone, S. 57) Bei der Rekonstruktion des Marxschen Kapitalbegriffs, wo Postone auf die Ware Arbeitskraft zu sprechen kommt, behauptet er: “Doch sollten die Marxschen Begriffe von abstrakter Arbeit und Lohnarbeit nicht in eins gesetzt werden. Indem er mit der Ware als einer gesellschaftlichen Form statt mit der soziologischen Kategorie der Lohnarbeit beginnt, will Marx die historische Besonderheit des gesellschaftlichen Reichtums und die Textur der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse, den dynamischen Charakter dieser Gesellschaft und die Struktur von Arbeit und Produktion begreifen – mittels Kategorien, die auch gesellschaftlich und historisch spezifische Subjektivitätsformen erfassen. Die Kategorie der Lohnarbeit wäre aber nicht der geeignete Ausgangspunkt, von dem aus diese unterschiedlichen Dimensionen der kapitalistischen Gesellschaft entfaltet werden könnten.” /410/ Postone hat das Verhältnis von Wert, wie dieser in den Formen der einfachen Zirkulation erscheint, und der Lohnarbeit, als dessen Grundlage, nicht erfaßt. Er glaubt sich zwar mit der Marxschen These konform: “Um den Begriff des Kapitals zu entwickeln, ist es nötig, nicht von der Arbeit, sondern vom Wert auszugehen, und zwar von dem schon in der Bewegung der Zirkulation entwickelten Tauschwert.” (GR 170) Aber dabei muß klar sein, daß in der wirklichen Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft das Kapital, sprich die Lohnarbeit, den einfachen Wertformen vorausgesetzt ist. Über diesen Gang der Darstellung, der den Schein einer “Konstruktion a priori” (MEW 23/ 27) nahe legt, ist Postone sich nicht im Klaren. “Die exakte Entwicklung des Kapitalbegriffs nötig, da er der Grundbegriff der modernen Ökonomie, wie das Kapital selbst, dessen abstraktes Gegenbild sein Begriff, die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Aus der scharfen Auffassung der Grundvoraussetzung des Verhältnisses müssen sich alle Widersprüche der bürgerlichen Produktion ergeben, wie die Grenze an der es über sich selbst hinaustreibt.” (GR 237) Im Abschnitt “Das Kapital” /395 ff./ entfernt sich Postone mehr und mehr von der Kritik der politischen Ökonomie. Seine schiefe formationstheoretische Fassung des Springpunktes der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, des Doppelcharakters der Arbeit, und seine redundante Wertbestimmung (abstrakte Arbeit, keine substanzielle Fortentwicklung zu Lohnarbeit und Konkurrenz) führen zu dem eigentümlichen “Ergebnis einer richtungsgebundenen Dynamik, in der sich die beiden Dimensionen, konkrete Arbeit und abstrakte Arbeit, Produktivität und das abstrakte zeitliche Wertmaß fortwährend gegenseitig neu bestimmen”. /437/ Dies nennt Postone dann “reziproke Neubestimmung von Produktivitätssteigerung” – der so genannte “Tretmühleneffekt”. “Dieser Tretmühleneffekt unterstellt, schon auf der abstrakt logischen Ebene des Problems der Wertgröße – anders gesagt: schon bevor die Kategorie Mehrwert und das Verhältnis zwischen Lohnarbeit und Kapital eingeführt worden ist – eine Gesellschaft, die richtungsgebunden dynamisch ist, was sich im Drang nach ständig erhöhten Produktivitätsniveaus ausdrückt.” /436/

Hier wird die zentrale Schwäche des Neuansatzes seiner Marx-Lektüre offenkundig: Sein richtig gewählter Ausgangspunkt mit den “Grundrissen”, die darin ausgesprochene Dialektik von “capital fixe” und den Veränderungen im System gesellschaftlicher Arbeit mit der darin angelegten Vertiefung von Entfremdung, aber auch den Chancen eines “enormen Bewußtseins” der Produzenten, die Produkte als ihre eigenen und die Trennung von ihren Verwirklichungsbedingungen als ungehörig zu erkennen (vgl. GR 366) – diese historische Tendenz des Kapitals mit seinem zivilisatorischen Potenzial kann von Postone gegen seine eigene ursprüngliche Intention nicht mehr eingefangen werden. Die spezifische Form und Dynamik kapitalistischer Produktivkraftentwicklung läßt sich nicht auf die Formel bringen: “Die ständig steigenden Mengen des unter dem Kapitalismus produzierten stofflichen Reichtums korrespondieren nicht mit entsprechenden Niveaus wertförmigen gesellschaftlichen Reichtums.” /469/

Der Zwang zur Produktivitätssteigerung unterm Kapital resultiert gerade daraus, daß die einmal geschaffene tote Arbeit, sei es in Form von Geld- oder Fixkapital, immer wieder verwertet sein will, was nur durch weitere Verflüssigung unbezahlter Surplusarbeit – sprich Ausbeutung – möglich ist. Stellt sich der Reproduktionsprozeß des Kapitals erst einmal als konkurrenzvermittelte Kostenökonomie dar, als Zwang, die vorgeschossenen Werte mit einem möglichst großen Überschuß zu reproduzieren, so richtet sich das Augenmerk von selbst auf alle Phasen im Kreislaufprozeß des Kapitals, um sie kostenmäßig zu erfassen und günstiger zu bewirtschaften. So rückt die Ökonomie des konstanten Kapitals als historisch immer wichtiger werdender Faktor ins Blickfeld. Diese Dynamik reflektiert sich in einer eigentümlichen Darstellungsweise im Marxschen “Kapital” als Ökonomie der lebendigen und der toten Arbeit: “Der Gang der Analyse gebietet diese Zerreißung des Gegenstandes, die zugleich dem Geist der kapitalistischen Produktionsweise entspricht.” (MEW 23/344) Postone sieht diesen inneren Zusammenhang nicht, der genau den von ihm selbst aus den “Grundrissen” genommenen “Widerspruch zwischen den Grundlagen der bürgerlichen Produktion (Wertmaß) und ihrer Entwicklung selbst” vermittelt. In der Bewegung des gesellschaftlichen Fixkapitals erhält diese Vermittlung ihren sinnfälligen Ausdruck: “In dem fixen Capital erzeugt sich die capitalistische Productionsweise erst ihre materiellen Bedingungen. Der Entwicklungsgrad desselben ist daher der Index des Entwicklungsgrades der capitalistischen Productionsweise, die – ihre differentia specifica – wie alle historisch Epochenmachenden Stufen, ausdrückt weniger in den Gebrauchswerthen oder Producten, die sie für den Consum schafft, als in den Productionsmitteln”. [ 10 ] Das in dieser historisch spezifischen Struktur der Dominanz der vergegenständlichten Arbeit schlummernde Emanzipationspotenzial der lebendigen Arbeit ist von Marx schon früh in den “Grundrissen” auf den Punkt gebracht: “Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grade das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses.” (GR 594)

Postones “Tretmühlenlogik”, die in einer “zunehmenden Fragmentierung proletarischer (!!) Arbeit” /52l/ resultiert, führt den Autor wieder unwillkürlich in das Horkheimersche Gehäuse instrumenteller Vernunft zurück, aus dem ihm letztlich nur ein ökologischer Befreiungsschlag in Verbindung mit “Andre Gorz’ Erörterung der Möglichkeit eines garantierten Einkommens” /549/ wieder heraushilft. Dieser Postonesche “Weg ins Paradies” einer postkapitalistischen Gesellschaft stellt letztlich seinen ursprünglichen Ausgangspunkt in den Marxschen Grundrissen auf den Kopf. Marx will die Entfremdung lebendiger Arbeit im Kapitalverhältnis immanent aufgebrochen wissen. In den Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise ist selbst als gesellschaftsgeschichtliche Tendenz die “Schöpfung von viel disposable time” (GR 595) eingeschlossen, an der auch die Lohnarbeit durch soziale Kämpfe immer wieder partizipieren kann. Diese “freie Zeit… hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß.” (GR 599) Das Entwicklungsverhältnis von Lohnarbeit und gesellschaftlichem Fixkapital zielt mithin selbst auf eine historisch mögliche Konstellation von lebendiger und toter Arbeit, in der “die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint”. (GR 593) Nach unserer Lesart der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie sind es diese Entwicklungstendenzen im System gesellschaftlicher Arbeit, die bei aller Widersprüchlichkeit und Rekommodifizierung der Lohnarbeit im gegenwärtig entfesselten Kapitalismus den Veränderungen von Arbeitsverhältnissen und betrieblicher Arbeitsorganisation, moderner Gruppen- und Teamarbeit sowie Formen arbeitnehmerischer Selbstorganisation zugrunde liegen. Moderne Kapitalismuskritik muß anschlußfähig sein für die Erfassung dieser geschichtlichen Tendenzen. Das leistet Postone letztlich nicht. Auf der von ihm entwickelten Grundlage läßt sich der Kapitalismus des 21. Jahrhunderts so gewiß nicht analysieren.

Aus: Sozialismus N° 6 (Juni 2004), 31. Jg., Heft N° 278, S. 40 – 49
Joachim Bischoff ist Mitherausgeber, Fritz Fiehler und Christoph Lieber sind Redakteure von Sozialismus

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Anmerkungen

[ 1 ] Robert Castel, Zerfall der Lohnarbeitsgesellschaft, in: Lohn der Angst, Konstanz 2001, S. 17.

[ 2 ] Moishe Postone, Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx, Freiburg 2004. Seitenangaben im Folgenden in //.

[ 3 ] K. Marx, Das Kapital, Bd. l, MEW 23, Berlin 1969, S. 16, im folgenden MEW.

[ 4 ] W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. l, Frankfurt/M 1980, S. 698 f.

[ 5 ] Eine entwickelte Kapitalismuskritik kommt um eine Auseinandersetzung mit den Thesen der Frankfurter Schule nicht herum. Zu deren Kapitalismusanalyse vgl. die Ausführungen “Globalisierung und die amerikanische Herausforderung” in: J. Bischoff, Entfesselter Kapitalismus. Transformation des europäischen Sozialmodells, Hamburg 2003, S. 7 ff.

[ 6 ] K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953. Im folgenden GR.

[ 7 ] 7 K. Marx, Das Kapital (Ökonomisches Manuskript 1863-1865), Drittes Buch, Ökonomie in der Anwendung des konstanten Kapitals, in: MEGA 11/4.2, Berlin 1992, S. 117 f. In diesem ersten Entwurf zum dritten Band des Kapitals werden von Marx die ökonomischen Formbestimmungen immer wieder nach der Seite der Spielräume für die Subjekte und ihr Handeln bis hin zu qualitativ veränderbaren gesamtgesellschaftlichen Regulierungen des Kapitalverhältnisses behandelt. Dies ist herausgearbeitet in unserer Interpretation J. Bischoff/A. Otto u.a., Ausbeutung – Selbstverrätselung – Regulation. Der 3. Band des “Kapital”, Hamburg 1993.

[ 8 ] Damit verschließt sich für Postone ein gesellschaftstheoretischer Zugang, die Ausdifferenzierung von Lebensverhältnissen im modernen Kapitalismus jenseits der Arbeit (Freizeit, Privatheit, freie Tätigkeiten etc.) gerade mit dem System gesellschaftlicher Arbeit vermitteln zu können.

[ 9 ] Vgl. MEW 23/609: So “schlägt offenbar das auf Warenproduktion und Warenzirkulation beruhende Gesetz der Aneignung oder Gesetz des Privateigentums durch seine eigne, innere, unvermeidliche Dialektik in sein direktes Gegenteil um”.

[ 10 ] K. Marx, Das Kapital (Ökonomisches Manuskript 1863-1865), Der Circulationsproceß des Capitals (Manuskript I), in: MEGA 11/4.1, Berlin 1988, S. 287. Wir ziehen hier bewußt den ersten Marxschen Entwurf zum zweiten Band des Kapitals heran, um zu verdeutlichen, daß die Gesellschaftlichkeit der Arbeit in der Dynamik des Kapitals erst innerhalb des kapitalistischen Reproduktionsprozesses als “realer Einheit” (ebd. 180) von Produktion und Zirkulation “praktisch wahr wird” (Marx). Auch schon in den Grundrissen sind diese Passagen über Maschinerie, fixes Kapital, general intellect etc. – in die, mißverständlich als sog. “Automationskapitel” bezeichnet, im Verlauf der Geschichte der Marxrekonstruktionen von Krahl über Negri und Haug bis zu Postones Tretmühleneffekt allerlei groteske werttheoretische Extrapolationen hineinphantasiert wurden – in die Betrachtung des “Kreislaufs des Kapitals” (GR, 413-631) eingebunden. Es wird nicht gesehen, daß die für eine moderne marxistische Kapitalismusanalyse relevanten Teile der Marxschen Grundrisse gerade Materien des Zirkulationsprozesses des Kapitals behandeln, des bis heute unter Wert verhandelten zweiten Bandes des Kapitals. Auch Postone macht hier leider keine Ausnahme. Es ist grotesk, beim Autor eines Buches über “time, labor and social domination” bezogen auf die Dynamik des Kapitals zu lesen: “Wenn die über den Markt vermittelte Zirkulationsweise eine Rolle bei dieser Dynamik spielt, dann als untergeordnetes Moment …” /438/. Diese Fehleinschätzung ist selbst ein fatales Erbe des traditionellen Marxismus. Wie soll bei einer solchen Geringschätzung des Zirkulationsprozesses des Kapitals und den darin eingeschlossenen qualitativ weiterentwickelten Raum- und Zeitbestimmungen allein nur so eine moderne Entwicklungstendenz wie der kapitalistische Imperativ des “time to market” werttheoretisch dechiffriert werden können, von anderen kapitalistischen “Markt”phänomenen einmal ganz abgesehen!

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